Wie kamen Sie zu Ihrer Arbeit als Intendant des ORF Radio Symphonie-Orchesters Wien?
Es war ein Weg, der von vornherein eigentlich gar nicht das Ziel hatte in einer Intendantentätigkeit zu münden, sondern der sich durch viele verschiedene berufliche Aufgaben als nächster Schritt ergeben hat. Betrachtet man meine berufliche Laufbahn innerhalb der ORF Geschichte, begann es mit einer Anstellung als freier Mitarbeiter des ORF Wien, mit dem Schwerpunkt auf Zeitgenössischer Musik. Jahrelang war ich bei Ö1 beschäftigt und für alles was mit zeitgenössischer Musik zu tun hatte verantwortlich; der damalige Begriff dafür lautete Producer und ist auch heute noch die Bezeichnung dafür. christian_scheibDann habe ich die Sendung der Zeit-Ton1 erfunden und auch jahrelang betreut und wurde schließlich – um nun einige weitere Schritte dazwischen auszulassen – Chef der Ö1 Musikredaktion. Diese Tätigkeit verfolgte ich einige Jahre bis eine Stelle im Orchester vakant wurde.

Dadurch hatte ich nun zwei Jobs – und wissend bzw. mich kennend, einen Job nicht nur verwaltend ausüben, sondern etwas Besonderes damit erreichen zu wollen – wurde mein zweiter Job temporär begrenzt und zusätzlich mit einer anderen Mitarbeiterin besetzt. Als diese jedoch aus privaten Gründen verhindert war, wurde ich vom Hörfunkdirektor erneut gefragt den Intendantenjob zumindest für den Übergang zu übernehmen. Dieses Angebot konnte ich natürlich nicht ausschlagen und merkte schnell, dass mir dieser Job besonders viel Spaß machte.

Zudem wurde mir bewusst wie viel Verantwortung diese Stellung innehatte. Als der Hörfunkdirektor bereits zum dritten Mal auf mich zukam – mit vollstem Vertrauen in meine Fähigkeiten hinsichtlich dieses Postens – war die Sache für mich entschieden. Vor dieser Zeit waren sich auch viele Orchestermitglieder nicht sicher, ob sie überhaupt einen Experten für Neue Musik haben wollten, besonders weil ich für sie den Mister Neue Musik darstellte. Nach meinem interimistischen Jahr als Orchesterintendant hat sich diese Einstellung jedoch sehr geändert und schließlich kam es tatsächlich so, wie ich es bisher zu vermeiden gesucht hatte: Ich hatte gleichzeitig beide Chefpositionen inne.

Für eine kurze Zeitspanne war das auch vollkommen machbar, aber nach zwei bis drei Jahren bemerkte ich, dass selbst wenn ich zwölf Stunden pro Tag arbeite, sich bei den einen oder anderen ein Gefühl von Vernachlässigung und Bevorzugung des jeweils anderen Büros einstellt. Mir selbst war klar, dass es so nicht auf Dauer weitergehen könne. Auch intern wurde dies der Hörfunkdirektion bewusst und führte weitere Monate danach zu einer Neubildung der Ö1 Musikredaktion. Seither bin ich also ausschließlich Orchesterintendant des ORF Radio – Symphonieorchesters Wien.

Gab es zu Beginn Ihrer Intendantenanstellung besondere Wünsche bzw. Anliegen, die Sie gerne in das Programm einbringen wollten?
Da muss ich nun eine etwas desillusionierendere Antwort geben: Natürlich gab es das und ich komme gern und gleich darauf zurück, aber wirklich prägend war diese Zeit, in der ich diese Anstellung angenommen habe in ganz anderer Hinsicht. Es war sogar noch problematischer, als es jetzt gerade im Moment ist, denn das Orchester war quasi in Auflösung begriffen, was einerseits zu einem guten Job, andererseits zu einer Bemitleidung dieser Position führt. Dies führte wiederum schließlich auch zu dem Gedanken, dass, falls die Direktion – in welcher Sitzung auch immer – das Orchester-Aus beschließen sollte, man nichts mehr dagegen machen könne.

Keinesfalls wollte ich dem Ganzen einen Vorschub leisten und nahm mir vor, eine Orchesterauflösung allen so schwer als möglich zu machen. Dies bedeutete nichts Anderes als vom ersten Moment an die Programmatik insgesamt wieder mehr auf eine Identität hinzutrimmen, die vielmehr dem 20. Jahrhundert entspricht und somit beispielsweise weniger Beethoven-Symphonien. Das wurde in den nächsten zwei Zyklen versucht und war Startschuss für einige Sonderprojekte, z.B. die Miniaturen zum 40. Geburtstag des RSOs oder die RSO Box. Sprich, es galt immer wieder etwas einzubauen, um eine andere Art von Aufmerksamkeit zu erreichen.

In den Zyklen (wie die Konzerte im Wiener Konzerthaus und im Wiener Musikverein), die traditioneller weise das Rückgrat sind, kommt man zu einer prinzipiellen Identität, die zu der eines Rundfunkorchesters passt. Gleichzeitig bringt man die erwähnten Extra-Ideen wie die FM4-Konzerte ein, die es vorher nicht gab. Das ist zum Teil auch schon gelungen, ich könnte mir aber vorstellen, dass noch mehr bereits gepflegte Unternehmungen breiter ausgeführt werden, vorausgesetzt die Umstände geben es her. Zwar ist bis jetzt schon wirklich viel weitergegangen – z.B. gab es als ich anfing kein einziges dieser ganzen sogenannten Education-Projekte, geschweige denn ein Marketing – doch sind besonders gute Ideen durch Rückbau, Nicht-Nachbesetzungen, etc. gefährdet.

Nach welchen Kriterien werden Entscheidungen zu neuen Projekten getroffen? Oder anders ausgedrückt: Wie verläuft eine Programmgestaltung?
Auf die Frage nach welchen Kriterien Entscheidungen zu neuen Projekten getroffen werden, kann ich mit einem modischen Wort antworten: Setzungen. Ich vergleiche unser Orchester, dessen Stärke die Musik des 20. Jahrhunderts ist, gern mit einem Museum moderner Kunst. Dort werden auch nicht nur Werke vom letzten Jahr ausgestellt, sondern Gemälde von Picasso über Paul Jackson Pollock bis Anselm Kiefer. Dieser Vergleich passt auf unsere Orchesterprogrammatik.

Das ist der prinzipielle Ausgangspunkt. Andere Orchester tragen das Bild des Kunsthistorischen Museums und so sehr ich dieses Museum liebe, möchte ich nicht noch ein weiteres haben. In der Praxis bedeutet Programmgestaltung ein beständiges Verhandeln mit dem Chefdirigenten und vor allen Dingen mit unseren Partnern, mit denen wir die Konzerte veranstalten. Natürlich muss das Programm in die Programmatik passen und es liegt mir auch daran, was die Solisten können, die wir einladen.

Wie wird ein Künstler für ein bestimmtes Projekt ausgewählt?
Diese Frage ist keinesfalls generell zu beantworten, sondern nur durch Betrachtung einzelner Konzerte. Christmas in Vienna z.B. ist ein Job, bei dem wir als Orchester engagiert sind, Geld dafür erhalten und wenig mit der Auswahl der Künstler zu tun haben. Das Einzige wodurch ich Einfluss auf das Programm nehme ist, dem Veranstalter zu sagen, dass wir nicht nur als Arien-Begleitorchester spielen. So muss es mindestens zwei Stücke im Programm geben, die rein orchestral sind, sei es eine Ouvertüre, ein Intermezzo oder irgendetwas Ähnliches. Letztendlich bin ich aber von der Meinung der Veranstalter abhängig. Ähnlich läuft es bei Produktionen des Theaters an der Wien ab. Auch dort sind wir für eine bestimme Produktion engagiert, Solistinnen und Solisten werden vom Theater bestimmt.

Und wie verhält es sich, wenn beispielsweise Gershwins Rhapsody in Blue aufgeführt wird? Wie wird ein Pianistin oder ein Pianist ausgewählt?
Hier verhält es sich schon ein wenig anders. Es geht eben wieder darum, Vorschläge zu machen, gute Ideen zu haben und eine abschließende Einigung zu erreichen, mit Einbezug der Termine und des passenden Repertoires. Es kann also schon ein wenig dauern, bis man in allen Punkten die richtige Schnittmenge erreicht hat. Das Ergebnis wird aber letztlich komplett gemeinschaftlich entwickelt. Der Einigungsprozess verläuft sehr unterschiedlich. Der jetzige Chef von Wien Modern ist beispielsweise dankbar für gute Ideen. Für die letzten drei Wien Modern Festivals habe ich mir ein komplett eigenes Programm überlegt. Letztlich bietet sich eine gewisse Eigeninitiative an, da ich mich ziemlich gut mit moderner Musik auskenne und weiß, was unser Chefdirigent gerne spielen würde.

Versuchen Sie ein ausgeglichenes Verhältnis von zeitgenössischer und klassisch-romantischer Musik zu halten oder wird besonders Wert auf eine Musikrichtung gelegt?
Zurück zum Bild des museum of modern art: natürlich sind ganz absichtlich einige Stücke in die Programmierung eingeflochten, die eine Herkunft des Klangkörpers Orchester mitdenken. Natürlich sollte das Orchester als ein Wiener Orchester auch irgendwann einmal eine Bruckner-Symphonie spielen. Das tut natürlich dem Klang gut, da anderes Zuhören und aufeinander Reagieren notwendig sind. Wie schon vorher gesagt, legen wir unseren Schwerpunkt auf die Musik des 20. Jahrhunderts und schließlich finden auch Ausrisse in die Gegenwart in Gestalt von Uraufführungen statt.

Würden Sie das ORF Radio Symphonie-Orchester Wien als einen Vertreter zeitgenössischer Musik in Österreich betrachten?
Ja, denn im Vergleich dazu, was Symphonieorchester sonst sind, ist dieser Schwerpunkt ein Alleinstellungsmerkmal, welches das Orchester innerhalb der Orchesterlandschaft zu etwas Besonderem macht. In den letzten 40 Jahren hat sich der Typus des auf zeitgenössische Musik spezialisierten Ensembles herausgebildet, der vor den 70er Jahren gar nicht existierte. Ensembles wie das Ensemble Modern Frankfurt und das Klangforum in Wien sind natürlich noch viel stärker zeitgenössisch ausgerichtet. Für diese Art von Ensembles wurde vorher wenig bis gar nichts geschrieben. Im Programm eines Radiosymphonieorchesters ist die Balance zwischen Etwas aus dem modernen Kunstbereich und Etwas aus dem wirklich zeitgenössischen Bereich eine ganz andere als bei zeitgenössischen Ensembles.

Ein aktuelles Thema: 2010 stand das RSO Wien bereits oben auf der Liste der Einsparungen. Online wurde eine Homepage eingerichtet, die zu einer Unterschriftenpetition zur Rettung des RSO aufrief. Sind die angedrohten ORF Einsparungen am RSO Wien nun vorübergegangen oder stehen sie noch an und wenn ja in welcher Form werden die Einsparungen umgesetzt?
Ich würde zwar wahnsinnig gerne sagen, dass die Diskussionen vorbei sind, aber ganz im Gegenteil: Damals drohte die Abschaffung des Orchesters, im Moment wird der Fokus darauf gelegt, wie das Orchester mit viel weniger Geld zu realisieren wäre. Diese Drohung ist eigentlich noch gefährlicher als die erste, da man sich viel schwieriger dagegen wehren kann. Wie es ausgehen wird, kann ich noch nicht sagen. Es hängt einerseits vom weiteren Verlauf unserer Verhandlungen ab, andererseits findet dies auf medienpolitischer und anderen Ebenen statt, sodass ein Entschluss noch unabsehbar ist.

Wie schätzen Sie die Tatsache ein, dass Einsparungen bevorzugt zuerst den kulturellen Sektor betreffen?
Das trifft nicht ganz zu, denn der ORF hat z.B. schon längst die Übertragungsrechte der Champions League eingespart, was fairer weise auch gesagt sein muss. Jetzt gerade wird mit einem Musikantenstadl weniger pro Jahr, sowie mit den Ausscheidungsrunden für den Songcontest gespart. Fernsehsendungen, etc. sind noch viel hochpreisiger als man vielleicht annehmen würde: Bei einer Musikantenstadl-Sendung kostet der Moderator allein so viel Geld wie ein Festival mit Orchester (z.B. musikprotokoll2 ). Aber natürlich ist es die Aufgabe der Geschäftsdirektion zu entscheiden wofür man wie viel Geld ausgibt.

Wie stehen Sie als Intendant zu Neuer Musik und wie bewerten Sie diese?
Den ersten Teil der Frage habe ich eigentlich schon beantwortet. Ich habe in der Rolle des Orchesterintendanten eine lange Geschichte im Umgang mit Neuer Musik bzw. Zeitgenössischer Musik. Manche unserer Sonderprojekte wurden ganz absichtlich auf diesem Gebiet initiiert. Der zweite Teil der Frage könnte nun natürlich auch viel allgemeiner verstanden werden. Wenn man die Frage losgelöst von der Meinung eines Orchesterintendanten sieht, könnte man lange darüber diskutieren, referieren, zitieren und ästhetische Grundhaltungen austauschen.

Es gibt ein gewisses Sensorium dafür, ob Komponisten wagemutig, unerwartet und neu genug sind, sodass man wirklich die Ohren öffnet, wenn man ein Stück hört. Gleichzeitig spürt man, ob ein Werk dermaßen abseits jeder Zugänglichkeit liegt, dass man es zumindest mit einem Apparat wie einem Orchester gar nicht umsetzen will. Und selbst das ist bereits wieder aus Orchesterperspektive gesagt. Wenn ich darüber nachdenke, welche neue, akustische Kunst es gibt – um bewusst das Wort Musik zu vermeiden – wird es natürlich irgendwie schwierig. Es gibt schließlich auch Leute, die nicht mehr als einen alten Kassettenrekorder brauchen, um Aufregenderes zu erzeugen als andere Komponisten mit hundert Partituren und umgekehrt.

Es gibt Komponisten, die bereit sind innerhalb eines gewissen existierenden Apparats zu agieren, Gegebenheiten zu akzeptieren und die trotzdem Musik schreiben, die so herausfordernd ist, wie ich es vorher erklärt habe. Sie erfüllen den Anspruch, den man an wirklich Neue Musik haben kann. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten eine höhere Erwartung an die Neue Musik entwickelt, die mit sich bringt, dass es bei einer Veranstaltung wie Wien Modern viel zeitgenössische Musik gibt, die an einem anderen Ort nicht spielbar wäre. Ein Publikum ohne Hörerfahrung, das nicht aus etablierten Spezialisten besteht, stellt gänzlich andere Anforderungen an ein neues Stück. Bei der Programmauswahl muss man spüren wo man an welche Grenzen gehen kann, welcher Komponist wo gespielt werden kann. Somit überlagert sich diese Frage mit ästhetischen Kriterien und vielen anderen, die mit Kontext, Erfahrung, Risiko und Anderem in Zusammenhang stehen.

Wie kann man Neue Musik einem eher traditionell orientierten Publikum näher bringen?
Aus RSO Perspektive behaupte ich, dass dies überhaupt keine Problemstellung ist. Wäre ich jetzt Chef der Philharmoniker würde ich vielleicht anders antworten, aber als RSO Chef gehe ich einmal davon aus, dass ein hoher Prozentsatz derer, die sich dafür entscheiden ein RSO Abonnement oder eine Karte für einen Abend zu kaufen, wissen was sie tun. Wenn auf dem Programm Mozart, Strawinsky und Neuwirth stehen, dann ist diese Fragestellung obsolet. Natürlich nicht prinzipiell, aber in unserem Kontext schon.

Das Interview führte Julia Walker im Dezember 2013 in Wien.


1Anm.: Zeit-Ton ist eine Ö1-Sendereihe, die seit 1993 besteht.

2Anm.: Das musikprotokoll im steirischen herbst ist ein Musikfestival, das jährlich in Graz stattfindet und den Schwerpunkt auf zeitgenössische und experimentelle Musik legt.