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Faszination und Fremdheit

In Zeiten vor Elektrizität und Industrialisierung zählten Orgeln zu den kompliziertesten technischen Apparaten, die von Menschen konstruiert werden konnten. Hinter einer Fassade aus wenigen Pfeifen verbarg sich ein fein abgestimmtes Zusammenspiel aus zigtausenden Einzelteilen, und mithilfe eines dem Laien nicht weniger undurchschaubaren Spieltisches entlockte der Organist dem Instrument Töne, die den ganzen Kirchenraum erfüllten. Viel von diesem Zauber kann uns in digital vernetzten Zeiten nicht mehr so beeindrucken wie unsere weniger medial überfluteten Vorfahren, meint man – oder eben doch?

Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen eines Instruments, das vielen von uns fremd ist, oft auch den Berufsmusikern. Manchmal scheint sie etwas abseits zu stehen, in einer Sonderrolle. Wenn Streichern oder Bläsern nach einem Konzert gratuliert wird mit den Worten, man habe „schön gespielt“, fällt für den Organisten oft das Lob ab, man habe „schön georgelt“. So, als sei dies etwas anderes als Musizieren, mehr wohl ein Umherwirbeln von Klängen, ein Anrühren von Klangbrei oder ein mechanisches Abspulen von Pfeifentönen.

Ja, es ist wahr: Neben dem technischen Interesse gegenüber der Orgel kommt es häufig vor, dass sie als aussagekräftiges Musikinstrument, als Klangrednerin, nicht ernst genommen wird. Dass dem so ist, liegt an akustischen Phänomenen, an Hörgewohnheiten und – man muss es wohl sagen – auch manchmal an der Ausführung. An alle, die sich für die Orgel interessieren und mehr über sie wissen wollen richtet sich dieser Artikel.

Vom Portativ zur Großen Orgel

Der Begriff „Orgel“ ist weitgefasst. Zunächst wird man sich ein Instrument durchschnittlicher Größe denken, sagen wir, ein Modell mit 30 Registern, zwei Manualen und Pedal in einer mittelgroßen Kirche. Doch ebenso gemeint mit dem Begriff ist eine „Truhenorgel“, die nicht größer ist als ein kleiner Schrank, oder gar das „Portativ“, ein auf dem Arm tragbares Örgelchen mit nur wenigen Pfeifen. Ihrer Ausdehnung ins Große sind heute theoretisch wenig Grenzen gesetzt, praktisch aber sehr wohl solche des Geschmacks, der Statik und des Geldes. Die größten Orgeln der Welt verfügen über sechs oder sieben Manuale und viele tausend Pfeifen. Im Folgenden einige Instrumentenbezeichnungen, die vom oben geschilderten „Durchschnittsinstrument“ abweichen, im Überblick:

Portativ: Tragbare Kleinstorgel, meist nur ein Register.

Positiv: Kleine Orgel, oft auch transportabel, wenige Register, in der Regel nur ein Manual.

Truhenorgel: Tragbare, leicht zu bewegende Orgel in Form einer Truhe, normalerweise drei bis vier Register, kommt vor allem als Continuo-Instrument in Ensemble-Musik zur Anwendung.

Regal: Kleines Instrument mit ausschließlich Lingualpfeifen von nasalem Klangcharakter.

Kino-Orgel: Unterscheidet sich stark von traditionellen Orgeln. Beinhaltet viele Spezialvorrichtungen wie Hupen, Schlagwerke und Geräusche-Erzeuger.

Multiplex-Orgel: Nur wenige Pfeifenreihen, aus denen jeweils Auszüge durch verschiedene Register angespielt werden können.

Namensgebung

Oft werden Orgeln mit Zusatznamen versehen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um den Namen des Orgelbauers (z.B. Stellwagen-Orgel, Schnitger-Orgel, Sauer-Orgel), manchmal bezeichnet der Name auch die Art der Aufstellung (wie die Schwalbennestorgel, die nach Vorbild eines Schwalbennestes in großer Höhe an der Wand hängt oder die Chororgel, die im Chorraum der Kirche ihren Platz hat). Möglich ist auch die Benennung nach einem besonderen Ausstattungsdetail (z. B. Sonnen-Orgel von St. Peter und Paul in Görlitz).

Technische Begriffe

Einiges an Fachbegriffen zum Orgelbau wurde oben schon gestreift, hier das Wichtigste in Kürze:

Register: Pfeifenreihe. Jeder Pfeife ist eine Taste zugeordnet. Zieht man ein Register und spielt, erklingen also nur Pfeifen eines Registers und damit eines Klangcharakters. Hat eine Orgel mehrere Register, kann man diese miteinander ziehen und dadurch mischen.

Manual: Klaviatur für die Hände.

Pedal: Klaviatur für die Füße. Genauso aufgebaut wie das Manual, nur natürlich größer dimensioniert. Wird mit Fußspitze und Absatz gespielt.

Spieltisch: „Schaltzentrale“ der Orgel, an der der Interpret sitzt, Manuale und Pedal bedient und die Register zieht.

Prospekt: Sichtbarer Teil, das Gesicht einer Orgel. Enthält Pfeifen, die oft zu den wichtigsten des Klangaufbaus gehören. Oft verziert mit Kunstgegenständen.

Balg: Versorgt die Orgel mit Luft. Wird befüllt durch das Gebläse, das wiederum von einem Motor angetrieben wird, in früheren Zeiten durch Bälgetreter.

Traktur: Verbindung des Spieltisches zu den Pfeifen. Meist mechanisch durch Abstrakten, die über verschiedene Winkel umgeleitet werden, aber auch elektrisch oder pneumatisch möglich.

Koppel: Durch die Koppel kann man z.B. die Register des zweiten Manuals im ersten anspielen, oder die des ersten im Pedal. Verhilft zu vielfältigeren Kombinationsmöglichkeiten.

Intonation: Klangliche Feinabstimmung der Pfeifen untereinander und auf den Raum durch den Orgelbaumeister.

Mensur: Verhältnis von Höhe zu Breite einer Pfeife, bestimmt den Klangcharakter mit.

Werk: Ein in sich geschlossener Teil des Gesamtkonzepts der Orgel. Alle Register eines Manuals bilden ein Werk. Je nach Funktion bekommt das Werk einen Namen (Hauptwerk, Kleinwerk, Oberwerk, Schwellwerk etc.)

Schwellwerk: Die Pfeifen eines Manuals werden in einem Kasten untergebracht, der durch Jalousie-Klappen verschlossen wird. Per Fußhebel kann der Spieler diese öffnen und schließen und dadurch die Lautstärke stufenlos regulieren.

Klänge und Farben

Beschäftigen wir uns näher mit den Registern, also den Klangfarben.

Dem Namen eines Registers ist immer eine Längenangabe der tiefsten Pfeife beigeordnet, alter Tradition folgend in „Fuß“ (ein Fuß = knapp 30 cm). Die Normallage, in der die Tonhöhe einer Taste der Tonhöhe am Klavier entspricht, ist die 8´- Lage. Ein 4´- Register klingt eine Oktave höher, ein 16´- Register eine Oktave tiefer. Demnach ist das tiefste C eines 32-Registers unterhalb des Tonraums des Klaviers und die höchste Pfeife eines 1´- Registers sehr viel höher als dessen Diskant.

Grundsätzlich gibt es zwei Familien von Pfeifen. In den Lippen- oder Labialpfeifen schwingt eine Luftsäule; je höher die Pfeife, desto tiefer der Ton und je kleiner die Pfeife, desto höher. Bei den Zungen- oder Lingualpfeifen wird, ähnlich wie bei Rohrblattinstrumenten, eine Zunge angeblasen, deren Länge über die Tonhöhe entscheidet. Innerhalb dieser zwei Familien gibt es viele Untergruppen. Verschiedene Bauweisen (z. B. weite/enge Mensur, konisch/zylindrisch, Metall/Holz) führen zu völlig unterschiedlichen Klängen.

Labial-Register

Prinzipale: „Herzstück“ der Orgel, stehen in der Regel sichtbar im Prospekt, tragen den Klang des ganzen Werkes, werden von Laien oft als die „normalsten Register“ empfunden. Sie heißen z.B. „Prinzipal 8´“, „Prästant 8´“, „Oktav 4´“ o.ä.

Streicher: Langsame Ansprache, obertonreicher, aber wenig tragfähiger Ton. Die Registernamen orientieren sich an Streichinstrumenten, z.B. „Viola 8´“, „Violone 16´“.

Flöten: Weiter, singender Ton. Kommen dem Klang wirklicher Flöten oft verblüffend nahe. Namensbeispiele sind „Rohrflöte 8´“, „Waldflöte 2´“.

Aliquoten: Register, die bestimmte Bereiche der Obertonfrequenzen verstärken. Eine Quinte 2 2/3´ beispielsweise lässt bei Betätigung der Taste nicht den eigentlichen Ton, sondern die Duodezime darüber erklingen. Eine Terz 1 3/5´ entsprechend höher die Terz zum Grundton. In Verbindung und Mischung mit den Grundregistern geben sie dem Klang Obertonreichtum, also Brillanz und Farbe.

Mixturen: Werden oft als „typischstes Orgelregister“ wahrgenommen, da diese Art von Klangfarbe durch kein anderes Instrument erzeugt wird. Pro Taste erklingen mehrere, weit über dem Grundton liegende Pfeifen gleichzeitig, z.B. die Oktave und Quinte in mehreren Höhenlagen. Dadurch legt sich über den Gesamtklang quasi eine Silberdecke, die ihm Helligkeit und Glanz verleiht.

Lingual-Register

Langbechrige Zungen: Die Pfeifen haben einen langen Becher, klingen volltönend, kräftig und werden meist als „Trompete“ oder „Posaune“ bezeichnet.

Kurzbechrige Zungen: Kurzer Becher, dadurch weniger stark und rund im Ton, nasal gefärbt. Die Namen beziehen sich oft auf alte Blasinstrumente wie Dulzian, Schalmei oder Krummhorn.

Orgellandschaften und Orgelstile

Schon in der Antike war die Orgel bekannt und hielt im frühen Mittelalter in Europa Einzug. Im Laufe der Jahrhunderte veränderte sich die Bauweise von Region zu Region unterschiedlich. Es kam zur Bildung von Orgellandschaften. Aus vielen dieser Epochen seit dem 15. Jahrhundert sind uns originale Instrumente erhalten. Da die Bauweise entscheidenden Einfluss auf den Klang und dadurch auf die dafür komponierte Musik hat, ist ein Überblick über diese verschiedenen Stile notwendig. Einige werden im Folgenden genannt.

Klassische Italienische Orgel

Blütezeit in der Renaissance und dem Barock. Auch bei großen Instrumenten meist nur ein Manual, das überwiegend durch Prinzipalpfeifen besetzt ist. Normalerweise gibt es nur ein Register in der 8´-Lage, alle weiteren Züge widmen sich dem Obertonaufbau. Wegen des hellen, klaren Klangbildes ist sie ausgezeichnet zur Darstellung von Polyphonie geeignet.

Spanische Barockorgel

Charakterisiert durch horizontal gebaute, brillant klingende Zungen-Register, die aus dem Prospekt in den Raum hineinragen. Das Pedal spielt eine sehr untergeordnete Rolle, die Manual-Register sind geteilt in einen Bass- und einen Diskantbereich.

Norddeutsche Barockorgel

Noch heute finden sich viele Instrumente diesen Typs im norddeutschen Raum. Sie sind gekennzeichnet durch eine klare Aufteilung in Teilwerke. Das Rückpositiv, das Hauptwerk, das Brustwerk und das Pedal heben sich deutlich voneinander ab. Die Hervorhebung beispielsweise einer Choralmelodie ist hier besonders plastisch möglich. Das Pedal ist reich besetzt und gleichberechtigter Partner der Manuale. Einer der klanglich vielfältigsten Orgeltypen.

Mitteldeutsche Barockorgel

Sie hat mehr Register in der 8´-Lage als norddeutsche Instrumente, vor allem viele streichend klingende Pfeifen, dafür weniger Zungenpfeifen.

Französische Barockorgel

Ihr wichtigstes Merkmal ist ein besonders wohlklingendes „Plein jeu“, der Klang der Grundstimmen mit Mixturen. Daneben verfügt sie über eine Vielzahl an Zungenpfeifen und Aliquoten. Orgelstücke dieser Zeit werden nach den dazu zu verwendenden Registern benannt, z.B. „Basse de trompette“ oder „Flûtes“.

Orgeln der französischen Romantik

Haben einen orchestralen Klang, der durch viele Register der 8´-Lage geprägt wird. Alle Register mischen sich hervorragend miteinander, nahezu stufenlose dynamische Übergänge sind möglich. Die Zungenregister haben eine enorme Kraft, aber keine Schärfe. Das orchestrale Gepräge führte zum Komponieren von Orgel-„Sinfonien“, z.B. durch Louis Vierne oder Charles-Marie Widor.

Orgeln der deutschen Romantik

Auch sie haben viele Pfeifenreihen in der Normallage, wirken dadurch sehr grundtönig. Eine Vielzahl von Soloregistern bietet eine bunte Palette von Farben. Von allen Orgeltypen bietet sie die größte dynamische Bandbreite. Zum Beispiel gibt es äußerst leise Streicher, aber auch unter höherem Winddruck stehende, sehr laute Zungenregister.

Neobarocke Orgel

Als Gegenbewegung zum spätromantischen Klangideal entstanden, rückbezieht sie sich auf barocke Instrumente, erscheint aber oft schärfer im Klang als ihre barocken Vorbilder.

Moderne Universalorgel

Sie stellt den Versuch dar, möglichst viele Stile in sich zu vereinen und damit die Wiedergabe einer großen Bandbreite von Musik zu ermöglichen. Dieses Ziel wird in sehr unterschiedlicher Qualität erreicht.

Spieltechniken, Möglichkeiten und Grenzen der Klanggebung

Im Gegensatz zu allen anderen Instrumenten ist die Orgel in der Lage, einen Ton unbegrenzt in gleicher Lautstärke zu halten. Diese Unveränderlichkeit des Tons kann musikalisch sehr wirkungsvoll sein, doch begrenzt sie natürlich den dynamischen Entfaltungsspielraum. Da man durch Tastendruck die Lautstärke nicht beeinflussen kann, greift man als Interpret zu diversen Spieltechniken, die ein flexibles Musizieren ermöglichen. Vor allem ist es die Kontrolle der Länge und Kürze von Noten, die Artikulation, die über Betonungen und Durchhörbarkeit entscheidet. Geschicktes Timing von Phrasen kann eine dynamische Entwicklung suggerieren. Viele Organisten orientieren sich beim Spiel ständig an der Spielweise anderer Instrumente, denken an den Klang von Streichern oder Bläsern und versuchen deren dynamische Flexibilität auf die Orgel zu übertragen. Auch technische Einrichtungen durchbrechen die Statik des Klanges: der Tremulant bringt den Luftstrom zum Beben gleich dem Tremolo einer Stimme, das oben erwähnte Schwellwerk ermöglicht crescendo und decrescendo und Schwebungsregister sind sehr leicht verstimmt zu anderen und ahmen so die natürliche Schwebung einer großen Streichergruppe nach. Komplizierte Akustiken in Kirchen und die Statik des Klanges erfordern vom Organisten eine sehr genaue Ausbalancierung aller dieser Klangmittel und eine gründliche Auswahl der Registermischungen. Wo dies nicht geschieht, kommt es in der Tat leicht zum „Klangbrei“, der viele so abschreckt. Doch auch der Zuhörer muss sich mehr als bei anderen Instrumenten einhören auf die Musik, gedanklich die Linien mitverfolgen und eintauchen in das, was sonst leicht als „Georgel“ verschwimmt.

Wer einmal an einer sehr guten Orgel eine gelungene Interpretation gehört hat, wird fasziniert sein von den Klangwelten, die sich ihm eröffnen. Gerade in digitalen Zeiten hat die Orgel ihren Platz. Als Meisterwerk der traditionellen Handwerkstechnik bietet sie eine Fülle von einzigartigen Klängen, die durch keine noch so aufwändig gesampelte Elektro-Orgel ersetzt werden können.