Mit der so genannten „Neuen Musik“ wurde ich als Gymnasiast in der Provinzstadt Chur zum ersten Mal im Jahre 1956 konfrontiert. Ich besuchte ein kommentiertes Kammermusik-Konzert mit Kompositionen von Ernst Krenek, der das Konzert mit einem einführenden Vortrag eröffnete. Im Saal waren außer mir noch 12 weitere Konzertbesucher anwesend. Eine für die damalige Zeit typische Konzertsituation, die ich dann nach 1959 als Student auch in den Kulturstädten Basel und Zürich ähnlich erlebte. Das normale Konzertpublikum interessierte sich nur wenig für das zeitgenössische Musikschaffen. Vorherrschend in den Programmen der Konzertveranstalter war das 19. Jahrhundert.

Daneben gab es natürlich Konzerte mit neuer Musik, veranstaltet unter anderem von der 1922 in Salzburg gegründeten Internationale Gesellschaft für Neue Musik IGNM. So fanden im Jahre 1957 in Zürich, und 1970 in Basel zwei IGNM Weltmusikfestivals statt. Auch die Konservatorien veranstalteten regelmäßig Konzerte mit neuer Musik, wobei die an diesen Instituten lehrenden Komponisten gleichzeitig die Veranstalter waren. Diese Konzerte hatten ein sehr kleines Stammpublikum. Die Neue Musik war damals (wie auch heute noch) ein elitäres, vom großen Publikum unbeachtetes Nischenprodukt.

Im Jahre 1956 bekam die Neue Musik ein neues Forum. Das Radio der deutschen und rätoromanischen Schweiz startete mit Radio DRS2 ein zweites Hörfunkprogramm. DRS2 war als Kulturprogramm konzipiert, dessen Konzessionierung unter anderem mit der Auflage verbunden war, das zeitgenössische Musikschaffen angemessen zu spiegeln und zu fördern. Die Voraussetzungen für die Umsetzung dieser Vorgaben waren optimal. Das Programm war voll gebührenfinanziert. Und es definierte sich als eine Art von Kulturinstitution wie ein Schauspiel- oder Opernhaus. Wichtig war einzig der Kulturauftrag, die Interessen der Radiohörer spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Es gab damals noch keine Hörerumfragen, und da die Einschaltquoten für einzelne Sendungen nicht ermittelt werden konnten, mussten sie bei der Programmgestaltung auch nicht berücksichtigt werden.

Auch die radiointerne Personal-Situation kam den Programmvorgaben entgegen. Die drei ersten Leiter der Abteilung Musik von DRS2 waren nicht Radio-Journalisten, sondern aktive Komponisten. Sie waren Mitglieder des schweizerischen Tonkünstlervereins und der 1923 gegründeten Schweizer Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik IGNM, und in diesen Institutionen zeitweise auch in leitenden Funktionen tätig.

Sie kannten die anderen Schweizer Komponisten und waren mit manchen von ihnen befreundet. Des Weiteren waren damals praktisch alle aktiven Komponisten beim Schott-Verlag angesiedelt. Aber nicht nur bei DRS2, sondern auch bei den entsprechenden zweiten Programmen der französischen und italienischen Schweiz besetzten Komponisten die maßgebenden Stellen der Musikabteilungen. Somit war die Zusammenarbeit auch über die Sprachgrenzen hinaus weitgehend persönlich geprägt.

Alle diese Connections waren natürlich nicht unproblematisch, und sie wurden auch kritisiert. Komponisten und Musiker, die sich nicht genügend berücksichtigt fühlten, sprachen von „Netzwerken“ und „Seilschaften“. Und die Zusammenarbeit der Abteilungsleiter mit ihren vermuteten Eigeninteressen als Komponisten erweckten manchmal den Eindruck, das nach dem Grundsatz „featurest du mich, dann feature ich dich“ (Heinrich Böll, Das gesammelte Schweigen des Doktor Murkes) verfahren wurde.

Bei der Programmpolitik spielten aber nicht nur Freundschaften, sondern auch Animositäten, Neid und Feindschaften eine Rolle. Der damals erfolgreichste lebende Schweizer Komponist Heinrich Sutermeister wurde links liegen gelassen. Vermutlich, weil er international Erfolg hatte. Ein anderer Komponist, der nebenbei auch erfolgreich Musik für Filme schrieb, wurde ebenfalls stiefmütterlich behandelt. Filmmusik zu komponieren galt damals in der Schweiz als unseriös.

Mit im Spiel waren aber auch die Interpreten. Sie erhöhten ihre Chancen für ein Engagement für Aufnahmen, wenn sie neben Werken der klassischen Standardrepertoires auch noch Werke von Schweizer Komponisten (und mit Vorteil Werke von bestimmten Komponisten) zur Aufnahme vorschlugen. Die Folge von all dem war, dass die Programmgestaltung einen Zufälligkeits-Eindruck machte und ein eindeutiges Konzept nicht zu erkennen war. Früher oder später kam einfach jeder Schweizer Komponisten zum Zuge. Gemäß dem Motto „wer hat noch nicht, wer will noch mal“.

Aber auch bei der neutralen Berücksichtigung der verschiedenen internationalen Strömungen der Neuen Musik wurde kein System erkennbar. Wenig oder keinen Platz im Programm fanden zum Beispiel Komponisten wie Kurt Weill, Erich Wolfgang Korngold, Erik Satie, George Anteil oder sogar Shostakovich, um nur einige wenige zu nennen. Die Minimal Music wurde sogar total ignoriert. Das Programm-Konzept glich also einem Mosaik mit vielen fehlenden Steinen. Unter dem Strich waren die Aktivitäten des Rundfunks aber doch äußerst wichtig für die Neue Musik, denn es kamen nicht nur die etablierten, sondern auch junge, viel versprechende, am Anfang ihrer Karriere stehende Komponisten zum Zug. Zum Beispiel Heinz Holliger, Jürg Wittenbach, Klaus Huber, Thomas Kessler und viele andere.

Für diese Komponisten war vor allem wichtig, dass ihre Musik im Archiv des Rundfunks klingend vorhanden war, und im Rahmen des Programmaustauschs auch von ausländischen Rundfunkanstalten übernommen werden konnte. Etliche dieser Aufnahmen wurden auch von Schallplattenfirmen (günstig oder zum Nulltarif) eingekauft und als LPs auf den Markt gebracht. In den Jahren zwischen 1960 und 1990 waren die Rundfunkanstalten, und damit auch DRS2, die nahezu einzigen Produktionsstätten für die Aufnahme von Neuer Musik.

Eine wichtige Funktion übernahm Radio DRS2 aber auch bei Konzertaufführungen von Neuer Musik mit Elektronik. Nur der Rundfunk hatte damals die technischen Möglichkeiten und das Personal für die Realisierung von elektroakustischen Kompositionen. Für eine Aufführung von Stockhausens „Mantra“ zum Beispiel stellte der Rundfunk nicht nur die notwendige, aufwändige Technik zur Verfügung, sondern zusätzlich drei Mitarbeiter, die dem Komponisten eine Woche lang nahezu rund um die Uhr zur Verfügung standen.

Radio DRS2 setzte sich also voll für die Neue Musik ein. Die Frage, ob das daraus resultierende Programmangebot von den Radiohörern auch entsprechend wahrgenommen wurde, ob damit die Verbreitung und Akzeptanz der Neuen Musik verbessert wurde, oder ob die ganzen Aktivitäten von DRS2 in erster Linie den Komponisten und Interpreten zugute kamen, stellte man sich damals nicht. Die Programmverantwortlichen waren ja in erster Linie Komponisten, und nicht Radioleute.

Einer der Hauptabteilungsleiter interessierte sich nicht groß für das Radio als Medium. Es ging ihm primär um eine Unterstützung für die Neue Musik. Er fand es auch nicht notwendig, bei sich zu Hause eine Rundfunk-Empfangsmöglichkeit zu haben. Das erste Rundfunkgerät seines Lebens bekam er von den Mitarbeitern der Musikabteilung anlässlich seiner Pensionierung geschenkt. Also eine typische Elfenbeinturm-Situation. Und das Publikum, die Radiohörer? Prozentuelle Hörer-Einschaltquoten wurden damals noch nicht ermittelt. Ich erinnere mich aber, dass sich praktisch niemand aus meinem musikinteressierten Bekanntenkreis je Sendungen mit neuer Musik von Radio DRS2 angehört hat. Das gleiche war sogar bei meinen damaligen Kollegen der Musikabteilung der Fall.

Dazu eine kleine Anekdote:
An einem Freitag fiel in der Region Basel der UKW-Sender mit dem zweiten Programm aus. Da die Sendestation am Wochenende nicht bemannt war, bemerkte man den Ausfall erst am Montag gegen Mittag. Anfragen oder Reklamationen von Seiten der Rundfunkhörer gab es aber keine. Anscheinend bemerkte niemand den wochenendlangen Ausfall des Kulturprogramms.

Von Jürg Jecklin