rodionRodion Konstantinowitsch Schtschedrin wurde am 16. Dezember 1932 in Moskau geboren. Sein Vater, Konstantin Michajlowitsch, war ein berühmter Musikwissenschaftler und Pädagoge, der genau so wie später P.I. Tschaikowski das musikalische Konservatorium absolviert hatte. Seine Mutter, Konkordia Iwanowna war keine Berufsmusikerin, aber eine leidenschaftliche Musikliebhaberin, die zu Hause viel Musik spielte. Unter anderem durch die häusliche Musizierpraxis lernte der junge Schtschedrin schon früh die Meisterwerke der Weltklassik kennen. Die Familie spielte zusammen als Klaviertrio; Die Brüder des Vaters waren auch oft am Musizieren beteiligt. In der häuslichen Umgebung begann sich die schöpferische Begabung des jungen Komponisten zu entwickeln.

Im Jahr 1941, im Alter von acht Jahren wurde Schtschedrin in die Musikschule am Moskauer Konservatorium aufgenommen. Allerdings musste er im Sommer die Lehre wegen des Ausbruchs des zweiten Weltkrieges unterbrechen. Familie Schtschedrin wurde nach Kujbischew (Samara) evakuiert. Dorthin wurden damals viele sowjetische Wissenschaftler, Kulturschaffende, Mitglieder der Regierung, sowie Mitarbeiter der Filmgesellschaft „Moskauer Film“ versetzt. Nach der Rückkehr in die Hauptstadt setzte Schtschedrin die Ausbildung in der zentralen Musikschule und ab 1944 in der Moskauer Chorfachschule fort. Hier entstand die tiefe Zuneigung des Komponisten zur nationalen Folklore. Besonders begeisterte ihn die Vorstellung des Chores als ein lebendiger mehrstimmiger Organismus. Jahrzehnte später sagte Schtschedrin:

„Das Singen im Chor hat mich begeistert, es regte in mir tief verborgene Saiten an… Und die ersten meiner kompositorischen Erfahrungen, sowie die Erfahrungen von meinen Freunden, waren eng mit der Chormusik verbunden.“1

Bei einem Kompositionswettbewerb der Chorfachschule im Jahr 1947 verlieh ihm die Jury (Vorsitz: Katschaturijan) den ersten Preis. Dies war die erste bedeutende Anerkennung und Ermutigung im Bereich der Komposition und ein starker Anreiz für seine Karriere. Im Jahr 1950 begann er sein Studium am Moskauer Konservatorium. Er studierte Komposition bei Schaporin und Klavier bei J. Flier. Im vierten Studienjahr komponierte er sein erstes Klavierkonzert (1954). Als thematisches Material für dieses Konzert verwendete er Themen russischer Scherzlieder2, die er sehr geistreich in Variationen verarbeitete.

Die Rezeption dieses frühen Werkes führte zu seiner Aufnahme in den russischen Komponistenverband der UDSSR. Später sollte er dort einen verantwortungsvollen Posten als Parteisekretär übernehmen, unter dem Vorsitz von Schostakowitsch. Ab 1973 bis 1993 war er selbst Vorsitzender. Im Laufe seines künstlerischen Daseins griff er immer wieder auf das folkloristische Kulturerbe zurück. Seine Liebe zu den Scherzliedern beleuchtet den oftmals schelmischen Charakter seines Musikschaffens: Sein erstes Konzert für Orchester im Jahr 1963 nannte er Naughty Limericks. Im Jahr 1999 gab er eine Bearbeitung des Konzertes „Scherzlieder“ als Klavierkonzert heraus.

Schedrins Interesse für die Folklore ist es übrigens zu verdanken, dass auch heute die Studenten des Moskauer Konservatoriums nach dem ersten Studienjahr (Komposition, Musikgeschichte und Musiktheorie) als Aufgabe Volkslieder sammeln müssen. Komponisten müssen außerdem ein Werk schreiben, in dem volksliedhafte Elemente aus ihrer Recherche verwendet werden. 1955 schloss Schedrin das Studium mit Auszeichnung in beiden Studienrichtungen ab. Nach dem Abschluss begann er sofort ein Doktoratsstudium am Lehrstuhl Komposition. Gleichzeitig vertiefte er auch seine Kompositionsausbildung in der Klasse Schaporins.

Der Musiker erreichte sehr früh Bekanntheit. In den 60er Jahren hatte er schon große Werke komponiert, z.B. die Oper Not love only, Chormusik, zwei Symphonien, Oratorien, zwei Klavierkonzerte, sein erstes Ballett Das bucklige Pferdchen, in dem er eine bekannte Märchenvorlage verarbeitete, und das bis heute meist aufgeführte Werk, die Carmen Suite. Die Liebe des Komponisten zum Ballett hat einen direkten Zusammenhang mit seiner persönlichen Liebesgeschichte: Er heiratete 1958 Maja Plisetskaya, die Prima-Ballerina des Bolschoi-Theaters und widmete ihr fortan alle seine Tanzkompositionen. Eine interessante Anekdote: Zu dem Zeitpunkt, als seine Frau aus der Ballett-Szene ausstieg, hörte er auf Tanzstücke zu komponieren.

Parallel zu seinen Kompositionsarbeiten trat er als Pianist auf und unterrichtete auch von 1964-1969. In diesem Zeitraum entwickelte er seinen Stil weiter. Bisher war er sehr von Rimskij-Korsakow und den „Mächtigen Fünf“ geprägt, eine Schule die auch sein Lehrer Schaporin an erste Stelle setzte . Ab sofort nahm er jedoch auch Kompositionstechniken der westlichen Musikkultur auf. Sein Stil in diesem charakteristischen Zeitraum setzt sich zusammen aus Elementen der Volksmusik und Techniken, die zur sogenannten Avantgarde gehören (z.B. Dodekaphonie im zweiten Klavierkonzert). Sein Klavierstil dieser Zeit ist sehr am Toccata-Stil orientiert, der in dieser Zeit gerade aktuell war. Diese Werke stellte er dem Publikum meist persönlich vor, denn für gewöhnlich ist der Interpret der Uraufführung von Klavierkompositionen der Komponist selbst.3

Heute sind seine Werke aus dem Repertoire der Musikschulen oder Klavierklassen an Musikhochschulen nicht mehr wegzudenken, z.B. seine 24 Präludien und Fugen (1970) oder sein Polyphonisches Lehrbuch. Die stilistische Bandbreite, in der er in einer Funktion als lebendiger Klassiker arbeitet, ist enorm: Das sind z.B. konzertante Werke für verschiedene Instrumentalbesetzungen, Orchestersuiten (oft nach Motiven eigener Theatermusik), Werke im Kantatenstil (verbunden mit Motiven traditioneller, alter russischer Kunst), 5 Ballette, 5 Opern, zuletzt Boyarinya Morozova (2006).

Ein weiteres interessantes Merkmal: Je älter und reifer der Komponist wurde, desto mehr entfernte er sich stilistisch von Schostakowitsch und Rimskij-Korsakow, näherte sich aber an Mussorgskij an. Die Musik von Schtschedrin ab den 60er Jahren lehnt sich überhaupt nicht an die Ästhetik an, die von den Komponisten der zweiter Wiener Schule über die Darmstädter Schule zu den heutigen russischen Komponisten überliefert wurde. Viele andere Komponisten orientierten sich demnach sehr an Webern, Stockhausen und Boulez.

In seiner Musik gibt es keine „grellen stilistischen Wendungen“: Ihr Sinn ist keine äußerliche Öffnung sondern die Vollendung seiner eigenen produktiven Entwicklung, die die Musik des klassisch-romantischen Stils in ihrer direkten Entwicklungsform durch die gesamte russische Komponistenschule hindurch vorstellt: Begonnen bei den „Mächtigen Fünf“ bis zu den letzten Vertretern der Tradition Mjaskowski, Schostakowitsch, Schaporin, Swiridow, Sidelnikow und schließlich Schtschedrin selbst. Deswegen wäre es sehr falsch, seine Musik von der Ästhetik der Avantgarde her zu bewerten. Es gibt verschiedene Phasen, verschiedene stilistische Entwicklungen, die sich wieder auf einer Schnittstelle zwischen Abgeschlossenem und Neuem treffen, und dabei ein Dogma der eigenen Tonkunst festigen.

Der Komponist selbst definiert seinen eigenen Stil „post-avantgardistisch“. Ich selbst, als interessierte Hörerin und Kennerin der Kunst von Schtschedrin, schätze in diesem Kontext seinen Stil eher nicht als avantgardistisch ein, weil sich seine stilistische Entwicklung nicht mit etwas schon Vorhandenem vollzog, sondern parallel mit Erscheinungen, die man üblicherweise zusammenfasst und mit einem Wort Avantgarde nennt. Dieser Begriff der Avantgarde wird vor allem aus der zweiten Wiener Schule abgeleitet, besonders von ihren drei Hauptvertretern Schönberg, Webern und Berg. Noch in den 60ern formulierte er eine These über seinen eigenen Weg:

„In der Kunst sollte man einen eigenen Weg gehen. Er kann kurz, lang, breit oder eng sein, aber er sollte ein eigener sein.“4

Dieser von ihm gewählte Weg ist fest mit der russischen Kultur verbunden. In eigenen Werken greift er meist auf das Schaffen der russischen literarischen Klassiker Tschechow, Puschkin, L. Tolstoi, Gogol und Leskow zurück, wie auch auf die verschiedenen Stile der russischen Folklore und ihre historischen Ursprünge. Schtschedrin ist auch als aktive Persönlichkeit des öffentlichen Lebens bekannt. In den Jahren 1973-1990 leitete er den Russischen Komponistenverband, setzte sich außerdem für die Rehabilitation der ausgewiesenen Künstlern Rostropowitsch und Wischnewskaja ein. Im Jahr 1989 wurde er in die „Oberste Sowjet“ gewählt, wo er zu einer überregionalen Gruppe gehörte, die sich für die Belange von Ausgewiesenen einsetzte, unter dem Namen „Für Perestroika“.

Ferner war er Jurymitglied bei internationalen Wettbewerben für Komposition und Klavier. Er ist Autor von dutzenden Artikeln und Büchern wie z.B. „Monologe verschiedener Jahre“ und „Autobiographische Aufzeichnungen.“ Der für die Carmen-Suite bekannte Komponist schafft immer noch weitere Werke: Im neuen Jahrhundert fanden die Weltpremieren der 3. Sinfonie, Dialoge mit Schostakowitsch, der Oper Charming Stranger, Boyarinya Morozova, dem Oboenkonzert, dem Doppelkonzert (Romantic Offering) für Klavier, Violoncello, Orchester und viel mehr statt. Der Komponist ist ungewöhnlich produktiv. Die Premiere von Kleopatra und Schlange, einedramatische Szene für Frauenstimme und sinfonisches Orchester mit dem Text aus der Schlussszene der Tragödie von Shakespeare Antonie und Kleopatra, in der Besetzung von Pasternak (2011), fand im Jahr 2012 bei den Salzburger Festspielen statt. Dirigent war Gergiev, Mojca Erdmann sang die Titelpartie. Es spielte das Orchester des Marinskij Theaters (Petersburg). Die Verlagsrechte auf die Publikationen von Schedrins Musik hat seit 1993 der Schott-Verlag.

Seit 1991 lebt der Musiker mit seiner Ehefrau in Deutschland. Er hat momentan die russische Staatsbürgerschaft. Abgesehen von seiner Anti-Avantgarde Position definiert er sich ausschließlich als russischer Künstler, deswegen möchte ich diese Publikation mit den Worten des Komponisten selbst beenden, die am allerbesten seinen Charakter und schöpferisches Kredo bezeichnen:

„Ich habe einfach Musik geschrieben. Ehrliche Musik. Ich bin von ihr überzeugt. Musik, die ich in meinem Inneren gehört habe. Den einen verärgert oder kränkt sie, den anderen berührt sie. Ich bin glücklich, dass ich mein Leben in der Musik gelebt habe. Glücklich, dass ich in Russland geboren wurde.“

Von Anastasia Fedjaewa, übersetzt von Ekaterina Sell


1 Rodion Shchedrin. Das Gespräch mit L. Grigorjew und J. Platek. Musikalisches Leben, 1975, Nr.2, S. 6.

2 Russische Volkslieder mit scherzhaftem Charakter, vergleichbar mit Limericks

3 Anmerkung der Redaktion: Dies gilt natürlich nur für Russland und ist nicht auf europäische Verhältnisse zu übertragen.

4 Sowjetische Musik (Zeitschrift), Nr. 6