Komponisten und Werke des 19. und 20. Jahrhunderts – Ein Überblick

Die Gattungsgeschichte der Sonate in Russland ist diejenige eines Importprodukts und seiner schrittweisen Aneignung, Verinnerlichung und Individualisierung. Im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigt sich die russische Kunstmusik aristokratisch dominiert und an der Musikkultur Mittel- und Westeuropas orientiert: In den Theatern werden italienische und französische Opern gegeben, am Zarenhof wirken deutsche, französische, italienische und böhmische Musiker und etablieren die Orchester- und Kammermusik des Westens in Russland. Nachdem sich in der Regierungszeit von Zarin Katharina II. die Landessprache auf den Theaterbühnen durchgesetzt hat, entsteht eine eigenständige, genuin russische Kompositionsschule erst mit dem Schaffen von Michail Glinka (1804-1857) und Aleksandr Dargomyschski (1813-1869), deren nationalromantische Werke die russische Folklore in den Mittelpunkt stellen und die nachfolgenden Komponistengenerationen, insbesondere die St. Petersburger Gruppierung des Mächtigen Häufleins, nachhaltig prägen.

In den 1860er Jahren wird die musikalische Ausbildung in Russland durch die Gründung von Konservatorien nach deutschem Vorbild institutionalisiert; Anton Rubinstein und sein jüngerer Bruder Nikolaj sind die ersten Direktoren der Häuser in St. Petersburg und Moskau. Die Musikszene Russlands ist fortan mehr denn je an diese beiden Zentren gekoppelt. Vor allem im Curriculum der Moskauer Lehranstalt lebt eine Orientierung am Formenkanon der Wiener Klassiker und ihrer Nachfolger fort, eine unabdingbare Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Gattung Sonate innerhalb der russischen Musikgeschichte. Dieser Aufsatz stellt die Entwicklung eines Teilbereichs der Sonatenkomposition in Russland, der Klaviersonate, überblicksartig dar.

Konservativismus und Nationalismus

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie ersten Protagonisten der russischen Klaviersonate sind Anton Rubinstein (1829-1894) und Peter Tschaikowskij (1840-1891), zwei Persönlichkeiten, welche als Komponisten und Interpreten ihrer eigenen Werke zu internationaler Bedeutung gelangen. Beider Wirken ist durch stilistischen Konservativismus und eine Orientierung nach Westen geprägt: Rubinstein genießt wie Glinka einen wesentlichen Teil seiner Ausbildung in Berlin, worauf sich seine Hochschätzung des deutschen Kulturerbes gründet; Tschaikowskij, nach einer Berufstätigkeit als Jurist von Rubinstein kompositorisch ausgebildet, zehrt von dieser Ausrichtung. Der zeitgenössischen und späteren Musikkritik gilt Rubinstein häufig als komponierender Pianist, dessen schöpferische Kunst nicht die Höhe seines Ranges als Interpret erreiche. Sein recht umfangreiches Klavierwerk, darunter vier Sonaten aus den Jahren 1848 bis 1877 (e-Moll op. 12, c-Moll op. 20, F-Dur op. 41, a-Moll op. 100), wird häufig als eklektizistisch und wenig innovativ bezeichnet. Ähnliche Urteile gelten dem Klavierschaffen Tschaikowskijs, der, obwohl er eines der populärsten Klavierkonzerte des Repertoires geschaffen hat, im Allgemeinen eher als Symphoniker und Opernkomponist wahrgenommen wird. Für seine zwischen 1863 und 1878 entstandenen Klaviersonaten (cis-Moll op. posth. 80, G-Dur op. 37), die in heutigen Konzertprogrammen kaum eine Rolle spielen, hat Tschaikowskij sich stets scharfe Kritik zugezogen: Es wurden Schwächen in der Beherrschung der Form diagnostiziert, und die Werke wirkten auf Zeitgenossen und spätere Rezipienten eher episodisch denn aus einem Guss.

Ab etwa 1856 vertritt der St. Petersburger Kreis des Mächtigen Häufleins eine ästhetische Gegenposition zum Rubinsteinschen Akademismus. Der Zusammenschluss von fünf nicht professionell ausgebildeten Komponisten propagiert eine spezifisch russische, von der westeuropäischen Musikkultur weitgehend unabhängige künstlerische Haltung und befasst sich nicht schwerpunktmäßig mit tradierten Formen wie der Sonatenform, von einem Klaviersonaten-Frühwerk aus der Feder Milij Balakirews abgesehen. In den 1880er Jahren geht aus dem Kontakt Nikolaj Rimskij-Korsakows mit dem einflussreichen Verleger und Mäzen Mitrofan Beljajew der sogenannte Beljajew-Kreis hervor, dem auch Rimskijs Schüler Aleksandr Glasunow (1865-1936) angehört. Das Schaffen des ebenfalls aus St. Petersburg stammenden Glasunow nimmt eine Vermittlungsposition zwischen dem Nationalismus der Fünf und der westlich orientierten Moskauer Schule ein. Als eher konservativ ausgerichteter Symphoniker wendet er sich nur vorübergehend der Klaviersonate zu und schreibt im Jahr 1901 zwei dreisätzige Werke (b-Moll op. 74, e-Moll op. 75).

In seinem Umfeld wirken zur gleichen Zeit auch Sergej Ljapunow (1859-1924), der 1908 eine voluminöse, an Franz Liszt orientierte Klaviersonate (f-Moll op. 27) veröffentlicht, und Felix Blumenfeld (1863-1931), dessen Sonate-Fantaisie aus dem Jahr 1913 (h-Moll op. 46) ebenfalls eine Verwandtschaft zu großformatigen Werken der neudeutschen Schule aufweist. Aleksandr Gretschaninow (1864-1956), in Moskau und St. Petersburg ausgebildet, wendet sich erst ab 1931, in der Emigration, zweimal der Klaviersonate zu (g-Moll op. 129, G-Dur op. 174).

Die Moskauer Komponistenszene

Im beginnenden 20. Jahrhundert widmet sich eine Anzahl von Komponisten aus den Reihen des Moskauer Konservatoriums, die stets auch herausragende Pianisten sind, intensiv der Sonatenform und knüpft damit an die durch Rubinstein und Tschaikowskij bewahrte Gattungstradition an. Als besonders ergiebig erweist sich das Schaffen der Generation der zwischen 1870 und 1880 geborenen, in den Kompositions- und Musiktheorieklassen von Anton Arenskij und Sergej Tanejew ausgebildeten Komponisten. Aleksandr Skrjabin (1872-1915), dessen kurze, fast völlig auf das Klavier konzentrierte Schaffensphase in der Zeit zwischen 1892 und 1913 zehn Klaviersonaten hervorbringt, spannt einen weiten Bogen von einer spätromantischen Tonsprache in der Nachfolge Chopins und Liszts hin zu dem harmonisch höchst innovativen, von einem mystisch-spirituellen Konzept durchdrungenen Spätwerk.

Die ersten Sonaten (f-Moll op. 6, gis-Moll op. 19, fis-Moll op. 23) sind noch vor der Jahrhundertwende entstanden; ab der fünften Sonate op. 53 wird die Dur-Moll-Tonalität stark erweitert und tendenziell gesprengt, während die musikalische Form auf einsätzige Strukturen reduziert wird. Zur gleichen Zeit greift auch Sergej Rachmaninow (1873-1943) auf die Gattung der Klaviersonate zurück, die nicht im Mittelpunkt seines Schaffens steht, obschon die Sonatenhauptsatzform innerhalb seiner Orchester- und Kammermusik stets evident ist. Rachmaninow hinterlässt zwei virtuose, jeweils mehreren Revisionen unterzogene Werke aus den Jahren 1907 und 1913 (d-Moll op. 28, b-Moll op. 36), von denen vor allem das letztere aus dem pianistischen Repertoire nicht wegzudenken ist, während die erste Sonate aufgrund ihrer Länge und Komplexität selten gespielt wird.

Otkrytoe Pismo  Metner Postcard-1910Das vierzehn Werke umfassende Sonatenschaffen Nikolaj Medtners (1880-1951) steht hinsichtlich seiner Rezeption bislang noch im Schatten der populäreren Zeitgenossen. Aus einer konservativen ästhetischen Haltung heraus schreibt Medtner einen höchst differenzierten Klaviersatz, der sich durch komplexe Metrik und Kontrapunktik auszeichnet. In seinen Klaviersonaten, entstanden zwischen 1902 und 1937, erweist sich der Komponist als ein ständiger Experimentator der musikalischen Form: Werke in klassischer Mehrsätzigkeit (f-Moll op. 5, c-Moll op. 25 Nr. 1), einsätzige und einsätzig-mehrteilige Gestalten (Sonatentriade op. 11, g-Moll op. 22, a-Moll op. 30), sowie die Integration der Sonatenhauptsatzform in Zyklen von Charakterstücken (in opp. 38 und 39) stehen gleichberechtigt nebeneinander.

Die Moskauer Schule bringt in der Folge noch einige weitere, bisher außerhalb Russlands wenig zur Kenntnis genommene Komponisten hervor, die maßgeblich zur Gattung der Klaviersonate beitragen. Auf den Spuren Skrjabins bewegt sich Aleksej Stantschinskij (1888-1914) mit seinen drei Sonaten; der junge Boris Pasternak (1890-1960) schreibt, gleichfalls von Skrjabin beeinflusst, vor dem Beginn seiner literarischen Karriere eine Klaviersonate in h-Moll. Noch weitgehend unerschlossen ist das Œuvre Samuil Feinbergs (1890-1962) mit zwölf hoch komplexen, ab 1915 entstandenen Klaviersonaten, welche die Tonalität auf individuellem Wege an ihre Grenzen führen und die gesamte Lebensspanne des Komponisten abdecken. Die russische Avantgarde der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wird prominent vertreten durch das Schaffen von Nikolaj Roslawets (1880-1944), von dessen sechs Klaviersonaten nur zwei vollständig erhalten sind, sowie durch die drei Sonaten von Sergej Protopopow (1893-1954), die zwischen 1920 und 1928 eine progressive, rhythmisch und tonal kaum mehr gefestigte Tonsprache ausprägen.

Aufbruch in St. Petersburg

Parallel zum Moskauer Traditionalismus finden einige am St. Petersburger Konservatorium ausgebildete Komponisten nach der Revolution von 1917 neue ästhetische Wege, ohne zwingend an die Werke ihrer Vorgänger anzuknüpfen. Die Schüler Rimskij-Korsakows und Glasunows sind einerseits von der nationalrussischen Haltung des Ersteren geprägt, andererseits bereitet ihnen die produktive Auseinandersetzung des Letzteren mit dem Erbe der klassisch-romantischen Kompositionstradition den Weg für eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Sonatenform. Bei Igor Strawinskij (1881-1971) münden diese Voraussetzungen in eine sehr eigenständige Tonsprache, in der das rhythmische Element betont und folkloristische Einflüsse vielfältig einbezogen werden; Er konzentriert sich zeitlebens auf die Orchester- und Bühnenmusik sowie andere Großbesetzungen, veröffentlicht aber 1924, in seiner neoklassizistischen Phase, eine dreisätzige Klaviersonate, die Züge einer parodistischen Stilstudie trägt.

Eine weitaus gewichtigere Rolle in der Weiterentwicklung der Sonatenform muss Sergej Prokofjew (1891-1953) zugeschrieben werden, dessen neun Klaviersonaten zwischen 1909 und 1947 entstehen und seine gesamte Schaffensphase umspannen. Nach dem einsätzigen, romantisierenden Erstling (f-Moll op. 1) gelangt Prokofjew zu stilistisch höchst unterschiedlichen Gattungsbeiträgen, welche die Klaviertechnik bis an ihre Grenzen ausreizen. Mit seiner zwischen Perkussivität, scharfer Dissonanz, Klassizismus und schlichter Lyrik changierenden Tonsprache vermag sich der Komponist geschickt zu den Vorgaben der politischen Führung zu positionieren. Hervorgehoben werden können die drei Kriegssonaten Nr. 6 bis Nr. 8, unter denen die siebte Sonate (B-Dur op. 83) zu den meistaufgeführten ihrer Gattung zählt.

Aleksandr Tscherepnin (1899-1977) befasst sich zweimal mit der Klaviersonate; das erste Werk (a-Moll op. 22) ist recht traditionell gehalten, die nach der Emigration entstandene zweite Sonate aus dem Jahr 1961 sprengt die Tonalität. Bei Dmitrij Schostakowitsch (1906-1975) finden sich innerhalb eines eher auf Symphonie und Streichquartett konzentrierten Instrumentalschaffens lediglich zwei Klaviersonaten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: der einsätzige, atonale Erstling op. 12 ist dem avantgardistischen Geist der 1920er Jahre verpflichtet, während das Schwesterwerk op. 61 aus dem Kriegsjahr 1942 sich in nahezu ungetrübtem h-Moll verbreitet.

Sonatenschaffen in der Sowjetunion

Ähnliche stilistische Rückwendungen finden sich auch bei anderen Komponisten, nachdem das Sowjetregime im Jahr 1932 die Direktiven des Sozialistischen Realismus durchgesetzt hat. Die Bedingungen, unter welchen sich das ideologisch verpflichtete Komponieren im stalinistischen Russland gezielt auf die Gattung Sonate richtet, während man sich in Westeuropa und Amerika vom traditionellen Formenkanon eher abkehrt, verdienen eine nähere Betrachtung, welche an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Bei den nicht emigrierten Komponisten der Sowjetunion ist jedenfalls eine auffällige Affinität zur Klaviersonate zu beobachten.

Die über einen Zeitraum von fast sechzig Jahren entstandenen vierzehn Werke des Moskauer Komponisten Anatolij Aleksandrow (1888-1982) bewegen sich, nach einer impressionistischen Frühphase, vorrangig in einem linientreuen spätromantischen Idiom. In gleichfalls eher konservativer Tonsprache sind die zwei bzw. drei Sonaten der ukrainischstämmigen Komponisten Jurij Schaporin (1887-1966) und Wiktor Kosenko (1896-1938) verfasst. Der Moskauer Komponist Aleksandr Mossolow (1900-1973) hingegen wird wegen seiner Unangepasstheit mehrfach verbannt und aus dem sowjetischen Komponistenverband ausgeschlossen, bevor er sich später rehabilitieren kann; seine vier erhaltenen Sonaten aus den 1920er Jahren dokumentieren einen experimentellen, Tonalität und Form zusehends transzendierenden kompositorischen Ansatz.

Dem pauschalen Vorwurf des Formalismus, welchen das stalinistische Regime gegenüber seinen Künstlern erhebt, ist auch ein Komponist wie Nikolaj Mjaskowskij (1881-1950) ausgesetzt, der in seinen neun Klaviersonaten einen Weg von vorsichtigen Modernismen (fis-Moll op. 13, c-Moll op. 27) hin zu eklektizistischer Anpassung (ab dem Sonatenpaar op. 64) beschreitet und dabei die Dur-Moll-Tonalität niemals verlässt. Mjaskowskijs Schüler sind ebenfalls prägende Figuren im Musikleben der Sowjetunion: Dmitrij Kabalewskij (1904-1987) steigt zu einem Funktionär des Komponistenverbands auf, sein Engagement für die pädagogische Musik wird flankiert von drei stilistisch retrospektiven Klaviersonaten. Auch der Armenier Aram Chatschaturjan (1903-1978) hinterlässt ein erweitert tonales, stets durch eingängige Melodik geprägtes Œuvre, darunter eine Klaviersonate von 1961. Ähnliche Voraussetzungen gelten für die fünf Klaviersonaten von Leonid Polowinkin (1894-1949) sowie für die zehn Werke von Jewgenij Golubew (1910-1988), während das Schaffen von Oleg Eiges (1905-1992), der während seiner langen Lebensspanne zwölf Sonaten veröffentlicht, durch große stilistische Wandlungen gekennzeichnet ist.

Blick in das moderne Russland

Namhafte russische Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drücken der Entwicklung der Klaviersonate ebenfalls ihren Stempel auf. Der polnischstämmige, von Schostakowitsch protegierte Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) knüpft mit sechs Klaviersonaten an die erweitert tonale, neomodale Kompositionstechnik des Sowjetischen Realismus an. Auch die beiden dreisätzigen, Sonaten von Rodion Schtschedrin (*1932) repräsentieren ein motorisches, formal gefestigtes Idiom mit zurückhaltendem Gebrauch von Dissonanzen. Anders verhält es sich bei Sofija Gubaidulina (*1931), deren Klaviersonate aus dem Jahr 1965 hinsichtlich der Harmonik und Klaviertechnik innovative Wege geht, und in dem umfangreichen Sonatenschaffen von Galina Ustwolskaja (1919-2006), das zwischen 1947 und 1988 sechs eigenwillig notierte, klanglich höchst differenzierte Werke hervor bringt.

Über die Sowjetzeit hinaus weisen die elf Sonaten von Boris Tischtschenko (1939-2010) sowie die drei Gattungsbeiträge Alfred Schnittkes (1934-1998), welche im Sinne einer postmodernen Collagetechnik neotonale Elemente mit von Clustern bestimmten Passagen kontrastieren. Das extrem produktive Schaffen von Nikolaj Kapustin (*1937) schlägt schließlich eine Brücke zum Jazz: der Komponist hat seit dem Jahr 1984 zwanzig Klaviersonaten geschrieben, deren täuschend improvisatorischer Gestus kaum erahnen lässt, dass es sich um konzentrierte, in jedem Detail ausnotierte Notentexte handelt.

Kurzanalysen

Tschaikowskij: Klaviersonate Nr. 2 G-Dur, op. 37 (1878)
Die gewaltige Länge des Werkes veranlasst seine Rezipienten zu dem wenig schmeichelhaften Urteil, es hätte in orchestrierter Form eine passable Symphonie abgegeben (William Newman); der Klaviersatz wird als „monumental, massig, massiv“ (Christoph Rueger) charakterisiert. Tschaikowskij selbst bezeichnete die Sonate, die parallel zu Eugen Onegin und dem Violinkonzert entstanden ist, als „etwas trocken und kompliziert“. Ungeachtet dieser Kritik kann die viersätzige Sonate jedoch als ein reifes, pianistisch forderndes Werk begriffen werden. Der ausladende erste Satz Moderato e risoluto hebt mit einem markant punktierten Motto an, das den ganzen Satz durchzieht; das Hauptthema ist in sich dreiteilig mit einer Mittelepisode in g-Moll, welche auch die Reprise einleitet. Die Großform weist viele Nahtstellen und nur wenige organisch auskomponierte Übergänge auf; die Themen sind sequenzierend gebaut, ihre Syntax wirkt stellenweise mechanisch. Diese formalen Schwächen werden jedoch aufgewogen durch melodische Inspiration und Glanz der pianistischen Textur. Es folgen ein langsamer Satz Andante non troppo quasi moderato (e-Moll) mit einem anrührendem, über absteigendem Bass sich entfaltenden Doppelthema in variierter zweiteiliger Liedform, ein rhythmisch kapriziöses Scherzo im originellen 6/16-Takt sowie ein Finale Allegro vivace, das motivisch auf den Kopfsatz Bezug nimmt und diesen an Virtuosität und Brillanz noch übertrifft.

Skrjabin: Klaviersonate Nr. 5, op. 53 (1907)
Die erste einsätzige Sonate Skrjabins verkörpert ein Übergangsstadium: mit ihr verlässt der Komponist die Sphäre der gefestigten Tonalität. Eine ideelle und motivische Nähe zum kurz zuvor entstandenen Orchesterwerk Poème de l’extase op. 54 wird hergestellt, indem der Sonate einige Verse aus der gleichnamigen Dichtung Skrjabins vorangestellt werden. Ihre harmonische Faktur und satztechnische Dichte lassen sie als ein Schlüsselwerk auf dem Weg zur Spätphase, die durch den Gebrauch des mystischen Prometheus-Akkords gekennzeichnet ist, erscheinen. Gleichwohl ist das Werk nicht atonal – über weite Strecken ist Fis-Dur vorgezeichnet; Dominantklänge bleiben als solche erkennbar, obwohl sie durch Optionstöne angereichert werden können und häufig keine Auflösung erfahren. Gelegentlich erscheinen bereits Quartenschichtungen, ohne dass diese die Harmonik maßgeblich bestimmen würden. Siegfried Mauser sieht die Großform als Überlagerung eines Sonatenhauptsatzes mit einer freien Reihungsform an. Nach einer Einleitung Allegro. Impetuoso. Con stravaganza und dem Hauptthema Presto con allegrezza werden drei weitere Themen verarbeitet, die durch suggestiv wiederkehrende Vortragsbezeichnungen einen leitmotiv-ähnlichen Charakter gewinnen. Das Werk schließt mit einer triumphalen Coda in Es-Dur.

Medtner: Klaviersonate Nr. 5 g-Moll, op. 22 (1909-10)
In diesem Werk verwirklicht Medtner erstmals eine großangelegte, mehrteilig-einsätzige Form, ohne allerdings ein double function design in der Nachfolge Liszts anzustreben. Der Satz erweist sich als eine gewaltige Sonatenhauptsatzform mit einem in der Mitte eingeflochtenen, bereits früher komponierten Interludium. Nach einer achttaktigen Einleitung Tenebroso, sempre affrettando und dem ausgedehnten Hauptthemenkomplex Allegro assai folgt die Tonalität einer symmetrischen Anlage: der d-Moll-Seitensatz kehrt während der Reprise in c-Moll wieder, so dass die Grundtonart von beiden Seiten im Quintverhältnis eingefasst wird. Das f-Moll des Interludiums bildet mit dem irregulären a-Moll des Reprisenbeginns eine weitere symmetrische Klammer um das tonikale g-Moll, das sich allein am Beginn des Werkes und in der gewichtigen Coda stabilisiert und sonst lediglich umkreist wird. Diese Konstruktion, welche dem langen, mit impressionistischen Farben ausgestalteten Durchführungsteil ein besonderes Gewicht verleiht, macht das Werk zu einer reizvollen Aufgabe für den Interpreten und hat es zu einem der meistgespielten Klavierstücke Medtners werden lassen.

Rachmaninow: Klaviersonate Nr. 2 b-Moll, op. 36 (1913, revidiert 1931)
Über Umwege hat sich dieses Werk zu einem Kernstück des pianistischen Repertoires entwickelt. Zwei Jahrzehnte nach Fertigstellung der langen und komplexen Erstfassung der Sonate sah sich Rachmaninow zu deutlichen Kürzungen veranlasst, nachweislich motiviert durch den Vergleich mit Chopins Sonate in derselben Tonart, in der in 19 Minuten „alles gesagt werde“. Die Neufassung von 1931 ist kompakter und stringenter in ihrer musikalischen Aussage; der Pianist Wladimir Horowitz stellte später eine vom Komponisten autorisierte Mischfassung beider Versionen her. Ein starkes zyklisches Moment fügt die drei Sätze, die nahtlos aneinander anschließen und durch motivische Querverweise verzahnt sind, zu einer untrennbaren Einheit zusammen; es liegt ein der harmonischen Tradition verpflichtetes und dennoch fortschrittliches Werk vor. Der erste Satz Allegro agitato besitzt eine mottoartige Initialformel, das absteigende Arpeggio eines Tonika-Quartsextakkords, welches im Verlauf des Werks immer wieder zitiert wird und beide Hauptgedanken des Kopfsatzes in diminuierter Form vorweg nimmt. Der Lento-Mittelsatz in G-Dur hebt mit einer tonal schweifenden Einleitung Non allegro an und entwickelt in dreimaliger Wiederkehr seines Themas eine Variationsform. Ebendiese Einleitung wird auch, abwärts transponiert, dem dritten Satz Allegro molto vorangestellt; es folgt ein rasches, Eigenschaften von Scherzo und Sonatenhauptsatz kombinierendes Finale in B-Dur, das auf ein prägnantes Hauptthema weitgehend verzichtet.

Prokofjew: Klaviersonate Nr. 7 B-Dur, op. 83 (1939-42)
Nach seiner Rückkehr aus der Emigration im Jahr 1936 und einer längeren, anderen musikalischen Gattungen gewidmeten Phase wendet sich Prokofjew wieder der Klaviersonate zu und arbeitet parallel an den drei als Kriegssonaten bekannt gewordenen Werken. Die sechste, siebte und achte Sonate können als Höhepunkt seines Klavierschaffens gelten und weisen eine hoch individuelle, zur Dissonanz tendierende Tonsprache auf. Trotz der klanglichen Härten gewinnt die siebte Sonate den Stalinpreis II. Klasse und gelangt nach ihrer Uraufführung durch Swjatoslaw Richter zu einer immensen Popularität. Im ersten Satz Allegro inquieto herrscht ein nervöser und tänzerischer Gestus vor. Zwei getragene Mittelteile kontrastieren im Charakter, eine Sonatenform ist nur sehr rudimentär erkennbar. Im Unterschied zu den anderen beiden Sätzen notiert Prokofjew keine Tonartvorzeichnung; der Grundton b ist anfangs kaum als solcher erkennbar, wird aber durch regelmäßige Wiederkehr am Phrasenende evident. Es folgt ein Andante caloroso in E-Dur, dessen lyrisches, in Dezimparallelen gesetztes Thema laut dem Prokofjew-Biographen Daniel Jaffé auf Schumanns Lied Wehmut op. 39 Nr. 9 Bezug nimmt. Das mit Precipitato überschriebene Finale, eine „infernalische Toccata“ (Christoph Rueger), zieht mit einem niemals abreißenden rhythmischen Ostinato im 7/8-Takt rasant vorüber.

Dmitri1Schostakowitsch: Klaviersonate Nr. 2 h-Moll, op. 61 (1942)
Auch Schostakowitsch kommt, nach einer zehnjährigen Periode ohne ein einziges Klavierstück, während des Zweiten Weltkriegs wieder auf die Klaviersonate zurück und findet in diesem dreisätzigen Werk zu einem melancholisch geprägten, an Dissonanzen nicht sparsamen, aber jederzeit tonal gefestigten Stil. Der erste Satz Allegretto verkörpert den pianistischen Gestus einer Invention: sparsame Zweistimmigkeit ist vorherrschend, der Klaviersatz wirkt durch vielfältigen Einsatz von Alberti-Bass-ähnlichen Akkordbrechungen klassizistisch. Das kantable Hauptthema liegt zunächst in der Unterstimme, von Figurationen der rechten Hand begleitet, und erscheint später in Sextparallelen. Ein knappes, walzerartiges Largo in As-Dur steht im Zentrum der Sonate, bevor mit dem Moderato con moto ein ausladendes Finale folgt, dessen weitgespanntes, zunächst einstimmig vorgetragenes Thema sich in neun Variationen entfaltet. Ähnlich wie im Hauptthema des Kopfsatzes herrscht hier eine erweiterte, die Grundskala um die tiefalterierten Nebennoten es und b ergänzende Diatonik vor. Viktor Delson meint in der Tonfolge d es (d) cis h einen ersten Verweis auf das Komponisten-Monogramm D-SCH zu erkennen, es handelt sich aber vielmehr um eine in Viertongruppen organisierte Realisierung der oktatonischen Skala.


Literaturhinweise

Peter Hollfelder: Russland und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in: ders., Die Klaviermusik.

Das große Standardwerk, Hamburg 21999: Nikol Verlagsgesellschaft, S. 451-499.

Dietrich Kämper: Die Klaviersonate nach Beethoven. Von Schubert bis Skrjabin, Darmstadt 1987:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 191-247.

Siegfried Mauser: Expansion versus Reduktion, in: Arnfried Edler: Gattungen der Musik für Tasten­instrumente, = Handbuch der musikalischen Gattungen Bd. 7.3, Laaber 2004: Laaber, S. 81-116.

Marc Mühlbach: Russische Musikgeschichte im Überblick. Ein Handbuch, Berlin 1994: Ernst Kuhn.

Christoph Rueger / Christoph Flamm: Werkeinführungen zu Sonaten russischer Komponisten, in:
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William S. Newman: The Sonata since Beethoven, New York 21972: Norton Library, S. 700-733.

Dorothea Redepenning: Klaviermusik, in: dies., Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik,

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