Neue Musik, also jene Musik, die sich in der Tradition der europäischen Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts sieht, findet sich dieser Tage in einer recht eigentümlichen Situation wieder. Was dereinst als radikale Kraft zur Erneuerung, Reflexion und Erweiterung althergebrachter Musikbegriffe die Bühne betrat, präsentiert sich heute, wiewohl immer noch das Banner des einzig wahrhaft Neuen tragend, als Formation defensiver Strukturen in Konservatoriums- und Konzerthausnähe.

Wie kommt es, dass Musik, deren zentrales Merkmal laut Eigendefinition ihre Neuheit ist, sich zum allergrößten Teil mit Instrumenten und in Konzertsälen des neunzehnten Jahrhunderts ereignet? Alle, die einmal die weltliche Kommunion des klassischen Konzertes erlebt haben, wissen um die gesellschaftliche Rolle dieses Betriebs. Wie teuer Karten für Konzerte von Rock-Legenden auch immer sein mögen, es gibt keine vergleichbaren Institutionen im Musikleben, die ihren gut gekleideten Besuchern und Besucherinnen ermöglicht, mit anderen gut gekleideten Konzelebranten, derart elegant und gemeinsam die menschliche, folglich auch die eigene Schönheit zu feiern.

Die klassische Musik mit ihren Institutionen und Insignien ist in Zentraleuropa tatsächlich eine Stütze der Gesellschaft und des Staates. Stellt man sich als zeitgenössische Komponistin oder Komponist nun nah genug zu dieser Stütze dazu, kann man mit ein bisschen Geschick den Eindruck erwecken, man trage selbst ein wenig dieser Last. In ihrer Selbststilisierung als einzig berechtigte Erbin der kompositorischen Heroen vergangener Jahrhunderte erhebt die Neue Musik auch Anspruch auf deren symbolisches Kapital.

Dieses symbolische Kapital historischer europäischer Kunstmusik mit ihren Institutionen wie Symphonieorchester, Konzertsaal und Musikakademie, kann im System staatlicher Kunstförderung gegen greifbarere Formen von Kapital, nämlich Bargeld, eingetauscht werden. Dies ist für die Neue Musik von existentieller Bedeutung, denn ohne Bezahlung spielt niemand diese Musik. Dass oft gerade Experten und Expertinnen aus dem Bereich der institutionalisierten Neuen Musik die Vergabebeiräte bevölkern, ist den Erfolgsaussichten dieses Manövers durchaus nicht grundsätzlich abträglich.

In dieser Anbindung an die historischen Institutionen des musikalischen Abendlandes ist die Neue Musik nicht Trägerin und Ursprung jener Organisationen, in denen sie agiert, sondern deren Profiteurin. Sie agiert dabei zwar nicht als bloße Schmarotzerin, sondern steht zu diesen Institutionen auch in einem symbiotischen Verhältnis, da sie ihnen einen matten Glanz zeitgenössischer Relevanz verleihen kann. Als primäre Nutznießerin hat sie aber kaum Gestaltungsmacht über ihre (Wirts-)Institutionen und muss sich dementsprechend anpassen.

So zeichnet sich Neue Musik heute weniger durch besondere strukturelle Eigenschaften ihrer Werke aus, als vielmehr durch die Entschlossenheit, medientechnisch rückwärtskompatible Musik für bestehende Strukturen wie Konzert- und Opernhäuser, Orchester und Notenverlage zu sein.

Um es ein wenig überhöht zu zeichnen, ist Neue Musik eine Bewegung, die sich zwar als streng revolutionär definiert, sich aufgrund ihrer Glaubensgrundsätze und der Gegebenheiten des Betriebes aber darauf beschränken muss, ihre Revolutionäre bei den Sängerknaben zu rekrutieren, um ihre Schlachten in der Kapuzinergruft zu schlagen. Für die performativen Experimente der Fünfziger- und Sechziger-Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist dieser Tage kein Platz mehr. Nicht, dass diese künstlerischen Bemühungen schlichtweg geendet hätten, sie sind aber anderswo verortet, denn Neue Musik bietet keinen Raum mehr für Deviation.

Das Konservatorium und seine Erweiterungen

Die Akademie, früher das Feindbild der Neutöner, bildet nun deren Rückgrat. Die Tatsache, dass sich Neue Musik heute praktisch ausschließlich in Konservatoriums- oder Hochschulnähe ereignet (denn wer nicht dort studiert, unterrichtet dort) verstärkt die repetitiven Tendenzen. Die Hochschule mit ihren Aufnahmeprüfungen und assoziierten Wettbewerben agiert als Gleichrichter und Filter in der Nachwuchsarbeit.

Nur die Bravsten der Tonsatzjugend dürfen studieren und werden so in ihrem Entsprechenwollen bestätigt. Die dort Lehrenden aber sitzen, weit über ihre Unterrichtstätigkeit hinaus, in Vergabebeiräten, in Wettbewerbsjurien, vermitteln Aufträge und Assistenzstellen und leisten so ihren Beitrag dazu, dass Neue Musik sich immer mehr von einer Musik der Revolutionäre und Revolutionärinnen zu einer Musik der Musterschülerinnen und -schüler (meist schon in dritter Generation) entwickelt. So ergibt sich geradezu eine Weltmeisterschaft im musikalischen Brav-Sein, denn nur jene, die den Vorgaben der Hochschulen entsprechen wollen, machen Neue Musik. Der Rest macht Anderes; ohne expliziten Anspruch auf die Nachfolge großer Meister, die sich, da stets schon verstorben, zu dieser Situation selbst auch nicht mehr äußern können.

Repetitive Strukturen

Der Zustand von Neuer Musik heute lässt sich gut als das Ergebnis eines aus den Fugen geratenen Peer-Review1Systems interpretieren. Was als Einrichtung zur Sicherung der Qualität wissenschaftlicher Texte große Vorteile hat (wenngleich es strukturell immer eine eher konservative Macht darstellen wird) ist im Falle der Neuen Musik, da sie ja implizit, folglich ohne verbindliche Standards und Methodenreflexion angewandt wurde, gemeinsam mit der Existenz bloß einer zentralen Geldquelle, Garant für die Errichtung eines repetitiven und sich immer weiter verengenden Systems. Denn an Neuer Musik nehmen nur mehr Experten teil, sei es in Form von spezialisierten Instrumentalisten, akademischen Komponisten, spezialisierten Journalistinnen oder Jury-Mitgliedern. Da es praktisch keine unabhängigen Geldmittel im System gibt, gibt es auch keinen Weg um diese etablierten Experten herum.

All dies führt, trotz strengstem Rhythmusverbot, zu repetitiven Strukturen, und zwar in Finanzierung und Ausbildung. Allein die Vorstellung, ein junger Technoproduzent Ende der 1980er Jahre hätte bei Mick Jagger, BB King oder Udo Jürgens vorstellig werden müssen, um zu fragen, ob seine Nummern in Ordnung und spielbar wären, zeigt (trotz aller Unterschiede in den Kontexten), wie bizarr sich solche Strukturen auf die (kunst-)musikalische Realität auswirken. Es kommt also nicht von ungefähr, dass die Neue Musik heute in ihren angegrauten Riten und Gesten wie aus der Zeit gefallen wirkt und im real existierenden Betrieb Neuer Musik ähnlich große Zwänge zur reinen Affirmation des Bestehenden existieren wie in kommerziellen Formatradios.

Die Partitur

Eine weitere zentrale Rolle in der Definition dessen, was Neue Kunstmusik in Europa ist, nimmt die Partitur ein, deren besondere Stellung sich aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten lässt. Zum Einen ist sie dieser Tage fast schon ein Alleinstellungsmerkmal, denn kaum eine andere Musikform benutzt Notenschrift noch als ihr primäres Veröffentlichungsmedium. Zum Anderen sind die in der Partitur vermittelten Codes geschichtsträchtig, wirken geheimnisvoll und sind für Laien, die selbst immer weniger mit notenbasierter Musizierpraxis zu tun haben, schon ein Mysterium für sich.

Als Relikt der Musikwissenschaft der 1950-er Jahre scheint auch noch zu gelten, dass ohne Partitur kein Werk und kein Werk ohne Partitur möglich sei. Es herrscht nach wie vor ein Glaube an das Primat der symbolischen Repräsentation, von der man sich – im Gegensatz zum konkreten Klang – gesteigerte Allgemeingültigkeit erhofft. Entscheidend jedoch ist, dass die Partitur die Schnittstelle zu den historischen Klangproduktionseinrichtungen staatstragender Kunst darstellt. Denn der Markt der Neuen Musik, in dem die Fördergelder der verschiedenen Institutionen wie Orchester und Opernhäuser umgeschichtet werden, wird nach wie vor von Notenverlagen und ihren Materialverleihen dominiert.

Die Abrechnungssysteme dieser Umverteilung brauchen Partituren und entlarven dabei auch den naiven Glauben an die Definierbarkeit von Wertigkeit künstlerischer Äußerungen und somit Zuordenbarkeit von Geldwertigkeit entlang definierter Kriterien. Ein entscheidender Faktor in dieser institutionalisierten, nichts desto trotz bizarren Unterscheidung zwischen E- und U-Musik ist nach wie vor die Existenz einer Partitur zum vorgelegten Stück.

Symbolische Welten

Ein Arbeiten in dieser Umgebung symbolischer Repräsentation in Partituren lässt stets auch dazu verführen, der Einfachheit halber nur mehr in symbolischen Systemen zu denken. Leicht verkommt so die musikalische Welt zu Regelsystemen auf Papier. Der Befreiungsschlag einer Komponistin kann (heruntergekocht unterreichtstaugliche Produktionsregeln) ohne in kürzester Zeit Anderen zur fremdbestimmten Verpflichtung werden; eine Tatsache, die Neue Musik in kaum zu überschätzender Weise prägt.

Aber es sind nicht die Regelsysteme, die musikalische Praxis begründen, sondern musikalische Praxis begründet Regelsysteme ohne sich je in diesen zu erschöpfen. In jenem von symbolischen Welten geprägten Denken wird nach wie vor Komplexität mit Sinnhaftigkeit verwechselt. Im Zeitalter digitaler Datenverarbeitung und den sich daraus ergebenden technischen Möglichkeiten aber können, um ein Beispiel zu nennen, Bachs Fugen kaum mehr als hochkomplex im mathematischen Sinne gelten.

Das mathematische Modell zweier sich mischender Flüssigkeiten, das ist komplex und so betrachtet wäre jede Vereinigung von Milch und Kaffee zum kleinen Braunen um Vieles ausdrucksreicher als das Gesamtwerk des barocken Meisters. Eine Feststellung, die sich aus den jeweilig wahrnehmbaren Klangbildern wiederum kaum belegen ließe.

Stets im Rahmen

Die Musik, die heute klassisch genannt wird, war in ihrer Zeit nicht der individuell gewählte Spielort, sondern Horizont allen musikalischen Tuns und so waren die Gesetze und Medien klassischer Musik die Gesetze der Wirklichkeit, die Weltenden aller Möglichkeiten und keinesfalls optional gesetzte Spielregeln. Heutzutage ist dies im Hinblick auf Musikpraxis in diesem Umfeld nicht mehr der Fall, denn die verbliebenen musikalischen Stilbeschreibungen sind bloße Außenansichten auf diese Welten von einst. Vieles von dem, was als Horizont-Erweiterung begonnen hat, ist zu quasi-folkloristischem Brauchtum verkommen, dessen Begründung in der Pflege eben diesen Brauchtums selbst gesehen werden muss.

Als Beispiel dafür sei die Rolle der erweiterten Spieltechniken genannt. Was dereinst auf der Suche nach neuen Klängen gefunden wurde, ist heute in medientechnischer Hinsicht oft nicht notwendig, als Zeichen der Zugehörigkeit aber unerlässlich. „Die Möglichkeiten der Flöte ausloten“, „die Grenzen immer wieder und neu in Frage stellen“; warum freut man sich denn nicht einfach an der Flöte? Und wenn man die Grenzen der Flöte nicht so gerne um sich sieht, lege man das Rohr doch zur Seite.

Aber ohne ordentliche Instrumente gibt es keine Neue Musik, für die die Konzepte ‘Handwerklichkeit’ und ‘Virtuosität’ von so zentraler Bedeutung sind. Wobei sich gerade der Begriff der Handwerklichkeit bei näherer Betrachtung als bloße Immunisierungsstrategie für implizit vorausgesetzte Grundregeln entpuppt. Und ohne ordentliche Instrumente wiederum griffen jene Virtuosen, in deren romantischen Windschatten man sich bewegt, ja schlichtweg ins Leere.

Neue Musik, in ihrer freudigen Erbenschaft der abendländischen Musiktradition übersieht, dass die Instrumentarien und Techniken mit denen, wie auch die Ensembles und Konzerthäuser in denen sie arbeitet, kontingent und nicht bloß hinzunehmende Voraussetzungen sind. In Folge dessen konzentriert sie sich auf einen immer virtuoseren Umgang mit definierten Produktionsmitteln in einer de facto als endlich gedachten Welt.

Kommando-Codes

Musik als Medium zur (Selbst-) Synchronisation von Menschen zum Zwecke von Tanz, Gleich- oder auch Wechselschritt ist in der Geschichte der Kunstmusik nach 1945 nicht gut angeschrieben. Synchronisation von Menschen zum Zwecke der Produktion nicht synchronisierender Musik wird aber durchaus akzeptiert und ist eine Bedingung für die Möglichkeit dessen, was Neue Musik dieser Tage ist. Denn mit der Partitur kommt auch der Ton, in dem die meisten Werke Neuer Musik verfasst sind, nämlich der rüde Befehlston.

Die Partitur enthält Kommando-Codes, die von bezahlten Spezialisten auszuführen sind und die in ihrer Gesamtheit nur dem General, dem Dirigenten zur Verfügung stehen. Alle anderen Musiker werden mehr als Oszillatoren, als Klanggeber denn als Künstler behandelt. Sie haben sich fraglos einzuordnen und zum vorgeschriebenen Zeitpunkt den vorgeschriebenen Klang zu produzieren.

OrchestermusikerInnen haben sich – im Austausch gegen Geld – in diesen Zusammenhängen ausschließlich fremdbestimmen zu lassen. Ihre Noten – gleich einem Fließband – schreiben ihnen Bewegungssequenzen zur Produktion von Klang vor.

Dies ist bei klassischer Musik wohl ähnlich. Auch dort haben OrchestermusikerInnen das auszuführen, was in ihren Stimmen steht; exakt und ‘textgetreu’. Die MusikerInnen wissen dabei aber stets, wie sich ihre Stimmen in einer etablierten Sprache in das Ganze der Komposition fügen und können so viel eher als Individuen in einer Gruppe musizieren, denn lediglich als Schallquelle zu funktionieren.

In gewisser Weise tauscht Partitur-gestützte Neue Musik Fördergeld gegen Macht über Musiker in deren gesellschaftlichem Kontext des Konzerthauses und kann sich bei dieser Gelegenheit auch gleich dessen Abonnentenpublikum ausleihen. Nachdem dies zum größten Teil vom Staat finanziert wird, tritt der Komponist oder die Komponistin folglich als untergeordnete Verwaltungseinheit zur Symbolisation von Staatsmacht auf. So sind ordentliche Befehlsstrukturen neben dem gesellschaftlichen Ort ein zentrales Moment, das die sich Neue Musik für ihren Widerstandskitsch von der musikalischen Großkunst vergangener Tage ausborgt.

Der Lautsprecher

Neue Musik ist im Normalfall partiturgebundene Musik für das Instrumentarium des (spät-)romantischen Symphonieorchesters.

Sie ist somit medientechnisch rückwärtskompatibel mit den seit dem 19. Jahrhundert in Europa etablierten Institutionen der Symphonieorchester, dem Musikmarkt vor der Erfindung des Tonträgers und folglich auch 100% Mozartsaal-kompatibel.

Und das, wie oben gezeigt, muss sie auch sein. Sie ist also jene Musikrichtung, der die medientechnischen Veränderungen der letzten sechzig Jahre noch am wenigsten anzusehen und anzuhören sind. Dies ist umso erstaunlicher, als viele der elektronischen Techniken ursprünglich im Bereich der musikalischen Avantgarden entwickelt wurden.

Bei den großen Festivals kommen wohl immer wieder Werke mit Live-Elektronik vor, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen – mit einzelnen Erweiterungen z.B. im Schlagwerk – aber unverändert die Instrumente des europäischen Symphonieorchesters.

Der Lautsprecher und all seine zugehörigen medialen Techniken wie Tonaufzeichnung, -bearbeitung und -übertragung werden dabei als Erweiterungen des kanonischen, klassischen Instrumentariums angesehen. Dass sich durch den Lautsprecher, durch die Medialisierung von Klang und Musik, deren Produktions- und Rezeptionsweisen ganz grundsätzlich verändert haben, wird kaum wahrgenommen.

Diese Medialisierung, die selbst stetiger und dynamischer Veränderung unterworfen ist, ändert aber nicht nur die Rollen, die das traditionelle Instrumentarium in Konzertsituationen einnehmen kann, sondern sie ändert vielmehr das, was musikalischer Alltag ist, wie Musik gemacht, erlernt, gedacht, gebraucht und erlebt wird. Sie ändert also das, was Musik ist.

Neue Musik und ihr Anderes

Neue Musik interpretiert sich als Gegenposition zu einem angenommenen Phantom, jenes einer vollkommen unkritischen, nur an Geldgewinn interessierten, manipulativen, sich selbst wiederholenden Popularmusik, wobei diese selbst entworfene Karikatur Wirklichkeit substituiert. Denn alle Formen zeitgenössischer Musik außerhalb des Konzertsaals und der entsprechenden Instrumentalensembles sind schon einzig und allein dadurch nicht unter das Label Neue Musik subsumierbar, unabhängig davon, wie sie eigentlich klingen.

Es ist die mediale und soziale Rückwärtskompatibilität, die das eigentliche Unterscheidungsmerkmal ausmacht. Kontinentaleuropäische Neue Musik ist auch eine Gegenbewegung zu dem, was als Kolonialisierung des musikalischen Alltags durch Musikformen aus dem englischsprachigen Raum empfunden wird. Nachdem diese aber die breite Basis dessen darstellen, was musikalische Volkskultur heute ausmacht, ist Dialog, gar gegenseitige Befruchtung von Kunst- und Alltagsmusik, Klangumgebung und Konzertsaal nicht mehr möglich.

Das (ebenfalls negativ definierte) Gegenüber Neuer Musik scheint noch immer geprägt durch Operette und andere, leichte Formen klassischer Musikpraxis, also etwas, das gegenwärtig kaum mehr eine Rolle spielt. So ist es denn für den Kompositionsprofessor oder die Professorin bei guter Laune durchaus eine kleine Fingerübung wert, einen hübschen Walzer zu schreiben oder eine Petitesse von Debussy oder Prokofiev zu orchestrieren; ein Pop-Song, gar ein erfolgreicher, müsste dagegen doch als etwas proletarisch gelten.

Der Bezug zur hörbaren Wirklichkeit

Vieles von dem, was in Konzerten Neuer Musik (auch jener sehr junger KollegInnen) zu hören ist, erinnert an Wettbewerbe hochexpressiver Lyrik in Volapük oder Klingonisch, was anfangs vielleicht charmant wirken kann; gerade in diesem Mangel an Bezügen zur sonst hörend erlebten Wirklichkeit. Bis man sich genötigt sieht, einzusehen, dass vielen der Beteiligten die Klammer ‘Volapük’ dabei völlig verborgen bleibt.

Während also alle Beteiligten immer und angestrengt die Pose ‘furchtlos und entschlossen in die Zukunft blickend’ einnehmen, gilt als ausgemacht, dass dieser Weg in die Zukunft nur in Bezug auf Alltagsmusik, mediale Techniken und Konzertsituationen aus lang vergangenen Zeiten geschehen kann und darf.

Neue Musik beharrt so in ihren, sich bemüht zeitgenössisch gebenden, streng standardisierten Modellen von Transgression und Widerständigkeit ehern auf Grundgesetze wie Rhythmusverbot, Tonalitätsverbot, Partitur- und Konzerthausgebot, während sie sich an jene Reste von Ewigkeit klammert, die sie im gegenwärtigen klassischen Betrieb noch zu finden meint.

Neue Musik, mit ihren starren Hierarchien und genau definierten Möglichkeitsräumen hat viel von dem, was Glaubensgemeinschaften anhaftet, nämlich den Willen, ihren Alltag von Regeln bestimmen zu lassen, deren Herkunft es nicht zu hinterfragen gilt. Denn diese Regeln mögen vielleicht einengen, aber gerade in dieser Einengung ergibt sich auch ein Mehr an Sicherheit und ‘in Andenken an’ sowie ‘in Nachfolge von’ erwächst daraus das erhebende Gefühl von Überlegenheit.

Während die ursprünglichen Motivationen im Nebel des Gründungsmythos versinken, bleiben aussedimentierte Regeln zurück, die als dermaßen unverzichtbar angesehen werden, dass sie, mit all ihrer Wirkungsmacht, in der Praxis unsichtbar werden. Und so scheint denn auch das eigentliche und ursprüngliche Opus magnum der gegenwärtigen Neuen Musik, dessen Spitzen in Form von Orchester- und Ensemblestücken in diese Wirklichkeit ragen, etwas zu sein, was immer schon eine der hehren Aufgaben europäischer Glaubensgemeinschaften im Belagerungszustand war, nämlich die Verteidigung des Abendlands.

Von Volkmar Klien