Versuch einer Charakterisierung des Komponisten Ferrucio Busoni anhand einiger Passagen aus seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst

busoni3Der Reformator ist […] undiplomatisch, und es ist ganz folgerichtig, daß seine Änderungen erst dann Gültigkeit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche Weise eingeholt hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit gleichen Schritt ging, indessen die übrigen zurückbleiben. […] Ich glaube, daß die Dur- und Moll-Tonart und ihr Transpositionsverhältnis, daß das ,Zwölfhalbtonsystem’ einen solchen Fall von Zurückgebliebenheit darstellen.1

Diese Aussage stammt aus dem 1906 veröffentlichten Werk Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst des italienischen Komponisten, Pianisten und Musiktheoretikers Ferruccio Busoni (1866-1924). Das Werk wurde in einer Zeit veröffentlicht, in der mehrere Komponisten sich entschieden, die Dur-Moll-Tonalität hinter sich zu lassen: 1907 schrieb Alexander Skrjabin seine 5. Klaviersonate, die trotz der angegebenen Tonart Fis-Dur heute als Beginn seiner atonalen Periode gilt, 1909 veröffentlichte Arnold Schönberg seine 3 kleinen Klavierstücke op.11, die ersten Werke, die (ursprünglich abwertend) als atonal bezeichnet wurden. Busoni jedoch ist in dieser Aussage noch radikaler: Er erklärt nicht nur die Dur-Moll-Tonalität, sondern auch die Einteilung der Oktave in zwölf Halbtöne für nicht mehr zeitgemäß.

Der Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, den Busoni als „Ergebnis langer und langsam gereifter Überzeugungen“2 bezeichnet, ist kein systematisch geordnetes Werk sondern vielmehr eine lose Aneinanderreihung von Gedanken über Musik und Ästhetik. Trotzdem sind die Gedanken leicht nachvollziehbar, und auch ihre Abfolge erscheint beim Lesen durchaus sinnvoll.
Immer wieder treten die Begriffe der ewigen Harmonie und reine Musik auf. Darunter versteht  Busoni eine Musik, die nicht von einer Harmonielehre, oder von strengen Formen, ja nicht einmal von den begrenzten Möglichkeiten der Instrumente bestimmt ist. Das Erreichen derselben stellt für Busoni das höchste, jedoch kaum zu erreichende Ideal dar. Seines Erachtens sind Bach und Beethoven dieser Musik am nächsten gekommen, jedoch beide vor allem dann, wo sie „glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer Acht lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen.“3 Beethoven gelang dies seiner Meinung nach am besten in den Einleitungen zu Sonatensätzen, Bach in seinen Präludien und Fantasien.

Der Begriff ewige Harmonie taucht auch an jener Stelle auf, wo sich Busoni zur Dur-Moll-Tonalität bzw. zum zwölftönigen Tonsystem äußert. Dieses sei „ein [sic!] ingeniöser4 Behelf, etwas von jener ewigen Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche Taschenausgabe jenes enzyklopädischen Werkes; künstliches Licht anstatt Sonne.“5
Die Harmonielehre empfindet er als „gewaltsam beschränktes System“, die die gesamte Musik auf zwei Tonfolgen reduziert: Dur und Moll.
Doch sogar Dur und Moll empfindet er als „doppeldeutiges Ganzes“, da der Übergang zwischen den beiden Tongeschlechtern unmerklich und mühelos möglich sei. Somit seien Dur und Moll „eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.“6 Busoni schlägt einige Möglichkeiten für neue Skalen vor7, und gibt an, dass er 113 verschiedene Möglichkeiten von Skalen innerhalb der Oktave C-C gefunden habe, die man außerdem noch transponieren und miteinander mischen könne.
Die Idee, ganz auf Skalen zu verzichten, und die Töne nur aufeinander zu beziehen, taucht nicht einmal in Ansätzen auf. Stattdessen schreibt Busoni, dass der nächste Schritt (nach dem Ausreizen der Möglichkeiten der 113 möglichen Skalen) in Richtung der ewigen Harmonie das Aufgeben des Zwölfhalbtonsystems und die Einführung einer Dritteltonskala sei. Diese würde jedoch auf der Ganztonskala basieren und jene Intervalle, die in dieser nicht vorhanden sind, von vornherein ausschließen (wie etwa die kleine Terz und die reine Quint). Um diese Intervalle beizubehalten müsse man also dieser in Dritteltöne unterteilten Ganztonskala eine zweite, um einen Halbton transponierte, hinzufügen. Somit entstehe ein Sechsteltonsystem, dessen Einführung nur noch eine Frage der Zeit sei.
Da dieses System auf dem Großteil der gebräuchlichen Instrumente nicht umsetzbar ist, spricht Busoni davon, dass auch elektronische Geräte, welche genau die gewünschte Frequenz erzeugen können, Eingang in die Musik finden würden.

Interessanterweise hat Busoni selbst in seinen Werken weder elektronische Mittel noch Mikrointervalle verwendet, im Gegenteil: Ein Großteil seines Œvres besteht aus Werken für Klavier bzw. für Besetzungen mit Klavier, worauf Sechsteltöne nicht möglich wären. Da sich Busoni im Entwurf einer neuen Ästhtetik der Tonkunst auch nie zu sich selbst als Komponist äußert, ist es auf den ersten Blick schwer, Parallelen zwischen Busonis Ästhetik und seinen Werken zu finden.
Eine plausible Lösung dieses Widerspruchs ist jene, dass Busoni sich als Anfang einer neuen Tradition sah, nicht als deren Vollender. Er schreibt etwa über Wagner, dass seine Art zu komponieren (Musikdrama, Leitmotiv etc.) nicht weiter steigerungsfähig sei. „Vorerst, weil er sie zu höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte; sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, daß sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte.“8 Offenbar wollte er selbst kein solcher Komponist sein, sondern sich Aufgaben stellen, die erst von zukünftigen Generationen bewältigt werden würden. Außerdem findet sich in seinen Werken ein sehr starker Hang zur Chromatik, der in seinem Fall quasi als „Vorbereitung“ auf die verfeinerte Chromatik des Sechsteltonsystems gedeutet werden kann. (s. Nb. 2)

Seine Geringschätzung der Harmonielehre zeigt sich in seinen Werken darin, dass sie zum Großteil polyphon veranlagt sind, und sich die Harmonien hauptsächlich aus dem Zusammenklang der einzelnen Stimmen ergeben. Da Akkorde nur selten kadenziell verbunden werden, treten ihre Einzeltöne bzw. deren melodische Funktion stärker hervor (s. Notenbeispiel 1). Allerdings muss an dieser Stelle auch angemerkt werden, dass in dieser Kompositionsweise auch eine der Schwächen Busonis liegt: Die Stimmen sind nicht immer optimal ausgearbeitet, in Notenbeispiel 3 etwa wirkt eine Gegenstimme wie eine gewöhnliche Begleitung, ja beinahe wie ein Alberti-Bass, hat als solcher jedoch nicht genügend harmonische Stützfunktion. Außerdem ist der Komponist in seinem Stil nicht immer konsequent: Trotz seiner Ablehnung der Dur-Moll-Tonalität kann er sich nie ganz von dieser lösen. Neben visionären Passagen tauchen immer wieder solche auf, bei denen Busoni gewissermaßen vor den eigenen Visionen zu erschrecken scheint und sich in vertraute Klänge rettet.
Alles in Allem ist Busoni eine interessante, jedoch schwer einzuordnende Figur. Seine Musik steht an der Schwelle zwischen Romantik und Moderne, und versprüht trotz kleinerer Schwächen den Reiz des Fremdartigen. Seine Visionen, die er im Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst darlegte, haben sich nur zum Teil bewahrheitet. Elektronische Elemente haben zwar Einzug in die Musik gefunden, aber nicht primär um genau die gewünschten Tonhöhen, sondern um zusätzliche Klangfarben zu erzeugen. Mikrointervalle sind in der Musik bis heute nur Ausnahmeerscheinungen. Somit ist das Werk vor allem ein interessantes Zeugnis einer Zeit, in der es sowohl in der Welt, als auch in der Musik zu Umbrüchen kam. Auch wenn Busoni nicht immer die richtigen Schlüsse zog, und einige seiner Ansichten diskutabel sind, zeigt der Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst wie stark Anfang des 20. Jahrhunderts das Bedürfnis nach Neuerungen in der Musik war. Neuerungen, von denen die revolutionärsten und einflussreichsten jedoch von anderen Komponisten gebracht wurden.

Von Mathias Schmidhammer

 

Notenbeispiel 1

Notenbeispiel 1

 

Notenbeispiel 2

Notenbeispiel 2

 

Fußnoten:

1 Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst; Wiesbaden: Im Insel Verlag 1954; S. 38.
2 Ebd. S. 9
3 Ebd. S. 14
4 Ital. „ingenuo”: kindlich, naiv
5 Ebd.; S. 35.
6 Ebd. S. 37
7 Zum Beispiel: c des es fes g a h c oder c des es fis gis a b c
8 Ebd; S. 15f.