Vor fünfzig Jahren etwa, es war in einem Sommer mit viel Regen, wurde ich vor die Aufgabe gestellt, ein Cembalo zu stimmen: ich habe versucht, das mit meiner Vorstellung von Halbtonabständen zu lösen. Das Ergebnis war verstörend. Irgendjemand meinte, mit Quinten ginge das besser, also versuchte ich es mit Quinten. Das Ergebnis war eine ungleichmäßige Temperatur, die zu nichts zu gebrauchen war als zu einem dadurch in Gang gesetzten schmerzlichen Lernprozeß.
Dieser Prozeß dauert an. Etliche Menschen vom Fach haben mir ihre Meinung gesagt und Temperaturen nicht nur empfohlen, sondern sogar verlangt; etliche unter ihnen vertraten eine durch nichts zu erschütternde Auffassung zu den von ihnen verfochtenen Lösungen; wieder andere erfanden neue Temperaturen, die angeblich die einzig wahren für bestimmte Musik seien usw. usw.
Wie nähern wir uns diesem heiklen Kapitel der musikalischen Praxis ohne elektronische Meßgeräte, mathematische Tabellen, Zahlenkolonnen etc. und ohne in Dogmatik zu verfallen?
Wir verfügen in der tonalen Musik in der Regel über eine zwölfstufige Skala, die unter anderem von zwölf aufeinanderfolgenden Quinten gebildet werden kann.
Der Ausgangspunkt: eine Reihe von 12 natürlichen (reinen) Quinten kommt nach dem Durchlaufen des zwölfstufigen Kreises nicht bei ihrem Ausgangspunkt an. Die Differenz muß ausgeglichen werden. Das nennt man eine Temperatur.
Temperiert werden muß also immer, und wir können feststellen, daß zu allen uns bekannten Zeiten seit der Erfindung mehrstimmiger Musik das Problem Akkord-Linie die entscheidende Herausforderung gewesen ist, oder genauer: das Problem Instrument mit nicht veränderbarer Temperatur – Stimme oder Instrument mit variabler Intonation.
Weiter können wir feststellen, daß jede Stimme und jedes sogenannte Melodieinstrument, ja sogar jedes Tasteninstrument mit dynamischer Flexibilität aus Ausdrucksgründen Intervalle unterschiedlich intoniert. Grundlage dafür ist eine nicht greifbare und beschreibbare musikalische Empfindung, was immer man auch unter diesem Passus verstehen mag – aber es gibt sie und sie ist gegen Argumente immun wie jedes Gefühl. Das unseren Vorfahren abzusprechen, ist Verachtung des Humanum.
Viele Temperaturen hatten aus diesen Gründen und aus Gründen der musikalischen Sprache, die im harmonischen Bereich bis zu Bach immer komplexer wurde, nur eine begrenzte Gültigkeit und zu allen Zeiten gab es Verbesserungsvorschläge (ich erinnere an Schlick) und Musik, die neue Instrumente benötigte (Cembalo cromatico), damit die Vorstellungen der Komponisten umgesetzt werden konnten und umgekehrt.
Die vielen einzelnen Probleme der individuellen Tonhöhenempfindung im Akkordzusammenhang und in der Melodie lasse ich beiseite wie auch die individuellen Probleme von Saiteninstrumenten (Material, Spannung, Steifigkeit, Mensur etc.), behaupte auch nicht, daß sie zu vernachlässigen seien, aber wir sollten uns auf das eigentliche Problem konzentrieren: Wohltemperirt.
Dieses Wort taucht bei Bach als Titel auf: Das Wohltemperirte Clavier, eine Sammlung von 24 Praeludien und Fugen in allen Dur- und Moll-Tonarten. Bis heute noch verstehen die meisten Musiker unter Wohltemperirt eine gleichschwebende Temperatur. Es gibt keine gleichschwebende Temperatur. Schwebungen zwischen Intervallen sind immer Frequenzunterschiede und es gibt bei einer Temperatur nicht zwei gleiche Frequenzen. Gleichmäßige Temperaturen sind also immer relativ gleichmäßig, relativ zu ihrem Ausgangspunkt.
Die Beziehungen der Töne zueinander haben als feste Größe nur den Rahmen, der durch die Oktav gebildet wird, die wir im Verhältnis 1:2 hören wollen (die Untersuchung der Gründe dafür würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen). Die variablen Größen (Schwebungen) werden größer bei steigender Frequenz: je weiter wir in den Diskant kommen, desto störender werden verkleinerte oder vergrößerte Intervalle, die im Baß noch brauchbar klingen.
Bach selbst soll zu dem Temperaturproblem geäußert haben, alle Terzen sollten etwas scharf gemacht werden. Welche Terzen wie scharf? Alle gleich? Individuell verschieden? Wie ist er vorgegangen?
Die Verzierungen auf dem Titelblatt des Wohltemperirten Claviers haben schon länger Verdacht erregt: es scheint eine Systematik dahinter zu stecken, und der Tonbuchstabe C unter einem der Kringel gab schon länger Anlaß, hinter diesen Zeichen eine Anweisung für eine Temperatur zu vermuten. Wir bestaunen heute, welche Unmengen Papier schon beschrieben worden sind, um die eine oder andere Deutung zu beweisen oder zu widerlegen.
Wenn es auch in der aktuellen Diskussion nicht mehr um das Ist das eine Temperatur? sondern um das Wie lese ich diese Temperatur? geht, scheint ein entscheidender Ausgangspunkt hartnäckig nicht vorzukommen: Die Musik in Das Wohltemperirte Clavier.
Praeludium C-Dur
Die erste Terz ist e‘, die zweite e‘‘, dazwischen g‘ und c‘‘. Probieren wir doch einmal! Die nächsten Töne: d‘ und a‘, dann f‘‘, alles Töne, die über die ersten 4 Quinten (die durch e‘ und e‘‘ ohnehin schon festliegen) im Zirkel nach rechts (zur Dominantseite) bereits umschrieben sind, erweitert um die erste Quinte zur Subdominante.
Lesen wir das Praeludium bis zum Ende durch, erschließen sich uns die wesentlichen Terzen der C-Dur-Skala, von denen wir die enharmonisch lesbaren Terzen ableiten können/müssen. Wir erkennen: Grundlage des Systems ist C, nicht a. Die Temperatur nimmt ihren Ausgangspunkt von c‘, der Mitte des Systems, und erschließt sämtliche Töne der 12-stufigen Skala.
Die Fuge zeigt mit ihren thematischen Einsätzen die wesentlichen 7 Ausgangstöne in diesem System, die diatonische Leiter – alle anderen Ausgangstöne sind abgeleitet: Cis ist hochalteriertes C, und es spielt keine Rolle, ob die Stücke in Frühfassung aus C gingen. Moll ist dissonantes Dur, instabil und auflösungsbedürftig. Quaerendo invenietis – suchet, so werdet ihr finden, schreibt der alte Bach im Musicalischen Opfer Friedrich dem Großen ins Stammbuch.
Noch einmal zurück: Die Wahl der Tonarten im Fortschreiten des Wohltemperirten Claviers zeigt einen Weg (den jeder nachvollziehen kann), der zur Verschärfung in Richtung Obermediante führt, als der Tonart, die am weitesten im C-Kontext von der Basis entfernt ist, E-Dur.
Diesen Weg beschreitet selbst Beethoven noch in der Sonate op.53. Er ging allerdings von Kirnbergers 3. Temperatur aus (reines C-Dur, pythagoreisches E-Dur); und umgekehrt beschreitet er diesen Weg in der Sonate op.109, wo die Untermediante C-Dur die größte Kraftentfaltung (ff) verlangt – er scheint die Musik aus Bachs Wohltemperirtem Clavier gelernt zu haben.
Zurück zu unserem Ausgangspunkt, etwas verschärft formuliert: Nicht Zahlen, Tabellen, ominöse Cent-Werte oder -Berechnungen (bis ins viertausendste Glied) erhellen eine Temperatur, sondern die Kenntnis der Musik – in diesem Falle des Wohltemperirten Claviers – der diese Temperatur dienen soll. Wir gewinnen aus direkter Praxis eine Vorstellung davon, wie Bach mit Hilfe einiger Kringel sein Denken für diejenigen systematisiert hat, die nicht in der Lage sind, dieses System („alle Terzen etwas scharf“) aus der Musik zu verstehen.
Wohl-temperirt heißt brauchbar-temperirt für die jeweilige Aufgabe. Und wir lernen (schmerzlich?), daß unsere elektronischen Methoden das eigentliche Problem ins Innere der Maschine verlegen, im Rechner verstecken, und daß sie ungeeignet sind, den Verstand und das Ohr zu ersetzen, daß unsere gelehrten Diskussionen die Rechnung ohne den Wirt machen.
Das hat doch etwas ungemein Tröstliches: das eigene Ohr, das eigene Verständnis, das eigene Gefühl für Musik entscheiden in letzter Instanz.
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