Historische Aufführungspraxis – von einigen belächelt, von vielen missverstanden und gar verkannt, ist es für eine Gruppe interessierter, belesener Musiker und ihr Publikum eine spannende Möglichkeit nicht nur den Klang bzw. das Wesen einer Epoche zu erforschen und somit zu erleben. Es ist darüber hinaus auch ein großes Feld für Innovationen. Gefühlvoll differenzierte Nuancen, affektgeladenes Spiel, das besondere Erleben von Ästhetik und Klangvorstellung einer vergangenen Epoche stehen genauso im Mittelpunkt wie das ausgiebige Lernen aus historischen Texten.
Wie hat man damals gedacht? Wo verstecken sich noch mehr Gründe um Alte Musik zu genießen? Worin liegt das Geheimnis? Wie mag es damals gewesen sein?
Dies sind alles Fragen, die denjenigen beschäftigen sollten, der sich mit jener Musik des 16., 17. und 18. Jahrhunderts intensiver auseinandersetzen möchte. Auf gar keinen Fall aber ist historische Aufführungspraxis eine eingestaubte Wissenschaft, die sich nur mit musealen Instrumenten und korrektem Spiel nach Quellen befasst. Die Wiedergabe Alter Musik kommt erst dann dem Werk entgegen, „wenn sich Wissen und Verantwortungsbewusstsein mit tiefstem musikalischen Empfinden vereinen“1.
Um also der Musik und ihrer Intensität, aber auch ihren intellektuellen Ebenen, besonderen Strukturen oder Ideen auf den Grund zu gehen, ist die Wahl des Instruments und der Stimmung ein wichtiger, meiner Meinung nach unablässiger Bestandteil der Entwicklung eines historischen Werkes.
In vielen Fällen hat die Temperierung eines Instruments, speziell eines Tasteninstruments, in den Kompositionsprozess hinein gewirkt und ist somit stark mit ihr verbunden. Im folgenden Artikel möchte ich deshalb sowohl von im Projekt verwendeten Instrumenten als auch von den dafür gewählten Temperierungen und den eingespielten Werken sprechen.

Sämtliche Stücke wurden im Mozarteum Salzburg, Abteilung für Alte Musik, auf zwei zur Verfügung gestellten Instrumenten eingespielt. Die Tonaufnahmen machten die beiden Tonmeister-Studenten (Wien) Sebastian Vötterl und Alexander Fischerauer. Eingespielt wurden sie von Constantin Stimmer.

Projekt Nummer 1

italiener1Das Instrument

Meine erste Arbeit befasst sich mit dem frühen Barock (Anfang des 17. Jahrhunderts), genauer gesagt mit der Musik für Tasteninstrumente aus zwei herausragenden Perioden dieser Entwicklung, der englischen Virginalmusik des späten 16. Jahrhunderts, hier vertreten durch den Komponisten John Munday, und der Musik des niederländischen Meisters Jan Pieterszoon Sweelinck.
Um dem Klang dieser Zeit gerecht zu werden, habe ich ein Cembalo nach italienischem Vorbild gewählt. Die Bauweise ist sehr zart, der Korpus klein und kompakt. Es hat eine für italienische Instrumente typische Disposition von zwei recht charaktervollen, kräftig klingenden, aber im Timbreknac unterschiedlichen 8´- Registern. Das Instrument ist doppelchörig (zwei Saiten pro Ton). Der recht kleine Tastaturumfang von 4 1/2 Oktaven ist ebenfalls stiltypisch. Besonderheit ist die Kurze Oktav im Bass. Dabei sind die tiefsten Tasten E, Fis und Gis auf die häufiger verwendeten Basstöne C, D und E umgestimmt. Die Klangcharakteristik dieses Instruments, bedingt durch eine knackige Bekielung2, aber direktes und sensibles Toucher, könnte man so beschreiben: silberner, manchmal nasaler Diskant, kräftige, gut artikulierbare Mitten und kerniger, schlanker, zugleich präsenter Bass.
Die Stimmtonhöhe liegt bei 415 Hz (a´).

italiener2

Die Stimmung

Aus dem zeitlichen Kontext heraus habe ich mich nun für eine mitteltönige Temperierung entschieden. Eine solche war von Beginn des 16. bis weit in das 17. Jahrhundert hinein bei Orgel- und Cembalo-Typen gebräuchlich. Auch bekannt unter dem Namen Praetorianische Temperatur versteht man primär eine Temperatur mit reinen, großen Terzen. Alle resultierenden Quinten sind verkleinert (sind somit nicht rein). Besonderheit der Mitteltönigkeit ist, dass unbrauchbare Intervalle entstehen.
Als Wolfsquinte bezeichnet, ist gis-es (eigentlich eine Sext!) vollkommen unbrauchbar. Auch das Spielen in Tonarten mit mehr als zwei Vorzeichen wird somit problematisch.3
Hervorzuheben sind nun aber die so entstehenden, unglaublich charakterstarken, nie identischen Halbtonschritte.
Es wechseln sich zu weite mit zu engen Halbtönen ab. Der so entstehende Unterschied in den Färbungen der Intervalle bestimmt zu einem großen Teil die Lebendigkeit und die Spannung eines gespielten Stückes mit.

Die Stücke

Noch ein paar Worte zu den von mir auf diesem italienischen Instrument (Erbauer ist Reinhard von Nagel aus Paris) gespielten Werken:
Toccata 5 toni ist von Jan Pieterszoon Sweelinck. In C (Modus) stehend, repräsentiert diese kleine, sensible, aber trotzdem frische Toccata die kompositorische Größe ihres Schöpfers. Hier sind akkordische Passagen und beinahe lyrische Momente kombiniert mit polyphonem Imitationssatz (ganz im Sinne der franko-flämischen Vokalpolyphonie), virtuos inszeniert durch Läufe jeglichen Gestus und jeglicher Gestalt.
J.P. Sweelinck, 1562 in Deventer geboren und 1621 in Amsterdam gestorben, fand sich in eine lange Reihe von niederländischen Meistern, Komponisten und Virtuosen ein. Sein umfangreiches Werk für Tasteninstrumente (speziell die Orgel) umfasst Toccaten, Fantasien, Lied- und Tanzvariationen (darunter auch das damals überall bekannte, viel zitierte und beinahe vom Bekanntheitsgrad schlagerliedhafte Flow my tears von John Dowland) und Psalm-/Choralvariationen. Die letzteren Werke sind von großer Bedeutung für spätere Entwicklungen jener zentralen, geistlichen Gattung von Orgelmusik (Buxtehude, Bach etc.).
J.P. Sweelinck wird auch häufig als deutscher Organistenmacher bezeichnet. Viele Musiker/Organisten kamen zu ihm, um sein virtuoses Spiel zu hören oder bei ihm Schüler/Student zu sein. Zu seinen berühmtesten Schülern zählen z.B. Samuel Scheidt, Heinrich Scheidemann und Jacob Praetorius.

Fantasia – Faire Wether von John Munday ist ein lebhaftes, abwechslungsreiches Stück mit nahezu programmatischem4 Inhalt. Entnommen aus dem Fitzwilliam Virginal Book steht diese Fantasia in diesem Projekt beispielhaft für die englische Virginalistenkunst. Über den Komponisten John Munday (1550/54-1630) ist wenig bekannt zumal er auch im Schatten der großen Zeitgenossen wie Dowland, Byrd, Bull oder Gibbons steht. Sein Werk umfasst hauptsächlich Vokalmusik. Im Fitzwilliam Virginal Book ist er mit wenigen Stücken vertreten.
Das Stück selbst zeichnet sich durch die mit Überschriften gekennzeichneten Abschnitte aus. „Faire Wether, Lightning, Thunder, Calme Wether, A cleare Day“ erzählen den Verlauf eines Unwetters, welches musikalisch, rhythmisch, aber auch affektiv bzw. rhetorisch den Weg in die Komposition gefunden hat.

Die Stimmung und das Stück

J.P. Sweelinck: Toccata 5 toni
sweelinkViele Passagen und Läufe habe ich mit historischen Fingersätzen/Applikaturen gespielt. Solche sind durch die Sweelinck-Schule überliefert, können aber auch bei Traktaten anderer Meister wie Orlando Gibbons (Virginalistenkunst) gefunden und hier klug eingesetzt werden.
Überschlag-Fingersätze wie 4-3-4-3-4 (r.H) oder 2-1-2-1-2 (l.H.) sind nur Beispiele dafür. Reichhaltiges und gezieltes Ausartikulieren lässt Interessantes hervortreten und fördert die Lebendigkeit des Spiels.
Eine Vielschichtigkeit im Material und in den Ideen zeigt sich im Wechsel von Imitationen, exponierten Läufen und akkordisch-dreistimmigen bis vierstimmigen Passagen. Hier kommt nun die mitteltönige Temperatur zum Tragen. Das A-Dur und E-Dur (fast plötzlich eintretende Zäsurbildungen der Strukturen, Grundmodus ist Ionisch5) strahlen durch Reinheit der Terzen und der damit verbundenen Schärfe heraus.
Zwischen linker und rechter Hand alternierende, rhythmische Figuren prägen das Satzbild. Läufe gewinnen an Leuchtkraft durch die Unterschiedlichkeit der Intervallverhältnisse. Diese Toccata ist sicherlich auch auf einer mitteltönigen Orgel mit charaktervollen Prinzipal-Registern erklungen. So könnte man die schneidende Reinheit der mitteltönigen Terz-Intervalle sicherlich noch intensiver auskosten, da die Orgel ja ein tonstarres6 Instrument ist.

John Munday: Fantasia
Hier lebt das Unwetter in vielen Schichten. Artikulation ist hier das Differenzieren der Kontraste. Munday macht es dem Cembalisten durchaus leichter, in dem jeder Abschnitt eine Überschrift besitzt, welche Gestus und Gestalt der Passage vorweg nimmt. Blitze (Lightning) komponiert er mit schroffen Stimmeneinsätzen, raschen Läufen in kleinen Notenwerten.
Unterschiedliche Diminuitionen und Strukturen bilden die Phasen des Unwetters beinahe graphisch ab. Entspannung nach Donner oder Blitz manifestiert sich in gedehnten Notenwerten, polyphonen (aber akkordisch gedachten) Abschnitten.

Das offensichtliche Spiel mit Dissonanzen kann nun mit der mitteltönigen Temperatur noch anschaulicher und hörbarer gemacht werden. Querstände von c und cis oder Tritoni sind keine Seltenheit und mit Sicherheit gewollt. Leitton-ähnliche Auflösungen haben mehr Intensität durch unterschiedliche Halbtöne; die Harmonik wird plastisch.
Auch in diesem Stück sind historische Fingersätze maßgeblich für eine transparente Artikulation. Sie machen das innewohnende Spektrum an Rhythmik, Struktur und Farbe zu einem Erlebnis für Spieler und Hörer.
Eine differenzierte Agogik spielt ebenfalls eine große Rolle bei der Gestaltung von Phrasen oder Passagen. Wechsel von Tempi und Metren trennen hilfreich die Entwicklungsschritte des Gewitters von John Munday.

Projekt Nummer 2

mietkeDas Instrument
Das Instrument für die zweite Aufnahme ist norddeutschen Typus. Die historischen Vorbilder sind Cembali aus der Werkstatt Michael Mietkes, Anfang des 18. Jahrhunderts. Das Instrument ist vollkommen mit Messing besaitet, verfügt über eine 8´- 4´- 8´- Registerdisposition, verteilt auf zwei Manuale. Das bedeutet, dass das untere Manual (Tastatur) über zwei Register und das obere über ein Register verfügt. Bei Bedarf lassen sich beide Manuale zusammenkoppeln, was mehr Lautstärke und kräftigeren Ton bringt. Ein Lautenzug ist ebenfalls eingebaut.
Erst kürzlich fertiggestellt von Christoph Kern (Stauffen im Breisgau) hat die optische Ästhetik des Instruments ein Äquivalent im besonderen Klang. Charakteristika deutscher Cembali der oben genannten Periode, besonders der von Mietke, verbinden den straffen, sonoren Klang italienischer Instrumente mit dem zarten, sanglichen Timbre französischer Clavecins. Interessantes Merkmal des benutzten Instruments ist eine Transponiervorrichtung. Dabei kann man die gesamte Tastatur (ausgehend von einer mittigen Position = 415Hz) um einen Halbton nach unten (nach links) oder einen Halbton nach oben (nach rechts) verschieben. Das ermöglicht das Spielen in den Stimmtonhöhen 395 Hz (a´) (französischer Thon – 18. Jahrhundert), den 415 Hz (a´) (am gebräuchlichsten für barocke Aufführungen) und den 440 Hz eines modernen Kammertons.7 Ich habe mich hier für die gängigere Variante mit 415 Hz (a´) entschieden.

Noch eine kurze Klangbeschreibung des von mir benutzten Instruments: glockenähnliche, obertonreiche und geräuscharme Höhenlagen. Sie sind zart, liebreizend und vermögen ganz vortrefflich zu singen. Die Mitten dringen hervor, sind aber nicht penetrant, haben eher schlanken Körper und kernigen Anriss. Die Bässe sind differenziert, zum Teil subtil und zugleich saftig, zum Teil aber auch kräftig-bauchig.

Die Stimmung

Aufgrund des hier eingespielten Repertoires habe ich mich für eine der Werkmeister-Temperaturen entschieden.
Andreas Werkmeister (1645-1706) war Organist und Theoretiker. Er entwickelte eine Reihe von wohltemperierten Stimmungen, wobei die sogenannte Werkmeister-III-Temperierung (etwa von 1691) die gebräuchlichste ist. Hierbei werden die Quinten c-g, g-d, d-a und h-fis verkleinert (also enger gestimmt). Die Quinten a-e und e-h sind rein.
Das dadurch erzielte Ergebnis lässt ein angenehmes Spielen in mehr Tonarten zu als etwa in einer mitteltönigen Temperatur, wobei aber jede Tonart nun wiederum eine ganz eigene Charakteristik und Farbe besitzt.8

Das Stück

Buxtehude, Suite in g-moll, BuxWV 243
Wieder einige Sätze zu Komponist und Werk, welches ich auf diesem interessanten Instrument eingespielt habe.
Dietrich Buxtehude (1637-1707) ist der Komponist der auszugsweise in Tonaufnahme vorliegenden Suite in g-moll, BuxWV 241.

Buxtehude selbst ist als einer der großen Orgelmeister der Norddeutschen Schule bekannt (wenn nicht als der größte). Wie zuvor Sweelinck war auch D. Buxtehude Anlaufstelle für viele Organisten und Komponisten seiner Zeit. Johann Sebastian Bach machte sich sogar zu Fuß auf den Weg nach Lübeck, um den dort als Organist tätigen Dietrich Buxtehude zu treffen, zu hören und von ihm zu lernen.
D. Buxtehudes Stil, besonders der seiner Orgelwerke, beeinflusste sicherlich viele Zeitgenossen. Dieser Stil zeichnet sich durch große innere Rhetorik, Energie, Spontanität und Prägnanz aus, die meiner Meinung nach einzigartig ist. Herausragende Werke wie der Kantatenzyklus Membra Jesu Nostri oder die Virtuosen Orgelpräludien und Toccaten sind als besonders wichtige Werke zu nennen.
In den Sätze Allemande, Courante, Sarabande und Gigue vereint diese bezaubernde Suite Stilmerkmale verschiedener nationaler Stile: italienische Sprunghaftigkeit, französische Eleganz und norddeutsche Polyphonie. Die Komposition besticht durch (nach Buxtehude-Manier) Klarheit im Material. Rhythmische Motive sind konsequent geführt. Unterschiedlich komponierte Taktschwerpunkte, Verdichtungen im Satz, improvisatorisch-frische Gesten machen die Suite zu einem kleinen Spektakel an Raffinesse und rhetorischer Farbigkeit.

Die Stimmung und das Stück

Da sich u.a. auch Andreas Werkmeister unter Dietrich Buxtehudes Freunden befand, gab es sicherlich einen Austausch von Erfahrungen und Wissen. Allein dadurch ergibt sich (nach meiner Einschätzung) bereits eine Legitimierung der Wahl dieser Stimmung für das verwendete Cembalo. Was aber nicht außer Acht gelassen werden darf, ist, dass Buxtehude sicherlich die mitteltönige Stimmung im Ohr und sogar unter den Fingern hatte.
Viele Orgeln des berühmten Orgelbauers Arp Schnitger (1684-1719), wie sie z.B. in St. Ludgeri (Norden) steht, welche prädestiniert für die Musik der Norddeutschen Schule sind, sind mitteltönig temperiert. Das wiederum unterstreicht die Extravaganz des Buxtehud´schen Satzes durch die Schärfe der Intervalle.
Eine weichere Werkmeister-Stimmung hat aber in dem die Suite betreffenden Fall keine negativen Auswirkungen auf die Buxtehud´sche Musik, sondern verleiht dem Werk eine wärmere Charakteristik. Zu einem persönlichen Vergleich habe ich die Allemande aus dieser Suite jeweils auf dem mitteltönigen Italiener und dem  werkmeister´schen Mietke eingespielt. Der Vergleich soll zeigen, wie reizvoll sich die unterschiedlichen Temperierungen auf ein und dasselbe Stück auswirken. Beide Temperaturen beleuchten verschiedene Momente im Stück durch ihre differenzierte Klangästhetik.

Wie wurde musiziert?

(Allemande)
Zum Teil habe ich Modifizierungen von historischen Fingersätzen verwendet. Manche Passagen verlangen jedoch eine etwas freizügigere Fingersatzbehandlung. Das Fingerpedal9 zur Erzeugung von mehr Klang ist hier erwünscht, da das Cembalo verklingt; ein Ineinander-Klingen mehrerer (sogar dissonanter) Töne reichert das Spektrum an und fördert die Deutlichkeit eines zu erzielenden Affekts. Inegales10 Spiel, also leichte Triolisierung des Rhythmus, geben der Allemande stellenweise einen interessanten Fluss und Fähigkeit zum An-und Abschwellen.

Zusammenfassung

Bei den obigen Ausführungen habe ich mich auf zwei der vielen, verschiedenen Stimmungen beschränkt – Mitteltönig (1/4 Komma) und Werkmeister-III –, da nur die beiden in das Aufnahme-Projekt integriert wurden. Es existiert natürlich noch eine viel größere und umfangreichere Vielfalt an Möglichkeiten ein Tasteninstrument zu temperieren/zu stimmen (es seien Systeme von Valotti, Kirnberger, die im Mittelalter gebräuchliche pythagoräische Stimmung, gleichstufige/gleichschwebende Temperierungen oder Modifizierungen, von Young genannt).
Doch eine präzise Analyse oder Erklärung derer sind auf Grund ihres umfassenden Materials rahmensprengend für einen Artikel. Viel näher an der Praxis scheint mir die Auseinandersetzung mit historischer Stimmung in Kombination mit Werken aus der entsprechenden Zeit.
Temperierung und Stimmsysteme hängen eng zusammen mit kompositorischen, stiltypischen Entwicklungen der Musik und natürlich auch mit der Musizierpraxis. Jede Stimmung findet sich in eine komplexe Klangästhetik ein, die unlöslich mit ihrer Epoche und ihrer Zeit verbunden ist. Affekt, musikalische Rhetorik und menschliches Gehör-Verständnis sind nur einige Aspekte unter vielen, die man anführen kann und welche Hand in Hand mit einer lebendigen Musizierpraxis einhergehen.

Von Constantin Stimmer

 

Fußnoten:
1 Nikolaus Harnoncourt, Musik als Klangrede, 6. Auflage 2010, S. 16, Absatz 1
2 Art und Beschaffenheit des Plektrums (Kiel), welches die Saite reißt: sehr häufig wird Leder oder Plastik benutzt. Im 17. und 18. Jahrhundert waren Rabenfedern gebräuchlich.
3 Prinzipiell sind Enharmonische Umdeutungen nicht möglich. Praktisch gab es aber Lösungen: geteilte Obertasten (Subsemitonien), z.B. ein zwei-geteilte Taste für die Töne fis und ges.
4 Nicht zu verwechseln mit der Programmusik (Mitte 19 Jhd.). Ein Komponieren nach einem Programm war zu Mundays Zeit nicht existent. Ein Vergleich mit etwas Programmatischem kann sich lediglich auf einen kompositiorischen Hintergedanken beziehen, aber niemals auf die entgültige Komposition.
5 Die Dur/Moll-Tonalität existiert noch nicht im späten 16. Jhd. In fast allen Fällen wird noch in den “Kirchentönen” (also den Kirchenmodi wie z.B. Dorisch oder Lydisch) gedacht/komponiert. Verschmelzungen von verschiedenen Modi waren keine Seltenheit. Die angeführte Fantasia steht im Grunde im dorischen Modus.
6 Jeder Ton klingt prinzipiell nur so lange wie man die entsprechende Taste gedrückt hält.
7 Kammertöne mit 440 Hz oder höher (475Hz!!) sind aber bereits in der Renaissance und später gebräuchlich.
8 Zu der Tonart der Suite – „g-moll“- äußert sich Mattheson (1713) so: „…ist fast der allerschöneste Tohn…eine ungemeine Anmuth und Gefälligkeit mit sich führet…. (Johann Mattheson: Das Neu-eröffnete Orchester, S.237)
9 Fingerpedal: Durch länger ausgehaltene Töne oder Intervalle entsteht der Eindruck eines Haltepedals. Es kommt zur Resonanz.
10 Inégale (frz.): ungleich, ungerade (musikal.)

 

Quellenanhang

Musikalien/Notentext:
Jan Pieterszoon Sweelinck – sämtliche Werke für Tasteninstrumente (Harald Vogel, Dieter Dirksen), Band 1 Toccaten, Breitkopf&Härtel
The Fitzwilliam Virginial Book (edited by J.A. Fuller Maitland and W. Barclay Squire), Dover Publications, Volume One
Dietrich Buxtehude – sämtliche Suiten und Variationen (Hrsg. Klaus Beckmann), Breitkopf&Härtel 1980

Internet:
http://www.groenewald-berlin.de/text/text_T016.html
http://www.lehrklaenge.de/HTML/werckmeister_-_stimmung.html
http://www.bach-cantatas.com/Lib/Buxtehude-Dietrich.htm
http://books.google.de/books?id=cgDJaeFFUPoC&pg=PA496#v=onepage&q&f=false
http://www.britannica.com/EBchecked/topic/765635/John-Mundy
http://www.christoph-kern.de/index.php?seite=2.0
http://www.koelnklavier.de/quellen/tonarten/moll.html#gmoll
http://imslp.org/wiki/Das_neu-er%C3%B6ffnete_Orchestre_%28Mattheson,_Johann%29
http://sscm-jscm.press.illinois.edu/v12/no1/dodds.html#ch2

Bücher/Sekundärliteratur:
Nikolaus Harnoncourt – Musik als Klangrede (Wege zu einem neuen Musikverständnis), 6. Auflage 2010, Bärenreiter
Concerto (Magazin für Alte Musik), Ausgabe Oktober/November 2010 (Artikel „Historische Stimmungen“ von Raphael Zauels)
Concerto (Magazin für Alte Musik), Ausgabe Februar/März 2011 (Artikel „Historische Stimmungen“ von Raphael Zauels, Teil II)
Jan Pieterszoon Sweelinck – sämtliche Werke für Tasteninstrumente (Harald Vogel-Dieter Dirksen), Band 1 Toccaten, Breitkopf&Härtel

Erfahrungen (Unterricht und Konzerte) durch Studium der Fächer Cembalo, Historische Aufführungspraxis, Cembalobau und -pflege und Generalbassspiel im Rahmen der Lehrveranstaltungen des Mozarteum Salzburg und als Cembalist/Continuoist/Organist bei Konzerten und Festivals in Salzburg und Umgebung.