Moskau, der 9. Februar 2013 – Die Gründungstagung des sogenannten „Elterlich Allrussischen Widerstandes“ mit dem engagierten Kreml-Propagandisten Sergej Kurginjan. Der offzielle Anlass der Versammlung ist die Korrektur des Schulprogramms im Fach Literatur, in dem keine modernen russischen Schriftsteller enthalten sein dürfen wie z.B. Ludmilla Ulizkaja und Viktor Pelewin. Kurginjan tritt jähzornig auf, aufbrausend erklärt er dem versammelten Publikum, dass es in Russland auf gar keinen Fall eine zweite Perestroika1 geben dürfe.

Mit Flüchen beschimpft er ehemalige sowjetische Dissidenten (Systemkritiker), Vertreter der heutigen und vergangenen Intelligenz und Kultur, die am Untergang der Sowjetunion indirekt beteiligt waren. Aber jetzt, angesichts der politischen Ideale der „weißbändrigen Opposition“2, würden diese angeblich Russland umstürzen und vernichten wollen.

„Derjenige, der unser Kulturmodell nicht annimmt, muss unser Land von seiner Anwesenheit befreien!“- ruft Kurginijan von der Bühne.

Einigermaßen gebildete Menschen können bei einer derartigen Versammlung nicht umhin, an den altbekannten Kampf mit Andersdenkenden in der Sowjetunion erinnert zu werden. Wenn ein Schriftsteller oder ein anderer Vertreter der Kultur sich der wirkenden Macht nicht anschließt, oder sogar ihre Missgestalt im eigenen Werk zeigt, heißt es, er sei ein Feind des Volkes.

Man muss besonders beachten, dass diese Leute nicht als Feinde der Macht sondern als Feinde des Volkes dargestellt werden. Diesen stalinistischen Ausdruck „Feind des Volkes“ kannte das Russland nach der Perestroika nicht mehr, er ist wieder „auferstanden“ in der Epoche Vladimir Putins. Realistisch gesehen kann man zwischen dem gegenwärtigem Russland und der ehemaligen Sowjetunion nicht wenige Gemeinsamkeiten finden:

Stalins Hymne, die roten Sterne auf den Türmen des Kreml, der im Mausoleum auf dem roten Platz aufgebahrte Führer des Weltproletariats Lenin, harte Zensur in der SMI3, der Hass auf den Westen und auf die Bürgerrechtler, die Staatsproganda…

Es muss angemerkt werden, dass eine der vorrangigen Bestrebungen der Putin-Politik die bewusst herbeigeführte Verdummung des eigenen Volkes ist. Es herrscht ein völlig offensichtlicher, unverhüllter Krieg mit der Bildung: Staatsbudgets für Bildungsziele werden gekürzt, Universitäten werden geschlossen und das Fernsehen hat sich schon längst zu einer reinen Unterhaltungskultur herabgewürdigt. Die Ursache zu solch einer Politik ist mehr als offensichtlich: Es ist um Vieles leichter ein höriges als ein gebildetes Volk zu regieren.

Gebildete Menschen mögen diese Macht nicht und werden sie niemals lieben. Laut soziologischen Befragungen besitzen Menschen, die an Protestkundgebungen teilnehmen, sogenannte „Weißbändrige“ (Oppositionelle), in überwältigender Mehrheit einen hohen Bildungsgrad. Unter diesen Menschen trifft man nicht wenige Vertreter der Kultur und der Kunst an.

Erinnern Sie sich an den berühmten Prozess gegen die Band Pussy riot: Warum wurden die jungen Frauen (übrigens Studentinnen) zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt? Haben sie jemanden beraubt oder umgebracht? Schlimmer: In ihrem traurigen, berühmten Lied, gesungen in der Moskauer Erlöserkathedrale, hatten sie die Muttergottes gebeten, Putin fortzujagen. Sie wurden verhaftet, im Gerichtssaal von einer Wachmannschaft mit Hunden eskortiert, unter Schlafentzug gestellt, bedroht und es wurde versucht, sie zu einem Vertrag mit der Ermittlungsbehörde zu zwingen…

Wie erklärt man die krampfhafte Verabschiedung der Gesetze in den letzten Monaten, wenn nicht durch den bereits erwähnten Kampf gegen die Andersdenkenden? Darunter fallen der Schutz vor schädlichen Information für Kinder, das Verbot der Aufklärung über Homosexualität bei Minderjährigen, oder die strafrechtliche Verfolgung von Verleumdung. Jedes unerwünschte Kunstwerk kann man nun nach Belieben unter eines dieser neuen Gesetzen einordnen und seinen Schöpfer ins Gefängnis stecken.

Außerdem sind die Formulierungen der Gesetze sehr breit gefasst und erlauben es, das Gesetz so zu interpretieren wie es die „Rechtssprechung“ gerade benötigt. Im Zusammenhang mit den Gesetzen möchte ich noch hinzufügen, dass das Parlament in Russland schon längst nicht mehr existiert – stattdessen waltet dort ein Menschenschlag, der für jedes Gesetz positiv abstimmt, welches der Kreml vorlegt.

Demnächst wird auch das Gesetz über die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen verabschiedet, das den Sicherheitsbehörden noch mehr Freiheiten verschaffen wird. Ich habe immer versucht zu verstehen, warum einige Persönlichkeiten der Kunst, die in Russland und weltweit angesehen sind, das Geschäft mit der Macht eingehen, von ihr Almosen annehmen, offen Meinungen kundgeben, die allgemeinen menschlichen Werten widersprechen und sich mit Diktatoren zusammenschließen? Das ist doch nicht nur ein Geschäft mit der Macht, sondern in erster Linie ein Geschäft mit dem eigenen Gewissen.

Ist es nicht möglich, dass das künstlerische Schaffen ihr moralisches Gefühl stärkt? Wäre es denkbar, dass sich Valery Gergiev oder Juri Baschmet Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung entziehen könnten, wenn sie Putin in seiner Wahlkampagne nicht unterstützt hätten? Es ist unmöglich, dies zu glauben. Sie sind sonst nur durch ihre weltweite Anerkennung geschützt. Russland ist kein Nordkorea (noch nicht), in Russland wird man für die erklärte Ablehnung der Macht nicht erschossen.

Als wichtiges Beispiel im Leben dient für mich die Biographie des Cellisten Mstislav Rostropovich, der in den 70er Jahren den in der Sowjetunion derzeitig in Ungnade gefallenen Schriftsteller Alexander Solschenizin dadurch unterstützte, dass er ihm in seinem Sommerhaus Zuflucht gewährte. Rostropovich hat diese Tat seine Karriere im eigenen Land gekostet: Er bekam keine Säle mehr für seine Konzerte, seine Schriften wurden nicht mehr herausgegeben und verkauft – im Endeffekt wurde er einfach aus der UDSSR hinausgejagt. Aber heute sind die Zeiten anders: Gergiev und Baschmet würde heute so etwas nicht widerfahren, das ist offensichtlich.

Ich hege die tiefe Überzeugung: Wer die Macht der Verbrecher unterstützt (und dabei begreift man erst, dass nicht nur die Politiker, sondern diese Macht selbst verbrecherisch ist), muss etwas sehr Wichtiges in sich selbst vernichten, ein lebenswichtiges Organ, das für die Moral verantwortlich ist. Zugleich ist es auch klar, dass man die Kunstwerke nie mit moralischen Kriterien messen kann.

Dostoevskij_1863Ich stelle mir oft die Frage, ob z.B. Beethoven oder Wagner tief moralische Menschen waren? Und Tschaikowskij oder Brahms? Mussorgskij? Das ist ein sehr schwieriges Thema. Man muss im Leben ein Mensch sein und Meisterwerke schaffen können, auch ohne von diesen Meistern ein sittliches oder moralisches Beispiel anzunehmen. Bei Fjodor Michailowitsch Dostojewskij findet sich diese bemerkenswerte Zeile: „Gebt uns etwas zu essen und versklavt uns.“ Bedauerlicherweise verweist diese Zeile sehr treffend auf die russische Mentalität.

Im Laufe der Jahrhunderte kann man dies nachvollziehen und die derzeitige Spirale in der russischen Geschichte – der Putinismus – bestätigt nun einmal mehr diese traurige Wahrheit. Regisseure, Künstler, Schauspieler, die ihre Ziele verfolgen, sei es die Instandsetzung des Theaters, das Geld für die neue Inszenierung, oder die Möglichkeit, eine Prämie zu bekommen, sind bereit, die Macht zu umschlingen, sie zu küssen und ein Loblied auf sie anzustimmen. Den Umgang mit solchen Menschen halte ich nicht für erstrebenswert, trotzdem bewundere ich ihr Talent und das, was sie künstlerisch schaffen.

Die russische Gesellschaft ist momentan in sich gespalten. Der Kreml versucht alles Erdenkliche, um sie noch mehr zu spalten, indem man entsprechende aussagekräftige Informationen verbreitet: „Ihr unterstützt Pussy Riot? Das heißt, ihr seid die Feinde der russischen orthodoxen Kirche! Ihr seid für das Recht der Amerikaner, russische Kinder adoptieren zu dürfen? Das heißt, dass ihr Russland hasst, ihr seid keine Patrioten!“

Leider ist diese Spaltung auch in die kulturelle Elite vorgedrungen, was zu Konflikten zwischen den Vertretern der Kunst führt. Es kommt vor, dass die Künstler sich weigern auf den Jubiläen ihrer Kollegen aufzutreten, oder dass Leute bereit sind Verträge aus moralisch-politischen Erwägungen zu zerreißen. Die Verdunkelungstaktik (Obskurantismus) wird in den Rang der Staatspolitik erhoben und die Sitzung „Elterlich allrussischer Widerstand“ am 9. Februar 2013 mit Sergey Kurginjan an der Spitze ist die beste Bestätigung dafür.

Es bleibt nur zu ergänzen, dass am Ende der Sitzung, unerwartet für alle, der Präsident Putin selbst erschien. Somit gab er zu verstehen, dass er diese Strategie und den Zerfall der Kultur auch weiterhin unterstützen wird, da dies der beste Nährboden für die Erhaltung seiner Macht ist.

Von Sergey Neller, übersetzt von Ekaterina Sell


1 Anm. d. Red.: Die Perestroika war eine Politik der Modernisierung und Umstrukturierung der Sowjetunion ab 1986, forciert vom späteren Friedensnobelpreisträger M. Gorbatschow

2 Anm. d. Red.: Die Vertreter der Opposition tragen weiße Bänder und werden daher so genannt (белоленточная оппозиция)

3 Anm. d. Red.: Bezeichnung für die Massenmedien (Zeitungen, Flugblätter, Rundfunk, Digitale Medien etc.)