Wort und Ton im letzten Satz vom Lied von der Erde

gustav_mahler_1909Worin findet der Komponist Inspiration? Was beschäftigt ihn, was prägt ihn? Was ist bedeutungsvoll für ihn, so dass es sich im seinem Opus niederschlägt? Für Mahlers Lied von der Erde sind dies wohl vorrangig zwei Dinge gewesen: Zum ersten ist es seine persönliche Lebenskrise, in der er sich befand, als er das Werk schrieb. Zu seinen körperlichen Leiden, wie die diagnostizierte Herzkrankheit, welches ihn in seiner Aktivität stark einschränkte und ihm die Endlichkeit seines Lebens noch eindringlicher als bis dahin vor Augen führen sollte (die Uraufführung dieses Werkes erlebte er selbst nicht mehr), kamen das Ende seiner Anstellung an der Wiener Hofoper aufgrund einer antisemitischen Kampagne, sowie der Tod seiner älteren Tochter Maria Anna im Juli 1907 hinzu. Das Leben selbst und sein ihm eingegebener Sinn, sowie der Abschied von selbigem wurden zum präsenten Thema dieser Musik seines Spätwerks. Selbst vor dem Titel „Sinfonie“ für sein nächstes Werk hatte er Furcht, da dies seine Neunte gewesen wäre; geht man von dem Werk Beethovens aus: seine letzte.
Diese Ängste und Sorgen mögen ihn nun zu den Texten geführt haben, die dem Lied von der Erde zugrunde liegen, welches der zweite Gesichtspunkt unserer Betrachtung sein soll. Die enorme Ausdruckskraft und gleichzeitig fast bestürzende Schlichtheit der chinesischen Dichtkunst mögen es gewesen sein, die ihn veranlassten, diesen sinfonischen Liederzyklus zu schreiben. Sicherlich war auch der der chinesischen Philosophie eingegebene Gedanke eines ewigen Lebenszyklus‘ für ihn durchaus trostspendend und faszinierend. In den Texten fand er gleichermaßen ein Rohmaterial, ein lyrisches Faktum, dem es möglich war, durch Musik eine noch höhere Ebene und Bedeutung hinzuzufügen.

Chinesische Lyrik zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie wie eine lose Aneinanderreihung von Lauten oder Wörtern erscheint, die – im Vergleich zu den abendländischen Sprachen – ohne Grammatik zusammengefügt zu sein scheinen, da es an Deklination oder Konjugation zumeist fehlt. Hierdurch entsteht eine enorme Bildhaftigkeit, aber auch die Komplexität des Verständnisses und der Interpretation. Zudem gibt es keine Zeitwörter; die beschriebenen Gegenstände oder Personen können jetzt existieren oder sich in der Vergangenheit oder Zukunft befinden. Ferner fehlen häufig die Flexionen und Personalendungen der Wörter, was zur Folge hat, dass sich Ereignisse manchmal nicht einer Person oder einem Gegenstand zuordnen lassen und somit die (eigentlich nicht existierende) Handlung frei interpretierbar bleibt. Das Chinesische deutet Wort für Wort (oder besser: jedes semantische Zeichen) aus und auch deswegen entstehen für jeden Leser aufgrund der verschiedenen Lesarten der Syntax immer wieder neue Sinnzusammenhänge. So kann es schließlich sein, dass ein jedes chinesisches Gedicht in einer Vielzahl von Übersetzungen vorliegen kann, von denen keine besonders falsch oder besonders richtig sein muss, sondern die einfach frei, je nach Inspiration, Verständnis und Auffassung des Nach- oder Neudichters, aus den Vokabeln ein komplettes sprachliches Bild formen können. Und ebenso erging es auch den Gedichten, die Mahlers Zyklus für Alt (oder Bariton), Tenor und großes Sinfonieorchester zugrunde liegen. Sie entstammen den Federn vierer verschiedener Dichter der Tang-Dynastie (618 – 907): Die Nummern 1, 3, 4 & 5 sind vom Hofdichter Li-Tai-Po (701 – 762), das zweite Lied von Tschang-Tsi (ca. 765 – ca. 830), sowie die beiden Gedichte, die dem sechsten Satz zugrunde liegen, von Mong-Kao-Yen (auch: Meng Haoran oder Meng Hao-jan; 691 – 740) und dem Dichter, Maler und Komponisten Wang-Wei (699 – 761). Diese beiden Texte wurden ihrerseits von Marquis D’Hervey Saint Denys ins Französische übertragen, bevor Hans Bethge sie ins Deutsche übertrug. Nicht zuletzt wurden (gerade in dem sechsten Satz) auch noch von Mahler selbst Veränderungen am Text vorgenommen. Die Texte hatten also von ihrer Ursprungsgestalt eine lange Reise, bevor sie in Mahlers Musik zum Erklingen gebracht werden sollten.

Zur Musik

Musikalisch ist der Satz von einem kühlen, manchmal kargen und fast durchweg klagend-resignativen Tonfall geprägt. Wesentliche thematische Elemente sind die meist pentatonisch-freien Linien in der Solo-Oboe oder im Englischhorn und in der Solo-Flöte, sowie die dazu kontrastierenden, oft chromatisch fallenden Sekundmotive in den Klarinetten und Blechbläsern, vorzugsweise den Hörnern, sowie der unerbittlich starr wirkende C-Orgelpunkt der Bässe und Harfen.(Notenbeispiel 1 und 2) Auffällig, aber für den einzigartigen Klangeindruck darum so bedeutsam, ist die etwas ausgefallene Besetzung, die Mahler verwendet, wie beispielsweise mit dem totenglockenartigen Tam-Tam (von Mahler selbst ab T. 303 im Particell als „Grabgeläut“ bezeichnet worden), meist in Verbindung mit der Großen Trommel oder den tiefen Bläsern, sowie im krassen Gegensatz dazu der lieblichen Mandoline, den zwei Harfen und der Celesta, die am Ende die Musik zu einer friedvollen Entrückung gelangen lassen.

Notenbeispiel 1: Takt 1-6

Notenbeispiel 1: Takt 1-6

Notenbeispiel 2: Takt 10-12

Notenbeispiel 2: Takt 10-12

Ob Mahler selbst chinesische oder überhaupt fernöstliche Musik jemals selbst gehört hat kann man nicht mit Bestimmtheit sagen; eine tatsächliche Verwendung fernöstlicher Instrumente liegt jedenfalls nicht vor, aber es wird behauptet, dass Mahler klanglich beispielsweise von den Chinoiserien aus der Oper Madame Butterfly von Giacomo Puccini inspiriert wurde. Allerdings gibt es beispielsweise auch schon in den Kindertotenliedern, die wesentlich früher entstanden sind, pentatonische und heterophone Elemente. (Notenbeispiel 3) Eben jene Heterophonie, das ist das nur beinahe gleichzeitige, aber eben doch variierte oder versetzte Erklingen von Instrumentenstimmen und Singstimme, welche auch mancherorts zu Oktav- oder Quintparallelen führen können, ist von besonderer Feinheit, da sie meist wie zufällig und improvisando klingt, ganz besonders hier in den freien Rezitativpassagen (Notenbeispiel 4).

Notenbeispiel 3: Kindertotenlieder, V: In diesem Wetter, in diesem Braus, T. 100–106

Notenbeispiel 3: Kindertotenlieder, V: In diesem Wetter, in diesem Braus, T. 100–106

Notenbeispiel 4: Takt 21-26

Notenbeispiel 4: Takt 21-26

Damit einhergehend ist der Satz im Ganzen von sehr minimalistischen Bewegungen gekennzeichnet. Ein Klang oder ein Tonartenwechsel betont hier und dort ein Wort, als wäre es ein Symbol, ein Rätsel, ein ganzer Kosmos, sich entfaltend und aussprechend in nur einem Klang. Ein Quartenpendel entsteht aus dem sanftem Schwingen der Luft, des „feinen Windes Weh‘n“, und bewegt sich gleichzeitig in der einen Stimme stärker, der anderen schwächer, wie die Äste einer der „dunklen Fichten“, die sich dadurch tatsächlich vor dem geistigen Auge des Zuhörers oder dem Betrachter der Partitur sanft zu wiegen scheint (Notenbeispiel 5 und 6).

In vielem bleibt die Musik so vage und doch bildhaft zugleich. Die großflächige, oft frei schwebende Harmonik lässt sich mit der aufgelösten Syntax der chinesischen Gedichte vergleichen; seine tonalen und melodiösen Progressionen lassen Parallelen zu der Idee, die der chinesischen Philosophie und Dichtkunst – die Grenzen sind hier manchmal kaum klar zu ziehen – innewohnet, zu, nämlich dem Qi, dem nie aufhörenden Energiefluss, dem nicht sicht- oder fassbaren Etwas, was doch alles zusammen hält und belebt. Die minimalistischen Strukturen entsprechen den kargen Bildern chinesischer Malerei und schlichten Worten der Gedichte; in ihnen scheint die Zeit und alles Dasein vor dem Betrachter ins Unendliche ausgebreitet zu sein.

Und eben all diese – für uns oder zumindest das damalige Publikum vielleicht „fremdartigen“ – Gedanken und Elemente schafft Mahler voller Inspiration in seine Musik aufzunehmen und, durch den Filter seiner Selbstreflexion und natürlich ästhetisch gefärbt von seiner mitteleuropäischen, abendländisch-spätromantischen Prägung, in diesem einzigartigen Werk zu einem großen, harmonierenden Ganzen zu vereinen.

Notenbeispiel 5 und 6: Takt 39-46

Notenbeispiel 5 und 6: Takt 39-46

mahler-notenbeispiel6

Von Jakob Schäfer

Literaturangaben:
1. Sebastian Sprenger: Artikel „Winkelschiefe Satzkunst“ – Zu einigen Quint- und Oktavparallelen im Werk Gustav Mahlers. Enthalten in: ZGMTH, http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/485.aspx (*)
2. Artikel „Der Abschied“. Enthalten in: http://www.mahlerarchives.net/DLvDE/Der_Abschied.htm
3. Artikel „Das Lied von der Erde“. Enthalten in: „http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Lied_von_der_Erde“
4. Artikel „Gustav Mahler“. Enthalten in: http://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Mahler
5. Eva Schestag (Hrsg.): Das alte China – Die Anfänge der chinesischen Literatur und Philosophie. Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag GmbH, 2009, S. 69 ff.
6. Noten aus der Universal Edition, Band IX.