Für die Mehrheit ist es ein unerklärliches und unfassbares Phänomen, einem sechsten Sinn ähnlich; für Wenige ist es ein untrennbares Element ihres Lebens, ein Teil des Selbst – was aber nicht bedeutet, dass für sie das absolute Gehör weniger rätselhaft ist.
Egal ob Menschen absolut oder relativ hören, stellen sie sich oft die gleichen Fragen: Warum können einige jeden einzelnen Ton sofort benennen, während andere unbedingt einen Bezugspunkt brauchen? Wie funktioniert es? Kann man es lernen?
Das absolute Gehör ist ohne Zweifel jedem Musiker vertraut. Um dieses Phänomen jedoch noch besser zu verstehen, stellen wir uns folgende Situation vor: Wir fragen jemanden im Supermarkt nach der Farbe einer Paprika. Er sagt uns, dass er die Farbe zwar erkennen und von anderen Farben unterscheiden, sie jedoch nicht benennen könne. „Dann schauen Sie mal, das ist eine grüne Paprika“, sagen wir, eine andere Paprika in der Hand. Der Mann ist jetzt sicher: „Also dann muss die Paprika, nach deren Farbe Sie gefragt haben, gelb sein“. Verwunderlich?
Ähnlich seltsam scheint das relative Gehör vielen Absoluthörern. Warum ist dieser Art Farbenblindheit paradoxerweise eine Norm, wenn es ums Hören und nicht ums Sehen geht (schätzungsweise hört nur einer unter zehntausend Menschen absolut)?1 Vielleicht ist gerade das absolute Hören normal und natürlich, wie das Farbensehen und -erkennen, jedoch verliert die Mehrheit der Menschen im Laufe des Lebens diese Fähigkeit.
Zusammenhang der Sprache mit dem absoluten Gehör
Forscher von der University of Wisconsin haben ein Experiment mit acht Monate alten Säuglingen und Erwachsenen mit und ohne musikalischer Schulung durchgeführt und sind zu klaren Ergebnissen gekommen: In einem Test mit Tonfolgen haben sich Babys sehr viel stärker auf Hinweise des absoluten Gehörs verlassen.2 Das legt den Gedanken nahe, dass relatives Hören im Säuglingsalter universell ist. Was ist also der Grund dafür, dass das nicht ein ganzes Leben lang gleich bleibt?
Ein absolut hörender Musiker, der eine Melodie zuerst in Des-Dur, dann in D-Dur hört, kann erkennen, dass die Melodie einfach transponiert wurde. Beide Melodien würde er jedoch unterschiedlich wahrnehmen und beschreiben. Jede Tonart hat ihren eigenen Charakter, fühlt sich anders an. Könnte ein Kleinkind nur absolut hören, würde es schwerlich erlernen können, dass in verschiedenen Tonarten gesungene Melodien oder in unterschiedlichen Grundfrequenzen gesprochene Worte gleich sind. Wie könnten sich die Menschen dann verständigen?
Die Sprache also und deren Entwicklung in den vergangenen Jahrtausenden ist höchstwahrscheinlich dafür zuständig, dass Menschen nach der Geburt das absolute Gehör allmählich verlieren.
Nur die Tonsprachen, bei denen mit einer Änderung der Tonhöhe oder des Tonverlaufs in einer Silbe in der Regel auch eine Änderung der Bedeutung des entsprechenden Wortes bzw. Morphems3 einhergeht, hemmen das absolute Gehör nicht, im Gegenteil – manchmal tragen sie sogar zu seiner Verstärkung bei. Menschen, die tonale Sprachen wie Mandarin oder Vietnamesisch sprechen, hören häufiger absolut.
Einer Studie von Diana Deutsch nach, hören annähernd 60% der chinesischen und nur 14% der amerikanischen Studenten absolut, deren musikalische Bildung vor ihrem 5. Lebensjahr begann, sowie 42% der chinesischen und keiner der amerikanischen Muttersprachler, die nach dem 8. Lebensjahr mit einer musikalischen Ausbildung angefangen haben.4
Aufgrund dessen vermutet die erwähnte Forscherin, dass unter geeigneten Voraussetzungen Kleinkinder das absolute Gehör als ein Merkmal ihrer Sprache erwerben und auf die Musik übertragen könnten. Falls ihre Muttersprache jedoch nicht tonal ist, können sie das absolute Hören nur während einer musikalischen Ausbildung erwerben, was einem Lernprozess einer zweiten Sprache ähnelt, es ist also komplizierter.
Im Zusammenhang mit dem Themenkomplex Sprache und Musik sollte unbedingt ein Buch von dem britischen Archäologen Steven Mithen erwähnt werden – The Singing Neanderthals: The Origins of Music, Language, Mind and Body.5 Der Autor vertritt die Meinung, dass Musik und Sprache einen gemeinsamen Ursprung haben.
Diese Idee ist aber nicht ganz neu: Schon im 18. Jahrhundert behauptete Jean-Jacques Rousseau, dass es in der Urgesellschaft keine Trennung von Sprache und Gesang gab. Überbleibsel von gesungenen oder psalmodierten Protosprachen sind noch gegenwärtig zu beobachten – in vielen Religionen und bardischen Traditionen.
Potentielle Absoluthörer
Laut zahlreichen Studien verfügen vor allem Musiker über das absolute Gehör, wobei viele von ihnen schon in früher Kindheit musikalisch gefördert wurden. Je früher die musikalische Schulung begann, desto größer ist die Chance auf Erwerb dieser Fähigkeit. Eine Garantie gibt es jedoch nicht. Dazu kommt, dass es vor dem 8. Lebensjahr eine kritische Phase für die Entwicklung des absoluten Gehörs gibt.6 Ab dieser Zeit haben Kinder erheblich größere Schwierigkeiten, eine Fremdsprache akzentfrei sprechen zu lernen.
Es wurde beobachtet, dass das absolute Gehör in manchen Familien gehäuft auftritt. Leider konnte nicht nachgewiesen werden, ob dafür Gene oder ein anregendes musikalisches Umfeld verantwortlich sind.
Ein weiteres auffälliges Phänomen soll an dieser Stelle erwähnt werden, nämlich ein Zusammenhang des absoluten Gehörs mit Blindheit. Rund 50% blind geborener oder im Säuglingsalter erblindeter Kinder hören absolut. Interessanterweise haben Forschungen von Neurologen, die Gehirne von Menschen mit und ohne absolutem Gehör verglichen, gezeigt, dass die für Absoluthörer charakteristischen Asymmetrien bei blinden Versuchspersonen nicht vorkommen. Es geht hier um gewisse Differenzen zwischen den Volumina der Strukturen, die bei der Wahrnehmung von Sprache und Musik eine wichtige Rolle spielen (des rechten und linken Planum temporale).7
Absolutes Hören: Erlernbar, veränderbar?
Da das absolute Gehör in vielerlei Hinsicht von Vorteil ist, wurden Experimente durchgeführt, um zu erfahren, ob es erlernbar ist. Bei Kleinkindern konnte man auffallende Fortschritte feststellen, gleichzeitig erwies sich eine ähnliche Arbeit mit Jugendlichen als fast völlig fruchtlos. Die Tatsache, dass das Erlernen eines absoluten Gehörs für einen Erwachsenen nahezu unmöglich ist, bekümmert nicht nur relativ Hörende. Für Menschen, die ihr absolutes Gehör aufgrund einer Gehirnschädigung verlieren, ist dieser Verlust bestimmt noch schmerzlicher.
Das Hören kann sich außerdem mit der Zeit ändern. Ältere Menschen, die immer noch absolut hören, können sich teilweise auf ihr Gehör nicht mehr verlassen, weil es z.B. einen Ganzton nach oben gerutscht ist. Es wurde beobachtet, dass ältere Klavierstimmer dazu neigen, die letzten Oktaven etwas zu hoch und die letzten drei oder vier Töne viel zu hoch zu stimmen (sogar einen Halbton).8 Zumeist bleibt das absolute Gehör aber stabil. Durchschnittlich erkennt ein Absoluthörer mehr als siebzig Töne im mittleren Hörbereich, darunter auch kleinere Änderungen der Tonhöhen wie Drittel- und Vierteltöne.
Einer Anekdote nach soll der siebenjährige Mozart bemerkt haben, dass die Geigenstimmung seines Freundes Schachtner einen Viertelton tiefer war als die seiner eigenen Violine, obwohl er diese nicht dabei hatte.
Die andere Seite der Medaille
Das absolute Hören ist nicht nur vorteilhaft. Da manchmal mehr Aufmerksamkeit auf die Reinheit einzelner Töne gerichtet wird, kann man von der Musik als Ganzes abgelenkt werden. Während des Spiels auf einem verstimmten Instrument oder des Hörens von Musik in alter Stimmung können Absoluthörer aus dem Konzept gebracht werden.
Es kann vorkommen, dass sich ein Absoluthörer bei erklingenden Intervallen so sehr auf die Einzelerscheinung der gehörten Töne konzertiert, dass er nicht mehr das von ihnen gebildete Intervall hört. Oder Harmonien verlieren an Bedeutung und werden sozusagen transparent.
Diese Aspekte des absoluten Gehörs unterscheiden sich jedoch bei verschiedenen Personen. Man sollte also nicht vergessen, dass Musiker mit absolutem Gehör das Hören von Intonation, Akkorden, Funktionen und Intervallen ebenso erlernen müssen, wie solche mit relativem Gehör.
Generell hilft das absolute Gehör seinen Besitzern, trotz dieser kleinen Komplikationen, in vielerlei Hinsicht – nicht nur Musiker machen es sich zunutze. Ein finnischer Entomologe zum Beispiel kann zahlreiche Kerbtiere voneinander unterscheiden, indem er die von fliegenden Insekten erzeugten Tonhöhen erkennt. Diese Tonhöhen haben mit Frequenzen der Flügelschläge zu tun und geben klare Auskunft über die Gattung.
Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass Menschen aufgrund der zivilisatorischen und kulturellen Entwicklung die Gabe der Natur – das absolute Gehör – verloren haben. Es ist aber unwichtig, ob man absolut hört oder nicht – von Bedeutung ist, ob man von seinen Fähigkeiten guten Gebrauch machen kann. So ist ein gut trainiertes relatives Gehör viel nützlicher, als ein untrainiertes absolutes.
Von Agnieszka Biaek
Literaturangaben:
1 O. Sachs, Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 146
2 J. R. Saffran, G. J. Griepentrog, 2001, Absolute pitch in infant auditory learning: Evidence for developmental reorganization, in: Developmental Psychology 37 (1), S. 74-85
3 Kleinste bedeutungstragende Einheit im Sprachsystem
4. D. Deutsch, T. Henthorn, M. Dolson, 2004, Absolute pitch, speech and tone language: Some experiments and a proposed framework, in: Music Peception 21, S. 339-356
5 London 2005, Weidenfeld & Nicolson
6 D. Deutsch, T. Henthorn, E. Marvin, H. Shuai Xu, 2006, Absolute pitch among American and Chinese conservatory students: Prevalence differences and evidence for a speech-related critical period, in: Journal of the Acoustical Society of America 19 (2), S. 719-722
7 O. Sachs, op. cit., S. 148-149
8 Ibid., S.145-146
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