Alte und neue Konzertsäle
Das Konzert-Musikleben findet heute entweder in den berühmten historischen Konzertsälen oder in architektonisch attraktiven, neuen Kulturzentren statt; in Wien zum Beispiel in dem berühmten alten Saal des Vereins der Musikfreunde, und in München in der modernen Philharmonie am Gasteig. Bei den alten Konzertsälen wird der Originalzustand, und damit auch die Original-Raumakustik sorgfältig erhalten. Die neuen Kulturzentren werden als kommunale Prestigebauten primär nach visuellen, „fotografierbaren“ Gesichtspunkten konzipiert. Unorthodoxe Raumformen und Proportionen sind die Regel, zum Beispiel bei der neuen Elbphilharmonie in Hamburg. Die Realisierung einer optimalen Konzertsaal-Akustik steht bei diesen Bauten nicht im Zentrum der Planung. Natürlich kümmert man sich bei den neuen Konzertsälen auch um die Raumakustik. Akustiker als Berater der Architekten sind immer mit im Spiel. Sie können aber nur korrigierend und schlimmstes verhütend, nicht aber gestaltend tätig werden. Die raumakustischen Eigenheiten eines visuell originellen Saales sind deshalb oft unbefriedigend. Die Stunde der akustischen Wahrheit schlägt dann nach der Inbetriebnahme. Typisches Beispiel ist die Philharmonie am Gasteig in München, über deren Akustik Dirigenten folgendes sagen: „für welche Sitzreihe spielen wir heute?“ (Celibidache), „forget it“ (Bernstein), „nur eine Totaloperation kann den Gasteig (akustisch) retten“ (Thielemann). Die 1962 erbaute Philharmonic Hall in New York wurde sogar abgerissen und in den siebziger Jahren durch einen anderen Bau, die Avery Fisher Hall ersetzt. In der Philharmonic Hall gab es angeblich nur einen einzigen Publikumsplatz mit einigermaßen guter Hörsamkeit.
Die legendären alten Konzertsäle
Die Raumakustik der alten Konzertsäle wird durchwegs positiv beurteilt. Es handelt sich fast ausnahmslos um Rechteckräume in barocker oder klassizistischer Bauart mit 8000 bis 15 000 m3 Inhalt. Der Parkettbereich ist schallabsorbierend (Publikum). Die Wände sind komplex gegliedert, einerseits großförmig (Säulen, geschweifte Balkonkante), andrerseits mit kleingliedrig gekrümmten Flächen (Ornamente, Putten, Komponistenbüsten), Unregelmäßigkeiten in der Größenordnung von Zentimetern (Stuckaturen) und schließlich noch einer feinen Strukturierung (Verputz). Die großen Wandflächen und die Decke haben eine einheitliche, geringe Schallabsorption. Dank dieser Oberflächenbeschaffenheit der Wände wird der Schall im ganzen Musik-Frequenzbereich sehr gleichmäßig verteilt, und es ergibt sich automatisch im ganzen Raum ein gleich bleibender Direktschall- und Diffusschall-Eindruck. Allfällig vorhandene, die regelmäßige Schallverteilung störenden Seitenbalkone sind schmal und wirken sich nicht wesentlich auf die Diffusität der Schallverteilung aus. Typische Beispiele sind der Saal des Vereins der Musikfreunde in Wien (gebaut 1872) und das Concertgebouw in Amsterdam (1872). Bemerkenswert ist, dass diese zwei Säle, aber auch alle anderen aus der Zeit vor dem Jahre 1900 ohne die Mitwirkung von Akustikern gebaut worden sind. Eine erstaunliche Tatsache, die sich aber erklären lässt, wenn man den Zusammenhang der Entwicklungen von Architektur und abendländischer Musik betrachtet.
Musik für die Architektur
Für die Philosophen des Mittelalters waren die Musik, und auch die gotischen Kirchen Ausdruck einer kosmischen Ordnung die sich in ganzzahligen, pythagoreischen Zahlenverhältnisse darstellen lässt. Unser Tonsystem beruht auf derartigen Zahlenverhältnissen. Das gleiche gilt auch für die Proportionen der mittelalterlichen Kirchen. Für die Philosophen war die Architektur der Spiegel einer immerwährenden Harmonie. Die Musik galt als dessen Echo.
Die damaligen romanischen und gotischen Kirchen waren groß und hallig. Es gab den akustisch dazu passenden gregorianischen Gesang. Später komponierten Gabrieli, Leonin und Perotin Musik für die Aufführung in diesen Kirchen.
Mit der Reformation änderte sich die Kirchenakustik. Im Zentrum stand nicht mehr eine musikalische „Beeindruckung“, sondern das Wort, die Predigt. Für die Wortverständlichkeit waren die langen Nachhallzeiten der großen Kirchen nachteilig. Deshalb veränderte man die Hörsituation mit zusätzlichen Seitenbalkonen, Teppichen und schallabsorbierenden Draperien. Die damals in dieser Weise akustisch korrigierte Thomaskirche in Leipzig zum Beispiel hatte zu Bachs Zeiten vollbesetzt eine Nachhallzeit von weniger als 1,6 Sekunden, sie war akustisch also „trockener“ als ein heutiger Konzertsaal. Bach komponierte die Johannes- und die Matthäus-Passion sowie die H-Moll Messe für diese neue Kirchenakustik, die die Strukturen der Musik deutlich erkennbar machte. Auch schnelle Tempi und Harmoniewechsel waren nun möglich. Akustisch ist die Thomaskirche später wieder in den Originalzustand versetzt worden. Sie ist wieder so hallig wie vor der Reformation. Damit kommen heute eher der sakrale Charakter und nicht mehr die musikalischen Strukturen dieser Werke zur Geltung.
Im Gegensatz zu den alten Kirchen hatten die Aufführungsräume für Konzertmusik immer eine wesentlich kürzere Nachhallzeit. Der Einfluss der Akustik dieser Räume auf die Kompositionen wird deutlich, wenn man die frühen mit den Londoner Symphonien von Joseph Haydn vergleicht: Die für die Aufführung im relativ kleinen Konzertsaal des Esterhazy-Schlosses oder des Haydn-Saals in Eisenstadt komponierten frühen Sinfonien unterscheiden sich grundlegend von den für die Aufführung im viel größeren Saal des Kings‘s Theatre in London geschriebenen Londoner Symphonien Nr.102-104.
Höhle und Zelt: Musik- und Sprechakustik
Bereits Leonardo da Vinci (1452-1519) hatte die Anforderungen, die die Musik an die Akustik stellt, deutlich gesehen. Er machte zwei grundlegend unterschiedliche Raum-Vorschläge. Für die Sprache entwarf er ein völlig offenes „loco dove sie predica“ mit einem stark höhengestaffelten, kreisförmig angeordneten Publikum und einem auf einer Säule stehenden Sprecher, und für Musik ein „teatro per uldire messa“ mit einem zentralen Podium und drei angegliederten Zuhörer-Bereichen.
Der Akustiker Hope Bagenal (1888-1979) schließlich, betrachtete die angewandte Akustik nicht als Wissenschaft, sondern als Kunst. Er unterschied zwischen der für das Sprechtheater optimalen Open Air oder Zelt-Akustik der Nomaden und der „Höhlen-Akustik“ der Musik-Räume.
Und Wallace Clement Sabine (1868-1919), der Begründer der wissenschaftlichen Raumakustik, verfasste neben seinen wissenschaftlichen Abhandlungen auch eine Schrift mit dem Titel „Melodie und der Ursprung der musikalischen Tonskala“. Darin machte er sich unter anderem Gedanken über die Wechselwirkung von Aufführungsraum und musikalischer Komposition. Er stellte fest, dass während langer Zeit der Einfluss der Aufführungsräume auf die Komponisten und Interpreten bestimmend für den Charakter der Musik und der Interpretation war. Seiner Meinung nach hing sogar nahezu alles von der Art der Musik-Aufführungsräume (groß oder klein, überdacht oder frei, hallig oder trocken) und deren Ausgestaltung ab. Der Raum bestimmte, ob die jeweilige Musik eher melodisch, harmonisch, oder rhythmisch geprägt sein musste. Seine Theorie: Immer war zuerst ein Raum da, in dem dann die entsprechende Musik entstand.
Die großen Konzertsäle
Ein wichtiger Faktor für die Weiterentwicklung der Musik im 19. Jahrhundert war die zunehmende Grösse der Konzertsäle:
Die vor dem Jahre 1850 gebauten waren nach heutigen Begriffen klein. Das berühmte (nicht mehr existierende) alte Gewandhaus in Leipzig zum Beispiel fasste nur 400 Konzertbesucher, die in Längsrichtung des Saales auf Bänken saßen. Dieser Saal soll ideal gewesen sein für die Aufführung der Werke der Klassik. Auch Mendelssohn komponierte für diesen Saal. Erst in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts baute man Säle, die heute als normal-groß gelten. Zum Beispiel den Saal des Vereins der Musikfreunde in Wien mit 15‘000 m3 Inhalt und rund 1600 Zuhörer-Plätzen, sowie den größten der alten Säle, den des Concertgebouw in Amsterdam mit 18‘700 m3 Inhalt und rund 2200 Zuhörern. Auch die Orchester wurden größer und anders besetzt und die Bauart vieler der Musikinstrumente wurde geändert mit dem Ziel eines größeren Klangvolumens.
Baustil und Raumakustik
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte der jeweilige Baustil die Bauart und damit auch die Raumakustik der Säle. Gebaut wurden fast ausschließlich Rechtecksäle, heute Schuhschachtelsäle genannt, mit massiven Außenmauern und Innenwänden aus auf Strohmatten aufgebrachtem Gips. Die Raumakustik ergab sich dabei quasi von selbst aus dem Baustil. Und sie wurde, so wie sie war, akzeptiert.
Die Situation änderte sich grundlegend mit dem Aufkommen neuer Bautechniken (Eisenkonstruktionen, Beton, Glas) und der Begründung der wissenschaftlichen statistischen Raumakustik durch W.C. Sabine im Jahre 1900. Als erster konzipierte Sabine im Jahre 1902 einen akustisch berechneten Saal, die Boston Symphony Hall. Dieser Saal mit seiner heute noch legendären Akustik entsprach in seinem Aufbau (und damit auch den akustischen Eigenheiten) aber immer noch den alten europäischen Konzertsälen. Eigentlich wurden nur die Strohmatten als Träger für die Gipswände durch gelochte Stahlblechplatten ersetzt.
Generell war aber die Epoche einer völlig problemlosen Konzertsaalakustik mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Raumakustik und den neuen bautechnischen Möglichkeiten beendet. Man baute zwar weiter konventionelle Säle, bis die Architekten mit der Idee des visuellen Konzertsaals (Hans Scharoun mit der Philharmonie in Berlin, 1956-1963) eine neue Aera des Konzertsaal-Baues starteten. Scharoun wollte das ganze Publikum möglichst nahe zum Orchester bringen. Jeder Konzertbesucher sollte visuell verfolgen können, was auf dem Podium geschah. Er erreichte dies, indem er das Publikum um das Podium herum platzierte. Die hinter dem Orchester platzierten Zuhörer saßen zwar direkt hinter den Pauken, dem Schlagzeug und den Blechbläsern. Aber sie konnten Karajan von vorn sehen. Deshalb nannte man den Saal nach der Eröffnung „Zirkus Karajani“.
Visuell geplante Konzertsäle haben immer eine „zufällige“ Raumakustik. Sie dann richtig hinzubekommen ist Aufgabe eines beigezogenen Akustikers, der entsprechende Korrekturmaßnahmen vorschlagen muss. Dabei stößt er immer dann an Grenzen, wenn es sich nicht um einfache, sinnvoll proportionierte Rechteckräume handelt. Deutlich von der Rechteckform abweichende Raumformen sind mit konventionellen Mitteln akustisch aber nur begrenzt in den Griff zu bekommen. Reflektierende Betonwände und große Glasflächen zum Beispiel lassen sich nicht einfach durch an anderen Wandflächen aufgebrachtes schallabsorbierendes Material kompensieren. Dazu kommt, dass die visuellen Vorstellungen der Architekten einem Akustiker oft keinen Spielraum für wirksame Korrekturmaßnahmen lassen. Noch schwieriger für den Akustiker wird es, wenn mit konventionellen Mitteln eine variable Akustik für Mehrzweckräume realisiert werden soll. Eine ausschließlich bauakustisch realisierte, veränderbare Akustik (Vorhänge, drehbare Wandelemente, angekoppelte Resonanzräume, etc.) ist teuer, nie voll kalkulierbar und führt in der Regel nicht zum gewünschten Ziel. Mehrzweckhallen haben immer etwas mit dem berühmten Swiss Army Knife gemein: Man kann im Prinzip alles damit machen, aber leider nichts richtig!
Der elektroakustische Konzertsaal
Es ist heute möglich, mit Hilfe der Elektroakustik jegliche Art von Raumakustik zu realisieren. Dazu müssen nur an den Raumbegrenzungsflächen eine große Anzahl (mehrere hundert) von individuell angesteuerten Lautsprechern installiert werden. Diffuse Schallfelder und diskrete Reflexionen lassen sich dann elektroakustisch fast beliebig gestalten, simulieren und für jeden Anwendungszweck optimieren, wobei dies softwaremäßig geschehen kann. Bei einem elektroakustischen Konzertsaal müssen Architekten keine Rücksicht auf die akustischen Auswirkungen ihrer visuellen Gestaltung nehmen. Einzige Bedingung: Die Raumbegrenzungsflächen müssen akustisch möglichst schallabsorbierend sein. Als Technik für diese Raumsimulationen eignet sich die vom Fraunhofer Institut für digitale Medientechnik in Illmenau entwickelte aufwändige Wellenfeld-Synthese (IOSONO-System). Eine entsprechende Open Air Anlage ist bei der Seebühne der Festspiele in Bregenz zu sehen (und zu hören). Einfacher und unaufwändiger ist das im Rahmen der Studienrichtung Tonmeister an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien entwickelte RACS (Room Ambiance Creating System). Mit einer Anzahl von gegen die Decke strahlenden Lautsprechern wird der ganze Raum homogen so ausgeschallt, dass die Herkunftsrichtung der Schallsignale nicht geortet werden kann. Auch entsprechende Open Air Beschallungen sind möglich. RACS wurde bis jetzt nur mit fliegenden Installationen für einzelne Events eingesetzt. Dies aber immer mit großem Erfolg und bei zunehmend wichtigeren Anlässen:
• Open Air Orchesterkonzert im Giardino del Suono im Bergell im Jahre 2005.
• Open Air Orchesterkonzert in Mogno im Maggiatal (2007, Publikum 2500 Leute).
• Konzerte des Festivals „Snow and Symphony“ in den Speisesälen der Fünfsternhotels und in Turn-/Mehrzweckhallen im Engadin (seit 2004 und weiterhin).
• Eröffnung der Wiener Festwochen mit den Wiener Symphonikern auf dem Rathausplatz in Wien im Jahre 2008 (Publikum > 70000 Leute)
Schlussbemerkungen
Die abendländische Musik ist eine ausgesprochene Raummusik. Die Musikinstrumente sind so gebaut, dass sie nur mit einem akustischen Raumbeitrag richtig klingen. Das gleiche gilt auch für Ensembles und Orchester. Bei den Musikinstrumenten und den Konzertprogrammen dominiert die Musik des 19. Jahrhunderts. Es würde niemandem ein-fallen, zum Beispiel ein neues, modernes Design für die Streichinstrumente vorzuschlagen oder einen visuellen Konzertflügel zu bauen. Wieso gilt das nicht auch für das „Gehäuse für die Musik“, den Konzertsaal? Konkret: Wenn die Architekten dem Beispiel von Sabine folgen und weiterhin Rechtecksäle bauen würden, gäbe es wesentlich weniger Probleme mit der Konzertsaal-Akustik.
Von Jürg Jecklin
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