tradition-brueckeDer momentane Stellenwert der Tradition ist nicht allzu hoch zu veranschlagen. Allem was das Etikett traditionell trägt, haftet ein Beigeschmack von Rückständigkeit an. Wenn jemand heute auf traditionelle Weise ein Bild malt, gerät er leicht in den Verdacht, dass ihm einfach nichts Besseres eingefallen ist. Allerdings weiß niemand so genau, was unter Tradition zu verstehen ist, eine exakte Definition gelingt nur schwer, es ist mehr ein Gefühl, welchem man sich hilfsweise annähern muss. Gustav Mahler, manchmal wird dieses Zitat auch Thomas Morus zugeschrieben, sah in der Tradition die Bewahrung des Feuers und eben nicht die Anbetung der Asche. Tradition sah er als etwas Lebendiges, Brennendes. Ursprünglich hat das lateinische traditio viele Bedeutungen, unter anderem Übergabe, Überlieferung und Lehre. Die Tradition hat eine Brückenfunktion, sie übergibt, überliefert und lehrt uns Vergangenes. Jedoch erschöpft sich dies nicht darin; eine Brücke hat ja stets einen Anfang, der in der Vergangenheit begründet ist und ein Ende, das in die Zukunft führt.

Die Tradition bildet gleichsam die konkrete Verbindung zwischen gestern und morgen im Heute. Sie lässt uns verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, obwohl sie nicht mehr in unserer eigenen Erinnerung vorhanden sind. Dort wo Traditionen nicht mehr verstanden werden, dort ist die Verbindung ins Gestern abgerissen, die Brücke eingestürzt. Der Dirigent Kent Nagano formuliert es folgendermaßen:

„Die Erinnerung reicht nur dreißig, vierzig Jahre zurück, Tradition dagegen ist mehr. Es ist eine Art zu fühlen. Wer weiß, woher seine Identität kommt, findet seinen Weg.“

Jemand der Tradition wertschätzt, weiß also woher er kommt und wohin er geht, er kennt die Klammer die beides zusammenhält. Das Wissen um Traditionen ist daher eminent wichtig für unser Verständnis. Diese bedeutet nicht notwendigerweise jede Tradition unreflektiert zu übernehmen. Im Gegenteil, intensives Hinterfragen führt zu noch tiefer gehendem Verständnis. Die Auseinandersetzung mit der Tradition mündet dann bestenfalls in einer Annahme derselben und nicht nur in einer bloßen Übernahme. Allerdings handelt es sich hierbei immer um einen Prozess, dessen ersten Schritt die Tradition selbst tut, beziehungsweise schon getan hat. Sie ist bereits da und lädt zur gegenseitigen Auseinandersetzung ein.

Diese Chance gilt es zu nutzen, Traditionen spiele von jeher eine große Rolle zur Bildung von Identität, sei es in Gesellschaft, Kirche, Musik, Kunst oder anderswo. Diese Chance auszulassen würde bedeuten das Feuer ausgehen zu lassen. Vielleicht ist in einigen Bereichen das Feuer auch schon erloschen oder muss erst von einer dichten Ascheschicht befreit und wieder angefacht werden. Die Tradition ist wichtig, um die eigene Identität zu finden und zu bewahren. Dort wo Tradition gelebt wird, wird dies auch spürbar.

Von Martin Holzmann