Der Zeitgeist des vorigen Jahrhunderts brachte es mit sich, dass man an den Komponisten vergangener Epochen vor allem diejenigen Werkeigenschaften auszeichnete, die sich vom Zeitstil abhoben, Altes überwanden und den leeren Platz mit Innovationen erfüllten. Das entspricht den Beurteilungskriterien, die man an die Musik der eigenen Zeit anlegte:

Diese bestanden eben hauptsächlich aus dem Anspruch auf Neues, wobei dieser immer stärker, natürlich unter starker Gegenwehr und Kämpfen zwischen verschiedenen Parteien zum wichtigsten Dogma der neuen Tonkunst erhoben wurde, wobei sämtliche anderen Aspekte bald aus der öffentlichen ästhetischen Diskussion verschwanden, ja dass sogar die Diskussion um eine im ursprünglichen Sinne verstandene Ästhetik unmöglich gemacht wurde.1

Dass dieses Kriterium aber bei weitem nicht ausreicht, um alte Musik in ihrem Zeitzusammenhang zu verstehen, erörtert z.B. Nikolaus Harnoncourt mit vielen (echt) ästhetischen Überlegungen zu Interpretationsfragen in Musik als Klangrede. Aber selbst aus oberflächlicher Kenntnis von Komponistenbiographien wird der Sachverhalt verständlich. So bestritten die meisten Komponisten der Romantik die Zeit des Heransreifens mit Anleihen ihrer Vorgänger und fanden erst spät zum Individualstil. Richard Wagners frühe Opern lohnen einen Hörvergleich mit Webers, Rossinis und Meyerbeers Werken, wobei besonders der Einfluss Webers markant ist. Seine bedeutende Umformung der Oper zum Musiktheater gründete er wiederum nicht auf neuen, aus sich selbst gewonnen Erkenntnissen, sondern auf seinem intensiven Studium der griechischen Theaterkultur.

Diese alten ästhetischen Kriterien und Formvorstellungen v.a. zur dramatischen Kunst, die über jede Traditionslinie der damalig vorherrschenden Opernmusik hinausragten, verband Wagner mit der Tonsprache seiner Zeit, und gewann damit, laut eigener Aussage, aus der Kombination von verschiedensten alten Elementen etwas Neues. Der Streit zwischen den Wagnerianern und Brahmsanhängern offenbart auch eine paradox erscheinende Facette: Brahms selbst wurde als Bewahrer klassischer Traditionen verehrt, wobei die Würdigung vor allem seiner formalen Fortschrittlichkeit erst durch Arnold Schönberg erfolgte. Wagner wiederum fühlte sich als direkter Nachfolger Beethovens und verhielt sich diesem seinem Vorbild gegenüber zeit seines Lebens als glühender Verehrer.

Dass also die traditionelle Aufnahme von alten, aber bewährten Elementen in den Personalstil für die Komponisten der Romantik ganz natürlich war, zeigt das obige Beispiel Wagners und Brahms, deren Kunst ihre Zeitgenossen sogar in zwei erbitterte kämpfende Lager spaltete. Heute kann man in diesem Punkt eine sie verbindende Gemeinsamkeit erkennen. Der Ringkampf zwischen dem Verbinden alter und neuer Elemente ging zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seine härteste Runde: Das Auftreten verschiedenster neuer Stile hatte seine Ursache nicht zuletzt auch in der fortschreitenden Ablehnung bis hin zur Verachtung jeglichen alten Gedankengutes, in vielen Bereichen der Künste und Geisteswissenschaften.

Was jedoch die erste Jahrhunderthälfte im Gegensatz zur zweiten auszeichnet, ist die extrem ausgeprägte kämpferische Haltung, mit denen verschiedene Parteien um die Gültigkeit ihrer künstlerischen Anschauungen kämpften. Diese Auseinandersetzungen waren zudem oft eng mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen verknüpft. In Deutschland wurde dieser Kampf mindestens nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und dem Tod Richard Strauss 1949 entschieden, wobei die absolute Herrschaft der freitonalen/atonalen Musik sich alleine auf das Siegerpodest erhob und bis heute diesen Ehrenplatz behauptet.

Anders sah und sieht es in Russland aus, wo die kulturgeschichtliche Entwicklung einen ganz anderen Umgang mit den neuen künstlerischen Möglichkeiten erforderte. Der Komponist Alexander K. Glasunow, ein bekennender Vertreter einer traditionsverbundenen Musikauffassung, erlebte die ganze Problematik der neuen Musikentwicklung. Das Studium seines Wirkens gibt Aufschluss über die Zeitkonflikte und bietet die Möglichkeit, einen differenzierten ästhetischen Standpunkt kennenzulernen.

Alexander K. Glasunow – Zwischen den Fronten

GlazunovDie angesprochene kulturgeschichtliche Entwicklung in Russland basierte auf der von den russischen Komponisten selbstbewussten Initiierung einer eigenständigen, nationalen Musikkultur. Glasunow hatte daran einen wichtigen Anteil: Der bedeutende russische Musikverleger Belaieff ließ sich besonders durch die Werke des jungen Komponisten begeistern und förderte seine Bekanntheit. Im jungen Erwachsenenalter hatte er bereits internationale Bekanntheit erworben, Kontakte zur St. Petersburger Komponistenszene geknüpft (besonders zu Rimskij-Korsakow, mit dem er zeitlebens befreundet war) und eine erfolgreiche Laufbahn als Komponist vorbereitet. Er besaß ein nahezu unglaubliches musikalisches Gedächtnis und eine lebhafte Vorstellungskraft.

Seine Fähigkeiten trainierte er sehr zielstrebig, bis er in der Kompositionstechnik schon früh echte Meisterschaft erlangte. Diese wird ihm von seinen späteren Schülern nicht nur ausnahmslos zugestanden, sondern sogar bewundert (z.B. Schostakowitsch, Strawinkij, Prokofjew). Seine Spezialgebiete waren die Instrumentenkunde, Instrumentation,und vor allem der Kontrapunkt: Eine reich entwickelte Satztechnik galt ihm als wichtigstes Grundelement einer Komposition. Laut den Überlieferungen Schostakowitschs konnte er durch die eigenen Begabungen auf diesem Gebiet den Studenten tiefe Einsichten in die Werke vergangener Epochen vermitteln (bis hin zur Renaissance, für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich). Aber auch die aktuelle Musik musste in allen Anforderungen genügend sein.

Ein äußerst hoher Qualitätsanspruch an alle kompositorischen Werke bestimmte sein ganzes musikalisches Denken. Sein Urteil über Musikwerke und Komponisten war immer von vielen Faktoren abhängig und beinhaltete eine „große gedankliche Arbeit“2, die diesem Urteil vorausgegangen war.

Als sich bahnbrechende musikalische Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa durchsetzten, teilten sich die Meinungen der Komponisten über die neuen Auffassungen. Solch rasende und vor allem grundlegende Veränderungen zu Beginn einer neuen Kulturepoche hatte es im Bereich der Musik in dieser Form und mit diesen Auswirkungen noch nie gegeben. Bereits die Musik von Richard Strauss und Gustav Mahler riss Grenzen ein, vor allem aus russischer Sicht. Denn viele Komponisten kannten die Begründer der russischen Musik, das mächtige Häuflein, noch persönlich, so auch Glasunow. Sollte man die europäischen Strömungen mit einbeziehen oder unabhängig am eigenen Nationalstil weiterarbeiten?

Glasunows Entscheidung in dieser Frage fiel eindeutig aus: Er positionierte sich natürlich für die Art Musik, die er von Kindheit an erlernt und an sich selbst bis zur Professionalität ausgebildet hatte. Besonders seine hohen kompositionstechnischen Erwartungen begründen seine skeptische Haltung besonders gegen die neuere europäische Musik. Aber er lehnte sie nicht etwa ab; Im Gegenteil gab er jedem Werk eine Chance, selbst wenn sein Urteil hinterher vernichtend ausfallen sollte.

Die Elektra von Richard Strauss schockierte ihn besonders, er assoziierte ihre Klänge mit einem „Geflügelhof“3 Später jedoch sollte er sich mit der Musik dieses Komponisten versöhnen. Ähnliche „Lernprozesse“ durchlebte er mit der Musik mancher seiner Schüler, die jeweils andere, fortschrittliche Wege einschlugen. Alle diese Strömungen (von Strauss, Mahler bis hin zu Schostakowitsch, Katchaturjan, Prokofjew) waren jedoch tonal. Die atonikale oder freitonale Musik, die von der zweiten Wiener Schule vertreten wurde, lehnte er mit der größten Entschiedenheit ab, bezeichnete diese als kakophonistische Musik.

Seine Arbeit als Komponist war gekennzeichnet durch seine enorme praktische Ausrichtung: Neben seinen Kompositionen, betätigte er sich als international anerkannter Dirigent. Er wurde sowohl beim Publikum wie auch bei den Orchestermusikern für seine Interpretationen alter und neuerer Musik geschätzt. Die Beziehung zwischen dem Komponisten, dem Publikum und den ausführenden Musikern entsprach ganz dem Künstlerbild der vorhergehenden Epochen (nicht nur der Romantik): Das Auftreten des Komponisten in der Öffentlichkeit als praktizierender Musiker.

Die atonale Musik leitete eine Epoche ein, in der diese Verhältnisse bewusst gestört wurden, vor allem jenes des Komponisten zum Publikum. Glasunow, der in einer für die russischen Kunst-Musik blühenden Epoche aufgewachsen war, konnte und wollte seine öffentliche Stellung als Komponist nicht modifizieren. Sein Vorbild in diesem Punkt beinflußte seine Schüler enorm: Bei allen modernistischen Ansätzen und Experimenten der russischen Musik in der ersten Jahrhunderthälfte distanzierten sich deren Komponisten niemals endgültig vom Publikum.

Im Gegenteil: In der Zeit der schlimmsten Unterdrückung, dem Stalinismus, bildete die russische Musik sogar einen Gegenpol, der den Menschen ein Ventil verschaffte: In der Musik Schostakowitschs war das ausgesprochen, was man mit Worten nicht aussprechen durfte. Neben Hoffnungslosigkeit, Wut, Bestürzung war es vor allem die Trauer, denn diese wurde als gefährliche Kritik am Regime ausgelegt.

Viele Komponisten fühlten die gesellschaftliche Verantwortung. Manche waren über die Schwierigkeiten und Missstände so verzweifelt, dass sie auswanderten, andere wie Schostakowitsch wagten die lebensbedrohliche Gratwanderung zwischen geheuchelter Regime-Treue und mehr oder weniger versteckter Kritik, wiederum andere stellten sich tatsächlich in den Dienst des Systems.

Glasunow selbst zeigte seine Auffassung gesellschaftlicher Verantwortlichkeit nicht nur in seinem Wirken als Musiker und Komponist sondern auch besonders in seiner Stellung als Universitätsprofessor und Direktor. Sein unermüdlicher Einsatz für die Studenten, sein gezieltes, offenes Vorgehen sogar gegen die politischen Ämter waren jedem, der am Petersburger Konservatorium studierte bekannt. Der einseitige Schrei nach dem Neuen im Bereich der Kunst blieb für ihn fremd, da er mit ihr ganz unterschiedliche und vielseitige Ideale verband. Er setzte sich für die von ihm vertretene Stilistik ein, doch akzeptierte er die Entscheidungen seiner Schüler neue Wege zu gehen, erkannte diese teilweise sogar als zeitgemäß an, wie im Falle Schostakowitschs.

Die folgenden Aussprüche zweier ganz unterschiedlicher Männer, sind eine Verdeutlichung der Glasunowschen Kunstauffassung:

„Könnte dem Publiko die selbsteigene Einsicht hierin verliehen werden; so würde es nicht mehr die ihm zu seiner Bildung kärglich zugemessene Zeit vergeuden an den Produktionen gewöhnlicher Köpfe, also an den zahllosen Stümpereien in Poesie und Philosophie, wie sie jeder Tag ausbrütet; es würde nicht mehr im kindischen Wahn, daß Bücher gleich Eiern frisch genossen werden müssen, stets nach dem Neuesten greifen; sondern würde sich an die Leistungen der wenigen Auserlesenen und Berufenen aller Zeiten und Völker halten, würde suchen sie kennen und verstehen zu lernen, und könnte so allmälig zu echter Bildung gelangen. Dann würden auch bald jene Tausende unberufener Produktionen ausbleiben, die wie Unkraut dem guten Weizen das Aufkommen erschweren.“
Arthur Schopenhauer – Welt als Wille und Vorstellung Band 2, S.189 – 190, Suhrkamp 1986, Frankfurt am Main

„Es gibt keine Abhandlung, die sobald zu gelehrt für mich wäre; ohne auch im mindesten Anspruch auf eigentliche Gelehrsamkeit zu machen, habe ich mich doch bestrebt von Kindheit an, den Sinn der Bessern und Weisen jeden Zeitalters zu fassen. Schande für einen Künstler, der es nicht für Schuldigkeit hält, es hierin wenigstens so weit zu bringen.“
Ludwig van Beethoven, Brief an seinen Leipziger Verleger, Dezember 1809

Von Alexander Fischerauer


1 Die gedankliche Rechtfertigung einer solchen Kunstauffassung könnte mit Recht als idealistisch bezeichnet werden, da diese weder kritisch noch dialektisch behandelt, sondern als nicht diskutierbares Erfordernis einer Zeit aufgestellt wird und damit aus dem reinen Gedanken ohne Begründung: eben idealistisch. Die Bezeichnung dieses Kunstverständnisses als Neue Musik/Zeitgenössische Musik muss zurückgewiesen werden, denn die idealistische Einstellung hat lediglich zu einer Dogmatik geführt, die diese kunstästhetischen Überzeugungen seit mindestens 60 Jahren nahezu unverändert transportiert, somit also alles andere als neu sind. Vielmehr erscheint mir die Beschreibung dieser Zeit als Kunstepoche des Idealismus oder idealistisches Kunst-Zeitalter viel passender.
2 Die Memoiren des Dimitri Schostakowitsch, Propyläen Verlag, 2000, München, S. 134
3 Alexander Glasunow, D. Gojowy, 1986, München, List-Verlag, S. 108