Der russische Komponist Nikolai Rimskij-Korsakow gehörte nicht ohne Grund der fünfköpfigen Gruppe des Mächtigen Häufleins an, die sich aus den Mitgliedern Mili Balakirew, Alexander Borodin, César Cui, Modest Mussorgskij und eben Nikolai Rimskij-Korsakowzusammensetze. Die Gruppe hatte sich die Förderung eines eigenen national-russischen Stiles in der Musik ihrer Werke zum Ziel gesetzt. Rimskij-Korsakow widmete sich vor allem einem intensiven Studium von Kontrapunkt und Harmonielehre, wodurch er sich stark von den anderen Mitgliedern des Mächtigen Häufleins unterschied. Besonders studierte er Berlioz Traité d’Instrumentation und die Partituren Michail Iwanowitsch Glinkas, nach denen er seine Werke stark ausrichtete.1Unter anderem charakterisieren die Musik Rimskij-Korsakows die Verwendung von Leitmotiven – in Anlehnung an Wagners Leitmotivik, volkstümliche und orientalische Elemente sowie ein Bewegen in dissonanter Diatonik.2 Der Komponist wurde vor allem durch seine Märchenopern bekannt. Zu diesen zählt die Oper Schneemädchen/Sneguročka.

Entstehung

snegurockaDie Oper Schneemädchen/Sneguročka entstand in den Jahren 1880 und 1881 und wurde 1895 noch einmal geringfügig überarbeitet. Sie basiert auf einem gleichnamigen Schauspiel von Alexander Ostrowski. Dieses Frühlingsmärchen zählt „zu den philosophisch reichsten und gelungensten Werken seiner [Ostrowskis] Zeit, stellt eine beispielhafte Synthese von Volks- und Kunstmärchen dar.“3 Das Schauspiel wurde neben Rimskij-Korsakows Oper auch von einigen anderen Komponisten vertont, diese waren jedoch nicht so erfolgreich wie Rimskij-Korsakows Werk bzw. blieben erfolglos. Tschaikowski komponierte auf den Wunsch Ostrowskis hin ebenfalls eine Bühnenmusik zum Schauspiel, doch auch diese Uraufführung blieb ohne jeden Erfolg. Ein weiterer bekannterer Komponist, der sich der Vertonung des Märchens widmete, war Alexander Gretschaninow.

Rimskij-Korsakow soll Ostrowskis Stück bereits 1874 gelesen haben, jedoch erst 1879/1880 bei erneuter Beschäftigung Zugang zu diesem gefunden haben. Die Niederschrift der Oper soll in einem wahrhaftigen Rausch des Komponierens stattgefunden haben. „Sofort nach unserer Ankunft in Steljowo nahm ich mir meine Snegurotschka vor. Ich arbeitete jeden Tag von früh bis abends daran; […] Doch die musikalischen Einfälle verfolgten mich zu jeder Stunde und verlangten Konkretisierung.“4 Der Komponist selbst hielt seine Oper für eine seiner gelungensten.

Handlung

Die Oper gliedert sich in einen Prolog und vier Akte und hat eine Gesamtspielzeit von ca. 3 Stunden und 15 Minuten. Die Handlung der Oper trägt eine Fabel in sich. Sneguročkas, die Tochter des Frühlings und des Winters, ist durch diese Kreuzung ein Zwitterwesen, einerseits unfähig zu lieben, andererseits den Wunsch nach Liebe in sich tragend. Dadurch stiftet sie Unheil unter den Menschen und auch der Sonnengott Jarilo ist erzürnt über ihre Existenz, weshalb er den Sommer hinauszögern will. Sneguročkas Mutter schenkt ihr nach einigem Trubel, den ihre Tochter unter den Menschen veranstaltet hat, die Gabe zu lieben. Das Mädchen verliebt sich in den reichen Misgir, schmilzt jedoch daraufhin in der Sommersonne weg. Sie stirbt zwar, Mensch und Natur versöhnen sich aber.

Deutung der Rolle der Sneguročka

Die Figur des Schneemädchens Sneguročka hat zweierlei Bedeutung. Zum einen steht sie für die Wiedervereinigung von Mensch und Natur. Durch ihr zwiegespaltenes Wesen missfällt sie dem Sonnengott Jarilo, den sie jedoch wieder versöhnen kann, als sie Liebe verspürt und in der Sonne schmilzt. Eine zweite Bedeutung kommt Sneguročka in Verbindung mit dem griechischen Persephone-Mythos zu. Diese ist in ihrem Wesen auch wie das Schneemädchen zweigeteilt, da sie ein halbes Jahr bei ihrer Mutter auf der Erde verbringt, und das zweite halbe Jahr bei ihrem Ehemann in der Unterwelt und somit in keiner der beiden Welten wirklich beheimatet ist. Misgir ist ein reicher Handelsmann, der mit der ebenso reichen Kupawa verlobt ist, sich dann jedoch in Sneguročka verliebt. Durch seine Liebe kann er das Schneemädchen von ihrem Zwitterwesen befreien, verliert sie jedoch durch ihren Tod, ihrem „Opfer“, das sie dem Sonnengott macht.

Musik

In der Oper gibt es leitmotivähnliche Elemente. Bestimmte Instrumente werden Charakteren zugeordnet. Klarinette und Englischhorn sind mit dem Hirten Lehl verbunden, während Horn, Solovioline und Harfe zur Frühlingsschönen und Oboe und Flöte zu Sneguročka gehören. Auch klangfarbenreiche instrumentale Dialoge bestimmen große Teile der Partitur, vor allem Partien der Frühlingsschönen und des Zaren Berendej. Gesangsstimmen reagieren hierbei auf Instrumentalklang und Instrumentalsoli auf Klanggesten der Vokalparts.5

Die Musik beschreibt Veränderungen in den Charakteren, so vermittelt sie eine plötzliche Veränderung der Natur in den Augen Sneguročkas, als diese eine gewisse Verbundenheit mit dieser zu entwickeln beginnt. Rimskij-Korsakow verwendet in seinen Opern oftmals orientalische Tonarten, welche stark in der östlichen Volksmusik Russlands vertreten sind, insbesondere im Kaukasus. Die orientalischen Tonarten werden vor allem in der Musik des 19. Jahrhunderts verwendet und neben Rimskij-Korsakow auch von einigen andere russischen Komponisten wie Borodin verarbeitet.

In der Oper Schneemädchen/Sneguročka wird die Frühlingsschöne als eine Figur aus dem Osten dargestellt und zudem mit diatonischem und chromatischem Tonmaterial charakterisiert. Eine orientalisch beeinflusste Charakterisierung ist beispielsweise im Prolog der Oper zu finden.6

Märchenoper

Der Stoff der Oper beinhaltet Motive aus russischen Volksmärchen, nach denen der Schriftsteller Ostrowski sein Märchen schrieb. Auch Rimskij-Korsakow gefielen diese russischen Volkselemente des Märchenstoffes: „Meine Neigung zu russischen Volksbräuchen und dem heidnischen Pantheismus entzündete sich daran in noch nicht gekanntem Maße. Es konnte für mich kein besserer Sujet, keine besseren poetischen Vorbilder geben als Sneguročka, den Hirten Lel oder die Frühlingsfee.“7

Die Verehrung eines Sonnengottes in Zusammenhang mit dem slawischen Sonnenkult spielt in der Oper eine wichtige Rolle. Die Feier des Jarilo-Festes zu Ehren des Sonnengottes wurde vor allem in slawischen Gebieten gepflegt. Auch weitere slawische Bräuche thematisiert Rimskij-Korsakows in seiner Oper, z.B. die Maslenniza, die Austreibung eines harten Winters. Die Maslenniza kommt als erste Brauchtumsszene der Oper vor. Eine Strohpuppe wird als symbolischer Akt der Verabschiedung des Winters verbrannt. Schneemädchen/Sneguročka ist nicht Rimskij-Korsakows einzige Oper, bei der die heidnische Vorstellung eines Sonnengottes einen Platz einnimmt; auch in den Opern Mlada und Die Nacht vor Weihnachten kommen sonnengöttliche Figuren vor.8 Allein die häufige Verwendung russischer Bräuche und heidnischen Kultes, z.B. den Sonnenkult, lässt eine besondere Liebe zur eigenen Nationalität erkennen. Nicht zu vergessen sind die russischen Volksliedtöne in Rimskij-Korsakows Oper. Der Komponist erfand Melodien im Volksliedton und tat dies scheinbar so gut, dass man beispielsweise alle drei Lieder des Hirten Lehl für Entlehnungen hielt.9

Ein kurzer Einblick in die Oper Schneemädchen/Sneguročka bietet doch großen Aufschluss über die Arbeit Rimskij-Korsakows, denn vieles lässt sich nicht nur in dieser, sondern auch in anderen seiner Opern finden. Einige Opern beinhalten Brauchtümer und Vorlieben des russischen Volkes und genau das macht Rimskij-Korsakows Arbeit aus: Er gibt uns mit seiner Musik Einsichten in Traditionen und Sitten seines Landes und verknüpft diese mit modernem Kompositionsstil wie dissonanter Diatonik. Dieses Verwenden fremdartiger Klänge enthält – unter kontrapunktischen Bedingungen – sogar Elemente einer Polytonalität, wie im 1. Aufzug der Oper, als das Spiel verschiedener Schafhörner nachgeahmt wird.10

Die Oper Schneemädchen/Sneguročka zeigt Nikolai Rimskij-Korsakows Vielseitigkeit und seinen unverkennbaren Stil, der ihn zu einem großartigen Komponisten seiner Zeit macht.

Von Julia Walker


1 Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene. Das 20. Jahrhundert III, Bärenreiter, 2006

2 Irina Benkowski, Die Harmonik in den Märchenopern N. A. Rimskij-Korsakovs, Michael Itschert Gardez, 2008, S. 12ff

3 Sigrid Neef, Die Opern Nikolai Rimskij-Korsakows, Ernst Kuhn, 2008, S. 53

4 Nikolai Rimskij-Korsakow: Chronik meines musikalischen Lebens, Reclam. o.J., 1967, S. 255ff.

5Neef, S. 63

6 Benkowski, S. 62

7 Rimskij-Korsakow, S. 253

8 Benkowski, S. 40

9 Neef, S. 62

10 Benkowski, S. 65