Im Klappentext der Tagebuchaufzeichnungen von Werner Vogel, in dem der Autor seine Erinnerungen an die Gespräche mit Othmar Schoeck aufgeschrieben hat, heißt es: „Othmar Schoeck darf als der würdigste und feinsinnigste Nachfolger der großen Liedmeister des 19. Jahrhunderts – Schuberts, Schumanns, Brahms und Hugo Wolfs – angesehen werden. Manch einer sieht im Schweizer Othmar Schoeck den wahren Vollender jener Kunstform, die man als „deutsches Lied“ in der ganzen Welt kennt und liebt.“[1]

Abgesehen von der starken subjektiven Färbung des Zitates ist die Diskrepanz zwischen der geäußerten Behauptung und der Wirklichkeit bemerkenswert. Selbst unter Musikern, sowohl erfahrenen als auch Studenten, ist es schwer, jemanden zu finden, dem Othmar Schoeck heute ein Begriff ist. Das im Vergleich zu der Aussage, Othmar Schoeck sei in einem Atemzug mit Schubert, Schumann, Brahms und Wolf zu nennen, jedenfalls das Lied betreffend, ist ein Gegensatz, der es lohnt, näher beleuchtet zu werden. Ist Othmar Schoeck ein „zu Unrecht“ vergessener Komponist? Welches Recht hat ein Komponist, nicht vergessen zu werden? Haben wir die Pflicht, uns an Schoeck zu erinnern?

Schicksal und Anlage

„Du sagst, ich sei vom Schicksal verwöhnt – ja, wie man´s nimmt, Du weißt eben nicht alles.–“[2], schreibt Schoeck im August 1921 an seine Mutter. Eine Prophezeiung des fast 35 jährigen Komponisten, die im Rückblick auf sein Leben erst eine gewisse Tragik entfaltet. Als diese Worte geschrieben wurden lief es für den jungen Musiker sehr gut. Seine ersten beruflichen Engagements als Dirigent bei verschiedenen heimischen Sängervereinen hatte er bereits wieder niedergelegt, um die Leitung der Sinfoniekonzerte St. Gallen übernehmen zu können und sich daneben voll auf sein kompositorisches Schaffen zu konzentrieren. Mehrere Italienreisen lagen hinter ihm, auf denen er wertvolle Eindrücke für seine Arbeit sammeln konnte. Die ersten Bühnenwerke waren gerade uraufgeführt und 1921 arbeitete Schoeck an der Oper Venus Op. 32, die ein Jahr später in Zürich ihre Erfolgreiche Premiere haben sollte. Später kam dann noch eine Penthesilea (Op. 39, 1927) dazu, die ihm unter den Zeitgenossen endgültig den Durchbruch als Opernkomponisten verschaffte. Dies ist wohl auch das Stück, an das sich heute noch am ehesten erinnert wird. Zur Zeit des Briefes an seine Mutter schien es tatsächlich, als sei er auf dem Weg, den Gipfel der großen Komponisten zu erklimmen.

Wirklich verläuft vieles im Leben Othmar Schoecks sehr geradlinig. Seine musikalischen Talente werden früh entdeckt und gefördert. Als Klavier- und Kompositionsstudent beeindruckt er von Anfang an seine Studienkollegen im Zürcher Konservatorium, in das er als 18 Jähriger aufgenommen wird.[3] Als Max Reger 1907 auf den jungen Studenten aufmerksam wird, fordert er ihn „dringend auf, daß (er) (…) in diese Meisterklasse der Komposition eintreten“ möge.[4] (Gemeint ist Regers neu gegründete Klasse im Leipziger Konservatorium, wo er ebenfalls 1907 die Stelle des Direktors angetreten hatte.)

Ab den 1930er Jahren wird Schoeck vor allem für seine Lieder und Opern sowohl als ausführender Interpret am Klavier und als Dirigent, als auch für die Kompositionen selbst in Europa große Erfolge feiern. Am Schicksal, den Anlagen und der Förderung seiner Talente scheint es wohl nicht zu liegen, dass der Komponist heute derart unpopulär geworden ist.

Was braucht ein Komponist?

Wenn man eine Aufzählung anstrebt, die möglichst lückenlos zeigen soll, was ein „erfolgreicher“ Komponist (über eine fundierte fachliche Basis hinaus) braucht, wird man sicherlich auf zahlreiche Eigenschaften treffen, die Othmar Schoeck erfüllt. Man wird auch sicherlich auf Parallelen zu Vorbildern und Vorgängern des Komponisten stoßen, die unsterblich in die Musikgeschichte eingegangen sind. Er war fleißig, kreativ, hatte eine äußerst einnehmende Erscheinung und Persönlichkeit und konnte erstaunlich gut mit Menschen umgehen. In seinen Interessen und Fähigkeiten war er vielseitig, neben der Komposition und der Tätigkeit als Dirigent und Pianist malte er, war belesen und mit allen Künsten vertraut.

An dieser Stelle kommt ein Faktor zu tragen, den ein Komponist nicht beeinflussen kann. Schoeck überlebte komponierenderweise eine Zeit der extremen Umbrüche, die ihn als Schweizer auch geopolitisch betrafen. Seine Lebensdaten 1886-1957 schließen beide Weltkriege ein. Kurz bevor Schoeck seine ersten Gehversuche als Komponist macht, wird in Wien erst Johannes Brahms begraben. Abgelöst wird dieser von einer Musikergeneration der neuen Ästhetik und der neuen Fragen an musikalische Intention und Ausdruck. Eine Suche, an der sich Schoeck von Anfang an in seinem immer größer werdenden Wirkungskreis aktiv und kompetent beteiligt. Schon die Uraufführung der Trommelschläge Op. 26 1916 macht dem jungen Komponisten bewusst, dass er sich zwischen der uneingeschränkten Gunst des Publikums, die zu bedienen er lange schon in der Lage war, und dem Bedürfnis sich selber in der Sprache auszudrücken, die er sich als ideales Medium erarbeiten wollte, entscheiden musste und dass dieser zweite Weg nicht leicht werden würde.

„Ich habe übrigens in einem Chorstück meine ganze Wut über die Gegenwart Luft gemacht. Das Stück wird meiner Stellung in Zürich vielleicht den Hals brechen“[5], schreibt Schoeck bereits 1915 an Hermann Hesse, mit dem ihn zeitlebens eine innige Freundschaft verband.

Gerade Hermann Hesse kannte dieses Problem selber sehr gut. Der etwas ältere Freund Schoecks war schon damals ein gefestigter Künstler, der dem „unwissenden“ Teil des Publikums und vor allem den Kritikern mit Nichtbeachtung bis hin zu einer gewissen Verachtung begegnete und vorwiegend den Einklang mit sich und seiner Kunst suchte.

Dass sich nun die idealistischen Vorstellungen des Künstlers und der Zeitgeist, im Sinne von Vorlieben und Wünschen des Publikums an die Kunst, direkt begegnen ist selten und hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab, die vollständig zu benennen oder gar vorherzusagen unmöglich ist. Meistens sind die wirklich tief empfindenden Künstler ihrer Zeit voraus. Mit etwas Glück darf ein Künstler selber noch erleben, wie sich sein Stil, seine Sichtweise, seine Neuerungen etablieren. Brahms sowie Beethoven durften ihr Leben mit der Genugtuung angesehener Komponisten beenden, Schubert und Mozart sind die berühmten tragischen Gegenbeispiele. Im Falle Schoecks besteht eine sehr interessante dritte Konstellation, die eher selten zu finden ist. Ebenso wie etwa Korngold, der nach seiner Rückkehr als „Superstar“ aus dem amerikanischen Exil in Europa keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen konnte, hatte Schoeck das Glück, zu Lebzeiten großen Erfolg zu erfahren, diesen aber im Verlauf seines Lebens schwinden zu sehen. Die Ergründung dieser Tatsache steht natürlich stark in der Gefahr ins Spekulative abzurutschen, jedoch gibt es vereinzelt sehr ehrliche Zeugnisse der Zeitgenossen, die darauf hinweisen, dass Schoeck tatsächlich die ästhetischen Erwartungen und Gewohnheiten, die er bei seinem Publikum in den ersten großen Abschnitten seines kompositorischen Schaffens geweckt hatte, später nicht mehr erfüllte.

Kunst für wen?

„Unsere Zeit reagiert auf den Intellekt und den Willen in der Kunst rascher und sicherer als auf das eigentlich Schöpferische (…). Wer das hat, (…) der mag lange verkannt bleiben – es kann ihn betrüben oder ärgern, schädigen kann es ihn nicht. Ich habe oft die Urteile des Tages über Schoeck bedauert, habe oft mit Seufzen oder Ärger zugesehen, mit wie viel weniger an Schöpferkraft andere Erfolg haben konnten, aber ich habe nie daran gezweifelt, daß Schoeck erkannt werden und jene wohlfeilen Erfolge überdauern werde. Und ich habe mit aller Liebe des Freundes und allem Verständnis des Künstlers, habe mit Freude und oft mit grimmigem Jubel zugesehen, wie er sich treu blieb, wie er sich unabhängig hielt bis zum Eigensinn, wie er weder dem Usus des Theaters noch dem Usus des Konzertsaals Konzessionen machte, und zum Glück auch nicht den Mahnungen und Klagen jener Freunde, die ihn gerne für immer in der Atmosphäre seiner frühesten Lieder festgehalten hätten“[6].

Wiederum war es Hermann Hesse, der die Situation des Komponisten genau verstand und benennen konnte. Auch lässt Hesse schon anklingen, dass das Selbstbewusstsein die eigene Kunst betreffend den Künstler nicht automatisch für die Verletzungen immunisiert, die die Nichtbeachtung der eigenen Werke durch das Publikum hervorruft. Und so sehen wir auch bei Schoeck vor allem in den letzten Jahren seines Lebens noch einmal den äußerst menschlichen Zug zu leiden, weil er sich selber verkannt und nicht gewertschätzt sah. Ihn als Liedmeister zu sehen sei wohl bequemer als die Tatsache, dass er auch der Komponist einer Penthesilea sei, äußerte er gegenüber Werner Vogel 1956[7]. Vor allem in Bezug auf seine Opern hat Schoeck am Ende seines Lebens unter deren Verschwinden von den Spielplänen gelitten. Umso größer war seine Genugtuung, als er zu seinem 70. Geburtstag 1956 dann doch noch einmal die Gelegenheit bekam, eine Vielzahl seiner Werke, vor allem seine Opern, zu hören. Obwohl der Komponist ein Jahr später offensichtlich nicht ausschließlich im tiefen inneren Frieden stirbt[8], geben ihm die Jubiläumsaufführungen doch, vor allem für sich selbst (und nicht „vor der Welt“), die Gewissheit, mit seiner Kunst etwas erreicht zu haben.

Ein erfolgreicher Komponist?

Insofern stellt sich hier die Frage nach dem Erfolg eines Komponisten. Wann ist denn nun ein Komponist „erfolgreich“? Wenn wir diese Frage mit Bestimmtheit beantworten können, kommen wir auch der Beurteilung näher, ob ein Komponist „zu recht“ oder „zu unrecht“ vergessen wurde.

Den Erfolg eines Komponisten zu beschreiben bieten sich zwei verschiedene Kategorien an. Die Frage nach dem künstlerischen Wert bzw. der künstlerischen Kraft eines Komponisten. Anders ausgedrückt, handelt es sich um die innere Tiefe und äußere Qualität der von ihm hinterlassenen Werke. Die andere Kategorie wäre demnach der äußere Erfolg, den ein Komponist erlangt. Hier sind, wie oben schon beschrieben, in hohem Maße die Vorlieben des „breiten Publikums“ mitverantwortlich, darüber hinaus auch zahlreiche äußere Umstände, die im Falle Schoeck (Vorbehalte des Publikums gegen Deutsche Lieder in der Nachkriegszeit) und dem kurz erwähnten Korngold (als vor den Nazis geflohener „Vaterlandsverräter“ nach dem Krieg nicht mehr akzeptiert) durchaus zu beachten sind.

In der Frage „zu recht“ oder „zu unrecht“ vergessen darf diese Kategorie nur eine untergeordnete Rolle spielen. Schon der Knabe Mozart pflegte bei seinen Hausmusiken auf Reisen zu erfragen, ob denn wirkliche Kenner anwesend seien. War dies nicht der Fall, mussten sich die Anwesenden mit einem unmotivierten, gelangweilten Wunderkind begnügen. Auch Hermann Hesse zog sich im Laufe seines Schaffens immer mehr zurück und schrieb, wie gesagt, mehr für sich selbst als für das Publikum, und schon gar nicht für die Kritiker, die er als Unwissende verachtete. Der reife Künstler, der sein Streben ganz auf den eigentlichen Wert seiner Kunst setzt, ist scheinbar durchaus in der Lage, den äußeren Erfolg vorerst zu vernachlässigen.

Somit bleibt also noch der „innere“ Erfolg eines Künstlers, der im Endeffekt sogar ganz ohne Publikum stattfindet. Wenngleich gerade hier der Mensch von einem Kunstwerk oder dem Gesamtschaffen eines Künstlers profitieren kann, wenn also der Künstler „etwas zu sagen“ hat. Die Frage ist also, wie viel Musik schlummert unentdeckt in den Archiven, die qualitativ hochwertig und intellektuell tief genug ist, um die Menschen, unabhängig in welcher Zeit sie leben, bereichern zu können? Und in dem speziellen Fall gefragt: Gehört Othmar Schoeck zu diesen Komponisten?

Der Musiker

Othmar Schoeck war ein technisch ausgesprochen kompetenter Komponist. Er hatte Talent, welches schon früh gefördert und in sinnvolle Bahnen gelenkt wurde. Mit der Komposition begann Schoeck sich schon als Kind zu beschäftigen. In einem Künstlerhaushalt aufgewachsen, wurde er von Anfang an intellektuell gefördert aber auch herausgefordert. Der musikalischen Ausbildung vorausgegangen war ein lebhaftes Interesse an der Malerei, die sein Vater beruflich betrieb. Dieser blieb der Komponist sein Leben lang treu, eine Beschäftigung, die ihn wiederum mit seinem Freund Hesse verbindet. Die Förderung und der spielerische Umgang mit den Künsten führten dazu, dass im Hause Schoeck schon 1901 eine kleine Oper Der Schatz im Silbersee (nach Karl May) mit Musik von Othmar Schoeck und einem Libretto von seinem Bruder Walter aufgeführt wurde.[9]

Sobald das Talent entdeckt und die Motivation bei dem Schüler geweckt waren erhielt Schoeck eine umfassende musikalische Ausbildung bei fähigen Lehrern, die ihn ehrlicherweise weitervermittelten, wenn sie sich ihrer Pädagogischen Grenzen bei dem Ausnahmetalent bewusst wurden.[10]

Der Künstler

Zu dem herausragenden Talent und der fundierten fachlichen Ausbildung bildete Schoeck ein tief empfindendes Wesen heraus, mit einem bis zuletzt kindlichen Interesse an allen möglichen Themen und Bereichen des Lebens und der Kunst im Speziellen. Vogel berichtet erstaunt wie präsent Schoeck die Prosa-Texte Joseph von Eichendorffs sind, als er ihn unvorbereitet darauf anspricht. Schoeck war wohl in der Lage Inhalte, Personen, Beziehungen, Motive und Strukturen der Romane auf Anhieb wiederzugeben und hatte auch durchaus ein sehr klares Urteil dazu parat.[11] 

Was die Literatur angeht setzte sich Schoeck vor allem mit Eichendorff und Nikolaus Lenau auseinander, die er auch überdurchschnittlich häufig vertonte. Neben einer größeren Anzahl von Hesse-Liedern bilden die beiden Romantiker einen großen Teil der Gedichtvertonungen von Schoeck. Auffällig ist hierbei, dass sowohl Klavier- als auch Orchesterzyklen entstanden, und dass der Komponist sich über die Besetzungen sehr klare Vorstellungen machte. So erklärte er Einzellieder für nicht tauglich, in Orchesterbesetzung gespielt zu werden. Das Orchesterlied benötige eine größere Form, daher entstanden für die Besetzung Gesang mit Orchester vorwiegend abgeschlossene Liedzyklen. Die einzelnen Lieder in dem Verband des Zyklus verglich Schoeck mit den Stationen der Passion.[12]

Überhaupt resultiert aus der intensiven Beschäftigung mit den Dichtern eine Hochachtung und in der Auswahl und Vertonung der Gedichte eine außerordentliche Behutsamkeit, teilweise sogar eine gewisse Ehrfurcht. Schoeck gehörte zu den Komponisten, denen ihre Werke mitunter keine Ruhe ließen. Er veränderte und verbesserte die fertigen Stücke immer wieder mehrfach, bis er selber mit dem Ergebnis zufrieden war. Manche Gedichte ließ er sein Leben lang unangetastet, obwohl ihn eine Vertonung reizte. In dem Moment, in dem Schoeck keinen dem Werk angemessenen Weg zur Vertonung fand hatte er die Größe, sich selbst und seinem Umfeld das auch einzugestehen. „Möchte mir dafür einmal die würdige Weise einfallen!“ bekennt er dem Freund Hesse seinen Wunsch, einen Vers von diesem zu vertonen die Schoeck „von Anbeginn in allen Lebenslagen in Ohr und Herz“ klingt.[13]

Die Musik

Stilistisch gesehen bildete sich Othmar Schoeck zu einen extrem vielseitigen Komponisten, der die Zeichen der Zeit früh, wie schon in den Trommelschlägen, erkannt hatte, und sie für sich zu nutzen verstand. Er selbst hatte sich in jüngeren Jahren von Debussy und Wagner bewusst ferngehalten, um kein „Opfer“ des chromatischen Stiles oder des Impressionismus zu werden.[14] Ausgezahlt hat sich diese Vorsicht allemal, denn eines kann man ganz sicher über Schoeck sagen, dass er seinen eigenen Stil erfunden, etabliert, geprägt und bis zum Ende immer weiterentwickelt hat.

Die Einschätzung steht an dieser Stelle im Raum, dass er gerade im Verlauf der 1930er und folgenden Jahre, von seinen Kollegen in Sachen Novitäten und Avantgardismus überholt und abgehängt wurde. Bedenkt man, dass Arnold Schönberg sogar noch gute 10 Jahre vor Schoeck geboren wurde, Alban Berg fast gleichzeitig, mag man dazu neigen, ihn vorschnell in eine konservative Richtung einzuordnen. Dies ist sicherlich auch ein Grund warum die Kompositionen sich nicht durchgesetzt haben. Schoeck ist ein unbequemer Komponist, aber er fühlte sich nicht berufen, die gesamte musikalische Sprache zu erneuern oder überhaupt auf einen Schlag zu verändern. Was er allerdings tat, war seine eigene Sprache zu suchen und zu entwickeln. So gesteht er einzelnen Stellen aus seinen Werken rückblickend eine gewisse Nähe zur Zwölftonmusik zu.[15] Der Unterschied zur umfassenden Umwälzung der Musiksprache hin zur Dodekaphonie besteht bei Schoeck in der Tatsache, dass er die verschiedenen Elemente gezielt benutzt um Stimmungen darzustellen, gewissermaßen eine gleichberechtigte Verfügbarkeit aller kompositorischer Möglichkeiten, die er je nach Bedarf benutzt (oder eben auch nicht) und aus deren Kombination, Variation und Weiterentwicklung sich der eigene Stil ergibt.

Schoeck ist kein Komponist, der nach großen Effekten und der äußeren Sensation sucht. Auch hier ist ein Grund zu suchen, warum seine Musik hinter den Zeitgenossen und den folgenden Generationen langsam verschwinden konnte. Eine umfangreiche kritische Beurteilung des Komponisten steht noch aus, ist die verfügbare Literatur doch vorwiegend dem näheren, wohlwollenden Bekanntenkreis des Komponisten entsprungen. Doch es scheint tatsächlich als seien die großen künstlerischen Stärken des Komponisten gleichzeitig das, was ihn die Wirkung auf das breite Publikum kostet. Es gibt, vor allem in den Liedern, mitunter wenig Möglichkeiten für den Sänger oder die Sängerin, sich zu „profilieren“ oder gesanglich groß in Szene zu setzen.

Am Beispiel der Elegie Op. 36 (1923) ist das sehr deutlich spürbar. Entstanden in einer Zeit des tiefen Liebeskummers fand Schoeck in Lenau und Eichendorff zwei Dichter, die in ihrer Naturbezogenheit und Melancholie mehr als geeignet sind, den Komponisten zu „verstehen“. Die Eichendorff-Texte fügte Schoeck sogar erst nach der Komposition den düsteren Lenau-Liedern hinzu, um den Zyklus noch „aufzuhellen“.[16]  Die Elegie ist, trotz Schoecks Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, ein in sich gekehrter Zyklus, der durch seine durchdachte Instrumentierung und seinen Umgang mit der Stimme und dem Text Stimmungen erzeugt, die dem Zuhörer viel zu sagen haben. Allerdings handelt es sich dadurch tatsächlich nicht um ein Werk, das sich beim ersten Hören erschließt. Es gibt kaum Momente in denen man schlicht beeindruckt ist von der rein äußerlichen Reproduktion durch die Interpreten. In diesem extremen Gegensatz zum Belcanto zwingt Schoeck gerade den Sänger zur Bescheidenheit bei einem nicht unerheblichen technischen Aufwand. Und eine Leistung fordert er sich durch das Weglassen von spektakulären Momenten auch von seinem Publikum ein. Der Zuhörer kann einiges von dem Zyklus bekommen, aber er muss auch einen gewissen intellektuellen Einsatz bringen. Der breite Erfolg sogar von reinen Schoeck-Programmen (nicht nur im Bereich des Liederabends) deutet darauf hin, dass diese Bereitschaft zu Lebzeiten des Komponisten noch beim Publikum vorhanden war, heute gibt es Gründe, und zwar mitunter legitime oder wenigstens nachvollziehbare Gründe, warum der Hörer diesen Aufwand nicht mehr bringen kann oder möchte.

Sicherlich ist dies ein Problem welches den gesamten Bereich „Lied“ heute betrifft und somit ist es, diesen Punkt betreffend, kein Wunder, dass hochwertige Kompositionen wie die Elegie, aber auch Lebendig begraben (Op. 40, 1927 nach Texten von Gottfried Keller) verschwinden. Bezüglich Schoecks Opern, anderen Orchesterstücken und auch den Orchesterliedern darf nicht verschwiegen werden, dass sie mitunter umfangreiche Besetzungen erfordern. Sicherlich ist auch dieser rein praktische Grund immer wieder ein Hindernis gewesen. Auch hier wiederholt es sich, dass die großen Stärken des Komponisten, der alle benutzen Farben immer mit größter Bedacht eingesetzt hat, der Verbreitung seiner Werke Steine in den Weg legen.

Und jetzt?

Othmar Schoeck ist ein nahezu vergessener Komponist. Das ist sehr schade. Nicht für ihn selbst, denn was er sich für sich und seine Kunst vorgenommen hat, hat er zu einem mindestens zufriedenstellenden Teil erreicht. Jedenfalls ist das der Eindruck, der aus Briefen und Zeitzeugnissen entsteht. Schade, eigentlich sogar tragisch ist das für uns heutige Konsumenten von klassischer Musik. Die Bedeutungslosigkeit von Othmar Schoeck in der heutigen Zeit steht beispielhaft für immer bequemere Hörgewohnheiten und leider auch für einen immer geringeren Anspruch an das Repertoire. Natürlich ergibt sich hieraus auch eine große Chance für Interpreten und Hörer, Neues für sich zu entdecken, indem man „unverbrauchte“ Musik erschließt.

Schoeck ist ganz bestimmt ein Komponist bei dem man musikalisch hochwertige Arbeiten findet, die nicht austauschbar sind. Angereichert sind diese Werke durch eine Tiefe und einen Geist, der uns heute viel über eine große Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts verrät, über die Welt und die Natur in der wir Leben, uns selber und über das Verhältnis zu dieser Welt. Es gibt keine Pflicht, auch keine musikgeschichtliche, sich einen Komponisten im Bewusstsein zu halten. Diese Pflicht kann sich nur jeder individuell selbst auferlegen. Und der Komponist hat kein Recht darauf, nicht vergessen zu werden. Insofern ist das viel strapazierte Wort des zu Unrecht vergessenen Komponisten hier, wie überall, fehl am Platz. Wer jedoch mit Schoecks geliebtem Dichter Lenau geht und „sich selbst für die Welt und für seine Freunde veredeln“ möchte, wer auf der Suche ist nach zeitlos immer gültigen Wahrheiten und großer Musik, der wird ganz sicher vom Leben und Schaffen Othmar Schoecks profitieren können. Kein Schubert und kein Mozart hat etwas davon, dass man sie heute verehrt und ebenso ist auch in diesem Fall dem Komponisten nicht damit geholfen. Othmar Schoeck wartet in aller Ruhe auf uns, auf seine Wiederentdeckung und er hat eine ganze Ewigkeit Zeit. Wir haben diese Zeit nicht und Schoeck hat uns noch einiges zu sagen.


[1]        Othmar Schoeck im Gespräch, Tagebuchaufzeichnungen von Werner Vogel, Atlantis Verlag Zürich 1965
[2]        Post nach Brunnen, Briefe an die Familie 1908-1922 Atlantis Verlag Zürich 1991
[3]        Werner Vogel: Othmar Schoeck, Leben und Schaffen im Spiegel von Selbstzeugnissen und Zeitgenossenberichten, Atlantisverlag Zürlich, 1976 S.37f
[4]        Vogel S.47
[5]        Vogel S.98
[6]        Vogel S.195f
[7]        Othmar Schoeck im Gespräch S.172
[8]        Vogel S.313
[9]        Vogel S.30f
[10]      Vogel S.47
[11]       Othmar Schoeck im Gespräch S.79f
[12]      Othmar Schoeck im Gespräch S.20
[13]      Vogel S.314
[14]      Othmar Schoeck im Gespräch S.66
[15]      Othmar Schoeck im Gespräch S.72f
[16]      Othmar Schoeck im Gespräch S.130