Mit der Entwicklung der Elektroakustik in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts hat sich die Situation für die Aufführung von Musik grundlegend geändert. Neben dem Besuch von zeit- und ortsgebundenen Konzerten kann heute jedermann Musikaufnahmen konsumieren wann und wo er will. Musik ist zu einem uneingeschränkt verfügbaren Konsumprodukt geworden.
Heute spielt das mediale und das Tonträger-Musikleben eine grössere Rolle als der konventionelle Konzertbetrieb. Viele Musikfreunde haben ja nie die Möglichkeit, Konzerte mit den grossen Orchestern, Dirigenten und Solisten zu besuchen. Sie kennen die Berliner oder Wiener Philharmoniker nur von Rundfunk- und Fernsehübertragungen und von Aufnahmen.
Nun müsste man eigentlich annehmen, dass sich diese Situation auf die Aufführungspraxis und die Interpretation von aufgenommener Musik ausgewirkt hat. Tatsächlich gab es bereits in der Anfangszeit der Elektroakustik Bestrebungen, die neuen technischen Möglichkeiten medienspezifisch zu nutzen.
Der erste Musiker, der die Möglichkeiten der Elektroakustik für das Musikleben erkannte, war der Dirigent Leopold Stokowski (1882 – 1977). Er machte bereits im Jahre 1931 mit dem Philadelphia Symphony Orchestra in Zusammenarbeit mit den Bell Laboratories erste experimentelle Stereoaufnahmen der Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgskij, die er (auf der Basis der Instrumentierung von Ravel) im Hinblick auf eine möglicht intensive Lautsprecherwiedergabe bearbeitete.
Weiter konzipierte er Jahre 1941 den Sound Track für den Disney-Musikfilm Fantasia mit einem voll bildbezogenen 6-Kanal-Ton. Und Anfang der Sechszigerjahre entwickelte er mit der DECCA die von Konzertsaalvorstellungen losgelöste Phase/4-Aufnahmetechnik, die er mit einer spektakulären Aufnahme der Scheherazade von Rimskij-Korsakow der Öffentlichkeit vorstellte.
Stokowski blieb nicht allein. Anfang der Sechzigerjahre realisierte der Produzent John Culshaw für die DECCA eine elektroakustische Inszenierung von Wagners Ring mit George Solti und den Wiener Philharmonikern. Diese von den Vorstellungen der üblichen Opernhaus-Inszenierungen losgelöste, eigenständige Aufnahme-Inszenierung ist heute legendär. Übrigens: Culshaw beschrieb sein Konzept in seinem Buch Resounding the Ring.
Ein weiteres Beispiel: Der Pianist Glenn Gould zog sich im Alter von 32 Jahren ganz aus dem Konzertleben zurück und machte nur noch Aufnahmen. Er hatte den ganzen Konzertbetrieb satt und interessierte sich nur noch für das, was er von seinem Spiel in seinem eigenen Studio via Lautsprecher hörbar machen konnte.
Am konsequentesten ging aber der Dirigent Herrmann Scherchen (1891 -1966) vor. Er sah die Zukunft der abendländischen Musik nicht mehr im Konzert, sondern ausschliesslich in den Medien. Scherchen glaubte, dass das Ende der abendländischen Musik bevorstehe und man deshalb die musikalischen Traditionen mit einer möglichst vollkommenen Aufnahmetechnik konservieren müsse.
In den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts baute er in dem kleinen Tessiner Dorf Gravesano einen von der UNESCO finanzierten Aufnahmestudio-Komplex mit mehreren akustisch unterschiedlichen Aufnahmeräumen. Die Studios waren mit allen damaligen Möglichkeiten der elektronischen Klanggestaltung ausgerüstet.
Sein Ziel: Die Aufnahme und Wiedergabe von Musik sollte in der Hand und in der Verantwortung eines gestaltenden Interpreten-Tonmeisters liegen, wobei der elektronischen Klanggestaltung ein zentraler Stellenwert zukommen sollte.
Scherchen ging dabei folgendermassen vor: Der erste Schritt war eine „raumlose“ Aufnahme. Das war konträr zur Ästhetik der damaligen LP und der heutigen CD-Produktionen, die in Konzertsälen gemacht werden. Das akustisch total nackte und trockene Klangergebnis wurde dann in einem zweiten Schritt elektronisch gestaltet, und zwar mit partiturbezogener Gewichtung der einzelnen Stimmen, durch Klangveränderungen und durch Hinzufügung von künstlich erzeugtem Nachhall. Scherchen wollte dem Interpreten-Tonmeister ein Instrumentarium zur Verfügung stellen, mit dem er für jedes Stück die historisch, ästhetisch und musikalisch angemessene Klanggestalt realisieren konnte. Und zwar ohne jeden Konzertsaal-Bezug.
Scherchens Ideen und Vorstellungen, sowie die daraus resultierenden Aufnahmen wurden aber weder von den Musikern und der Musikindustrie, noch von den Musikkonsumenten akzeptiert. Tatsächlich war das Ergebnis seiner Experimente auch nicht sehr überzeugend. Seine Intensionen waren richtig, er hatte aber damals noch nicht die technischen Möglichkeiten, die heute dank der digitalen Audiotechnik zur Verfügung stehen.
Das Experiment wurde nach seinem Tod im Jahre 1966 nicht weiter geführt. Und die Musiker und die Konsumenten erwarteten von den Musikaufnahmen weiterhin eine möglichst optimale Vermittlung von Konzertsaal-Illusionen. Und die bekamen sie vor allem vom Medienstar Herbert von Karajan, der seit den Sechzigerjahren bis zu seinem Tod im Jahr 1989 rund 700 Werke von 130 Komponisten für die LP und dann für die CD einspielte. Weltweit wurden rund 300 Millionen Tonträger mit seinen Aufnahmen verkauft.
Bei seinen Aufnahmen blieb Karajan ebenso konventionell wie bei seinen Konzertprogrammen. Üblicherweise probte Karajan mit den Berliner Philharmonikern ein Programm für Konzertaufführungen. Die Aufnahmen der gleichen Werke wurden dann nach den Konzerten im gleichen Saal gemacht. Logischerweise konnten diese Aufnahmen nur eine Konzertsaal-Illusion vermitteln.
Karajan benutzte die Elektroakustik primär als Vehikel zur grösseren Verbreitung seiner Interpretation. Und vielleicht auch als Beitrag zu seiner angestrebten Unsterblichkeit als Interpret. Zur Schaffung eines mediengerechten Musiklebens hat Karajan eigentlich nichts beigetragen. Im Gegenteil, dank seiner Berühmtheit zementierte er die Situation, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Musikaufnahmen duplizieren weiterhin Konzerte und die technischen Möglichkeiten der digitalen Audiotechnik werden weiterhin nicht primär künstlerisch, sondern nur zur Erhöhung der Perfektion des Endprodukts eingesetzt.
Von Jürg Jecklin
No Comment