„Spontini aber – starb, und mit ihm ist eine große, hochachtungsvolle und edle Kunstperiode nun vollständig ersichtlich zu Grabe gegangen: sie und er gehören nun nicht mehr dem Leben, sondern – der Kunstgeschichte einzig an. – Verneigen wir uns tief und ehrfurchtsvoll vor dem Grabe des Schöpfers der Vestalin, des Cortez und der Olympia!“

Kein anderer als Richard Wagner drückte in diesen Zeilen seine Bestürzung über Spontinis Ableben im Jahre 1851 aus. Wer war aber dieser Komponist, den Wagner als einen der bedeutendsten Hauptvertreter des zeitgenössischen Operngenres (neben Rossini und Meyerbeer) einschätzte und der heute komplett in Vergessenheit geraten ist? Wie kann es erklärt werden, dass sowohl Werk als auch Komponist sogar unter Berufsmusikern völlig unbekannt sind?

Ein Italiener in Frankreich

Aus heutiger Sicht mag man es als eine Besonderheit empfinden, was im 19. Jahrhundert ganz normal war: Italienische und deutsche Komponisten komponierten französische Opern, angelehnt an die Pariser Bedürfnisse und den Geschmack des dortigen Publikums. Unter diese Kategorie fallen zum Beispiel die Opern Guillaume Tell (Rossini), La Favorite (Donizetti), Les Hugenots und Robert le diable (Meyerbeer). Alle diese Werke gehören der sogenannten Grande Opéra an. Werke französischer Vertreter sind etwa La Muette de Portici (Auber) oder La juive (Halévy).

Charakteristisch für diese Gattung sind die groß angelegten, historischen Stoffe, die zumeist in vier oder fünf Akten als große Bühnenspektakel gegeben werden. Politische Parteien, Geistliche, Liebesromanzen, bewaffnete Massen und Balette wurden bunt durcheinander gemischt (siehe Abb.) zum zeitweise international erfolgreichsten Kunstprodukt auf dem Gebiet der Oper. Selbst bei nur oberflächlicher Betrachtung sticht es ins Auge, dass die soeben aufgeführten, bedeutendsten Werke dieser Gattung fast alle der Vergessenheit anheim gefallen sind. Meyerbeer, Halévy und Auber werden aktuell weder in Frankreich, Deutschland und Österreich gegeben, von Rossini und Donizetti lediglich die italienischen Opern (z.B. Der Barbier von Sevilla sowie L´elisir d´amore).

Spontinis Werk sollte jedoch nicht mit jener aus dem Gedächtnis gelöschten Operngattung in einen Topf geworfen werden. Er ging jenen Komponisten nicht nur zeitlich voran, sondern war vor allem vom künstlerischen Standpunkt her gesehen ein wahrer Idealist, der die wichtige Bedeutung der Gluck´schen Opernreform erkannt hatte und diese zu wahrer Vollendung bringen wollte. In Italien war dem jungen Komponisten zunächst kein Glück beschert. Seine frühen (noch italienischen) Werke konnten sich in seiner Heimat nicht durchsetzen. Er wandte sich deshalb, wie viele Künstler seiner Zeit, nach dem europäischen Opernzentrum Paris, um dort eine Karriere als erfolgreicher Opernkomponist zu wagen.

Mit seiner Début-Oper La petite maison erwirkte er zumindest einen gehörigen Presse-Skandal, der vor allem von den vielen italienfeindlichen Zeitungen befeuert wurde und ihm, entgegen der Absicht der Journalisten, erste Bekanntheit in der Pariser Musikszene einbrachte. Von nun an sollte sein Schaffen mehr und mehr von Erfolg gekrönt sein, seine nächste Oper (Milton) erfreute sich bereits zusehender Beliebtheit. Den großen Durchbruch erzielte er allerdings mit La Vestale (deutsch: Die Vestalin), einer großen, fünf-aktigen Oper nach einem antiken Stoff, ganz nach Gluck´schem Vorbild.

Die Gluck´sche Opernreform und ihr Vollender?

Wie vorhin bereits angedeutet wurde, hatte Spontini eine starke Beziehung zur Gluck´schen Musik und dessen Opernreform. Er schmeichelte sich ganz unbescheiden mit der Tatsache, dass er die Gluck´sche Opernrichtung (die er für die einzig wahre und richtige hielt) mit der Vestalin und Cortez zur Vollendung geführt hätte, und deshalb auf diesem Gebiet (der Oper) von nun an nichts Neues und Bedeutendes mehr geleistet werden könne.

“Après Gluck c´est moi qui fait la grande révolution avec La Vestale. (…) Or, comment voulez-vous que quiconque puisse inventer quelque chose de nouveau, moi Spontini déclarant ne pouvoir en aucune façon surpasser mes œuvres précédentes, d´autre part étant avisé que depuis la Vestale il n´a point été écrit une note qui ne fut volée mes partitions.”[1]

Im ersten Moment wirkt solch eine Selbsteinschätzung vielleicht überheblich, bei näherer Betrachtung wird dieser Eindruck etwas relativiert, vor allem wenn man die Beschaffenheit der Spontinischen Opernstoffe und seiner Musik mit denen seiner direkten Nachfolger vergleicht, welche die Einflüsse seines Werkes mit diversen anderen Strömungen vermengten und daraus die Grande Opéra aus der Taufe hoben.

 Stilbewusstsein und das Verhältnis zu Gluck

Die Musik hat den Text mit dem größtmöglichen, natürlichen und treuesten Ausdruck zu begleiten – so ließe sich eine der wichtigsten musikalischen Grundüberzeugungen Spontinis in Bezug auf die Oper vielleicht beschreiben. In diesem Punkt, nämlich einer ausdrucksvollen musikalischen Sprache, die dem Text folgt, eiferte er Gluck nach, der sehr ähnliche Bestrebungen mit seiner Opernreform umgesetzt hatte. Das rein artifizielle Element schloss er im Gegensatz zu denjenigen Zeitgenossen ganz aus, welche die Opern-Musik ihrem Publikum als möglichst angenehme Unterhaltung vorlegten, immer nur auf die oberflächliche Bewunderung eines irgendwie gearteten Virtuosengesanges abzielend.

Die Vestalin kann daher nur unter dem Gesichtspunkt mit den Werken der Grande Opéra verglichen werden, was Ausdehnung und groß angelegte Handlung betrifft (die hier aber explizit nicht historisierend sondern antik ausfällt). Beim Anhören dieses Werkes[2], verblüfft die himmelweite Differenz zur Stilistik von Rossini oder Bellini. Romantische Opernmusik einer ganz individuellen Ausprägung, die durch ihren tiefen musikalischen Ausdruck und Authentizität besticht, lässt erahnen, warum Spontini beim so schwierig zu überzeugenden Pariser Publikum mit seiner, der Gluck´schen Reform verpflichteten Musik, Erfolg haben konnte. Natürlichkeit der sängerischen Melodik und feine Ausdrucksnuancen könnten auch heute noch bestechen. Wenn man dagegen die Kapriolen der Donizettischen und Bellinischen Opern hält, vermag man kaum zu glauben, dass diese musikalisch so expressiven, aber auch mit einer bewegenden, dramatischen Handlung versehenen Werke Spontinis heute im Gegensatz zu jenen Lucias und Normas keinen Platz auf den Bühnen finden. Zumindest kann aus meiner Sicht kein rationales Argument geltend gemacht werden, warum jener überhaupt nicht, Bellini dagegen mit einer frappierenden Regelmäßigkeit aufgeführt wird.

Die Bedeutung des Vergessens – Ein Paradoxon unserer Zeit

Von der Renaissance-Musik bis hin zur Romantik war die Musik, die in den Konzertsälen gegeben wurde, die aktuelle, zeitgenössische Musik. Das Verständnis „alter“ Musik hingegen war ausdrücklich ausgewiesenen Experten, z.B. den Komponisten selbst, vorbehalten, eine Aufführung derselben war nicht üblich oder zumindest etwas Besonderes. „Bekanntes interessierte nicht mehr, man wollte Neues und nur Neues. Heute hingegen interessiert faktisch nur Bekanntes und allzu Bekanntes.“[3] 

Es waren die Spezialisten Mendelssohn, der das Werk Johann Sebastian Bachs, und Richard Wagner, der die neunte Symphonie sowie die späten Streichquartette Beethovens dem breiten Publikum ihrer Zeit erschließen konnten. Ohne die Vermittlung dieser Künstler würden diese beiden Komponisten heute ganz anders wahrgenommen werden (unabhängig davon, wie dieser Umstand zu bewerten sei).

Die Tatsache für sich genommen, dass Bach und Beethoven so sehr in Vergessenheit geraten konnten, wurde von diesen Komponisten gar nicht bemängelt. Dieses nahmen sie als Normalzustand hin: Nämlich, dass alte Komponisten, eben weil sich die Musik stetig weiterentwickelte, vergessen werden mussten, da sie für das zeitgenössische Publikum, das nur die aktuellen musikalischen Tendenzen kennen und über sie urteilen konnte, unverständlich waren. Wagner und Mendelssohn brachten die Werke daher nicht in ihrer originalen Form auf die Konzertbühne, sondern in eigenständigen Bearbeitungen, welche die alten Werke in die aktuelle Zeit transferierten (so gibt es z.B. hunderte Bearbeitungen Beethovens 5. Symphonie aus dem 19. Jahrhundert für verschiedenste Besetzungen). Es lässt sich auf der Basis dieser Erkenntnisse aus der Musikgeschichte feststellen, dass das Vergessen der alten Komponisten als notwendig, ja normal wahrgenommen wurde, da das alleinige Interesse des Publikums an der lebendigen Musikkultur ihrer Zeit bestand.

Im Gegensatz dazu ist die heutige Rezeption, die das Vergessen mancher qualitativ scheinbar hochwertiger Musik bemängelt, auf ein unnatürliches Verhältnis zur musikalischen Kunst überhaupt zu bewerten. Dass die zeitgenössische Musik nur vorgibt, eine Stütze der abendländischen Kunstmusik zu sein, es in Wirklichkeit aber gar nicht ist, sondern sich nur an deren Wirkstätten, den Konzertsälen, positioniert (siehe Musik und die Verteidigung des Abendlandes, Volkmar Klien[4]), kann jeder Konzertveranstalter und jedes CD-Label für klassische Musik bezeugen, deren Umsätze hauptsächlich auf jener alten Musik der vergangenen Epochen fußen.  

Die heutige Musik-Rezeption könnte man mit einem Museum vergleichen, in dem einige wenige Werke, geschaffen von einer noch kleineren Auswahl bestimmter Künstler, in Schaukästen mit getrübten Fenstern ausgestellt werden, sodass der ursprüngliche Glanz dieser Stücke eigentlich nur mehr durch eine Reminiszenz an Vergangenes ersetzt wird, aufgrund der Größe und tiefen Empfindung dieser Werke jedoch einen erheblichen Einfluss auf das Gemüt der Kunstinteressierten unserer Gesellschaft entwickeln. Diese Begeisterung erreicht tatsächlich sehr starke Ausprägungen und begründet die eigentliche Leidenschaft der modernen, zeitgenössischen Musiker für die alte, klassische Musik.

Auf Spontini bezogen würde unter Einbeziehung des Vorgebrachten gesagt werden können: Mit Recht wurde dieser Komponist zugunsten der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts vergessen, mit Unrecht übergeht man ihn in einer historisierenden Museumskultur.


[1] Richard Wagner Mein Leben, Paul List Verlag, München, 1963, S. 339f.

[2] z.B. https://www.youtube.com/results?search_query=la+vestale

[3] Musik als Klangrede, N. Harnoncourt, Bärenreiter, 2010, Kassel, S.267

[4] https://contrapunkt-online.net/neue-musik-und-die-verteidigung-des-abendlandes/