Classic meets Pop, Virtuosität und Improvisation
Am 12.11.2011 fand die 17. Wiener gesangswissenschaftliche Tagung (kurz: Wiegewita) unter dem Thema Pop meets Classic, Virtuosität und Improvisation statt. Auch dieses Mal konnte die Veranstaltung wieder mit einigen sehr bekannten Vortragenden wie z.B. der Jazzsängerin Mag. Ines Reiger, dem berühmten Phoniater Prof. Dr. Wolfram Seidner, dem Countertenor Kai Wesseloder der Sängerin (World Music) Timna Brauer aufwarten.
Die seit 2004 bestehende Tagungsreihe wird von Prof. Dr. Julia Bauer-Huppmann, Vorsitzende des Zentrums für Stimmforschung und angewandte Gesangspädagogik und Professorin für Gesang an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, in Zusammenarbeit mit der EVTA-Austria (european voice teachers association)organisiert. Sie richtet sich an alle in diesem Berufsfeld Tätigen, an Studenten aber auch an interessierte Laien.
Ein zentrales Anliegen dieses Projekts ist die Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft auf dem Gebiet des Gesangs. Es sollen aktuelle Erkenntnisse zur Funktionsweise der Stimme vorgestellt und gesangspädagogische Fragestellungen diskutiert werden. Darüber hinaus soll die Möglichkeit zum freien Meinungsaustausch der Teilnehmenden geboten werden.1
Das Thema der Tagung wurde von der Tagungsleitung Frau Bauer-Huppmann mit dem Hinweis auf die wachsende Bedeutung der Popularmusik in der heutigen Zeit eingeleitet. Auf diese Entwicklung solle unbedingt reagiert werden. Da Popularmusiker und Musiker aus dem Bereich der Klassik sich oft nicht vorurteilsfrei gegenüber ständen, will diese Tagung beide Richtungen nebeneinander und auf keinen Fall gegeneinander stellen.
Prof. Karl-Heinz Hanser, Leiter des Instituts für Gesang und Musiktheater an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, wies in seiner Begrüßung darauf hin, dass vor allem an deutschen Theatern junge Sänger immer häufiger auch Rollen aus dem Musical-Bereich übernehmen müssten. Im Studiengang Gesang wurde darauf bereits mit entsprechenden neuen Fächern im Studienplan reagiert.
Im Folgenden soll ein Überblick über die verschiedenen Vorträge und Beiträge gegeben werden.
Nach einem gemeinsamen Singen, angeleitet von dem Chorleiter und Arrangeur Johnny Pinter, führte der erste Vortragende Prof. Bernhard Hunziker, Professor für Gesang an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, sehr anschaulich anhand vieler bekannter Beispiele und unter Verwendung seiner eigenen Tenorstimme im Barock übliche Verzierungen vor, wobei er sich selbst am Cembalo begleitete.
Die Jazzsängerin und Gesangspädagogin Ines Reiger (auch bekannt durch die von ihr entwickelte Jazz-und Popgesangstechnik Natural Voice Training) begeisterte durch ihre Beispiele für Vokalimprovisation im Jazz. Das sogenannte Skatten (Improvisation auf Silben) ist eine vokale Imitation von Instrumenten. In diesem Zusammenhang wies sie auf die Wichtigkeit von Gehörbildung für den Jazzsänger hin. Sie gab Beispiele für die verschiedenen Stile wie Bebop, Hardbop, Blues und erklärte auf amüsante Art die jeweilige Verwendung männlicher (bob, ba, etc., eher kurze und harte Silben) und weiblicher (uu, isch, etc., weiche lange Silben, Zischlaute) Silben.
Im folgenden gemeinsamen Workshop von Bernhard Hunziker und Ines Reiger erprobten einzelne Studenten die zuvor vorgestellten Verzierungstechniken des Barocks sowie Improvisationstechniken des Jazz . Als Höhepunkt des Workshops gaben Bernhard Hunziker, Ines Reiger und ein Student eine gemeinsame Version von Summertime zum besten, was auf große Begeisterung und Freude im Publikum stieß.
Nach der Mittagspause wurden die verschiedenen Gesangstechniken von Prof. Dr. Wolfram Seidner aus medizinischer Sicht beleuchtet. Der bekannte Phoniater (Stimmarzt) ist vor allem aufgrund seines Buches Die Sängerstimme den meisten Sängern ein Begriff. Anhand vieler Hörbeispiele und Grafiken erklärte er sehr verständlich die Vorgänge in der Kehle eines Sängers.
Besonders interessant war seine Stellungnahme zum im Popgesang verwendeten Belting2. Nach Prof. Seidner kann Belting nicht allgemein als stimmschädigend gelten, es ist aber eindeutig eine Hyperfunktion (Überfunktion) der Stimme und muss vorsichtig eingesetzt werden.
Ist ein Sänger in der Lage den Kehlkopf zwischen den Beltingpassagen zu entlasten, kann diese Technik ohne Gefahr der Stimmschädigung verwendet werden. Zum Abschluss seines Vortrags spielte er zur großen Erheiterung des Publikums ein Video einer ganz besonderen Interpretation der Rachearie der Königin der Nacht vor: der Interpret war ein Papagei.
Kai Wessel, Countertenor, Komponist und Lehrender an der Hochschule für Musik Köln, klärte zuerst den Begriff Virtuosität. Im Barock musste sich ein junger Sänger, wollte er als Virtuose gelten, nicht nur durch seine Stimmfertigkeiten auszeichnen, sondern auch durch Tugendhaftigkeit, Fertigkeiten am Cembalo und im Generalbassspiel und theoretisches Wissen. Auch Dichtkunst und Tanz zählten zur guten Ausbildung eines Sängers.
Wessel rief die anwesenden Gesangspädagogen dazu auf, ihre Schüler zum Besuch von Konzerten guter Instrumentalisten, zum Ensemblesingen, zum Klavierspielen und zum Erwerb musiktheoretischer Grundkenntnisse zu animieren. Zur Freude des Publikums trug Wessel anhand einiger Notenbeispiele verschiedene Möglichkeiten der Verzierung und Improvisation selbst vor.
Es folgte ein Künstlergespräch mit der Sängerin Timna Brauer moderiert von Johnny Pinter. Sie berichtete sehr ausführlich, vielleicht etwas zu lang, über ihren musikalischen Werdegang und ihr Leben. Dazu stellte sie einige Hörbeispiele ihrer musikalischen Vorbilder und sich selbst vor. Auch das Publikum wurde bei kurzen Stilbeispielen involviert und sang z.B. das Grundgerüst für eine von ihr improvisierte indische Skala.
Zur Abrundung dieses sehr informativen Tages rief Johnny Pinter wie schon am Morgen das Publikum zu einem gemeinsamen Singen auf. Die 17. Wiener gesangswissenschaftliche Tagung ist dank vieler sehr spannender Beiträge namhafter und kompetenter Vortragender und der gelungenen Organisation von Julia Bauer-Huppmann zu einem großen Erfolg geworden und wird wohl allen Besuchern als ein anregendes Erlebnis mit vielen interessanten Informationen in Erinnerung bleiben.
Die in der Begrüßungsrede erklärte Absicht Pop und Klassik nicht gegeneinander sondern nebeneinander zu stellen ist vielleicht nicht in allen Teilen geglückt. Den gemeinsamen Workshop von Ines Reiger und Bernhard Hunziker hat das Publikum sicherlich als gelungenes Nebeneinander erlebt, das Künstlergespräch mit Timna Brauer aber wurde von vielen doch eher als Gegeneinander zum vorhergehenden Vortrag von Kai Wessel empfunden.
Vor allem für junge Musiker ist diese Tagungsreihe eine Chance direkt von Repräsentanten ihres zukünftigen Berufsfeldes spannende Details zu erfahren. In den Kaffeepausen besteht die Möglichkeit sich im persönlichen Gespräch mit den Referenten und den Tagungsbesuchern auszutauschen. Viele Referenten der vergangenen und kommenden Tagungen sind große Berühmtheiten wie z.B. Ioan Holender, Brigitte Fassbänder oder Bertrand de Billy.
Die nächste Tagung findet unter dem Titel Tenore Grande, Mythos und Realität am Samstag den 5. Mai 2012 von 10.00 bis 18.00 Uhr im Institut für Gesang und Musiktheater der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Penzingerstr. 7, 1140 Wien statt.
Die Veranstaltung ist allen zu empfehlen, die Lust haben spannende Dinge über die Musik und den Gesang zu erfahren und interessante und berühmte Persönlichkeiten zu hören, zu sehen und vielleicht selbst mit ihnen zu sprechen.
Von Lena Fischerauer
1 http://www.mdw.ac.at/stimmforschung/?PageId=1166
2 Im Populargesang verwendete Technik, bei der mit hohem Bruststimmanteil und viel Druck gesungen wird.
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