Ephrata Kloster Frauen und Gemeinschaftshaus

Ephrata Kloster in Ephrata, Pennsylvania, USA

Die Sekte und ihr Führer

Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte in seiner (Kretzschmars) Heimat Pennsylvania eine deutsche Gemeinde frommer Sektierer, Wiedertäufer nach ihrem Ritus, geblüht. Ihre führenden, geistlich angesehensten Mitglieder hatten als Cölibatäre gelebt und waren dafür mit dem Namen der „Einsamen Brüder und Schwestern“ geehrt worden. (…) alle hatten in Ehrfurcht aufgeblickt zu ihrem Oberhaupt, Hirten und geistlichen Vater, dem Begründer der Sekte, einem Mann namens Beißel, in dessen Charakter sich innige Gottergebenheit mit den Eigenschaften eines Seelenführers und Menschenbeherrschers, schwärmerische Religiosität mit einer kurz angebundenen Energie vereinigt hatten. (…) Dann aber war ein neuer Schub religiöser Ergriffenheit über ihn gekommen, und er war dem inneren Rufe gefolgt, in der Wildnis als Klausner ein völlig einsames, karges und nur auf Gott bedachtes Leben zu führen. Wie es nun aber geht, daß gerade Menschenflucht wohl den Flüchtling ins Menschliche verflicht, so hatte er sich bald von einer Schar bewundernder Gefolgsleute und Nachahmer seiner Absonderung umgeben gesehen, und statt der Welt ledig zu werden, war er unversehens und im Handumdrehen zum Haupt einer Gemeinde geworden, die sich rasch zu einer selbständigen Sekte, der „Wiedertäufer des Siebenten Tages“, entwickelt hatte, und der er um so bedingungsloser gebot, als er seines Wissens Führerschaft niemals angestrebt hatte, sondern wider Wunsch und Absicht dazu berufen worden war.

(…) ein Strom didaktischer Prosa und geistlicher Lieder ergoß sich aus seiner Feder zur Erbauung der Brüder und Schwestern in stillen Stunden und zur Bereicherung ihres Gottesdienstes. (…) Gedruckt und wiedergedruckt, bereichert durch mitentzündete Glieder der Sekte (…), wechselte das Standard-Werk den Titel und hieß auch wohl einmal „Paradisisches Wunderspiel“. Es umfaßte schließlich nicht weniger als 770 Hymnen, darunter solche von gewaltiger Strophenzahl.

Ephrata Kloster Pennsylvania Innenansicht

Betraum im Ephrata Kloster in Ephrata, Pennsylvania, USA

Die Musik der Gemeinde

Die Lieder waren bestimmt, gesungen zu werden, ermangelten aber der Noten. Es waren neue Texte zu alten Melodien, und so wurden sie jahrelang von der Gemeinde benutzt.
Da kam eine neue Eingebung und Heimsuchung über Johann Conrad Beißel. Der Geist nötigte ihn, zu der Rolle des Dichters und Propheten diejenige des Komponisten an sich zu reißen. (…)

Nicht mehr der Jüngste, schon hoch in den Fünfzigern, machte er sich daran, eine eigene, für seine besonderen Zwecke brauchbare Musik-Theorie auszuarbeiten (…), mit solchem Erfolg, daß er binnen kurzem die Musik zum wichtigsten Element im religiösen Leben der Siedelung machte.

Die Mehrzahl der aus Europa überkommenen Choral-Melodien war ihm recht sehr gezwungen, allzu verwickelt und künstlich erschienen, um recht für seine Schäfchen zu taugen. Er wollte es neu und besser machen und eine Musik ins Werk setzen, die der Einfachheit ihrer Seelen besser entsprach und sie instand setzen würde, es bei ihrer ausübenden Leistung zu einer eigenen, schlichten Vollendung zu bringen. Eine sinnvolle und nutzbare Melodie-Lehre war rasch beschlossen. Er dekretierte, dass „Herren“ und „Diener“ sein sollten in jeder Tonleiter. Indem er den Dreiklang als das melodische Zentrum jeder gegebenen Tonart anzusehen beschloß, ernannte er die zu diesem Akkord gehörigen Töne zu Meistern, die übrigen Töne der Leiter aber zu Dienern. Die Silben eines Textes nun, auf denen der Akzent lag, hatten jeweils durch einen Meister, die unbetonten durch einen Diener dargestellt zu werden.

Die Harmonie angehend, so griff er zu einem summarischen Verfahren. Er stellte Akkord-Tabellen für alle möglichen Tonarten her, an deren Hand jedermann seine Weisen bequem genug vier- oder fünfstimmig ausschreiben konnte, und rief damit eine wahre Woge von Komponierwut in der Gemeinde hervor. Es gab bald keinen Baptisten des Siebenten Tages, ob männlich oder weiblich, mehr, der es bei solcher Erleichterung nicht dem Meister nachgetan und Töne gesetzt hätte.

Der Rhythmus war der Teil der Theorie, dessen Bereinigung dem rüstigen Manne noch übrigblieb. Er tat es mit dem entschiedensten Erfolge. Sorgfältig folgte er mit der Komposition dem Fall der Worte, einfach indem er betonte Silben mit längeren Noten, unbetonte mit kürzeren versah. Eine feste Beziehung zwischen den Notenwerten herzustellen, kam ihm nicht in den Sinn, und gerade dadurch wahrte er seinem Metrum eine beträchtliche Biegsamkeit. Daß so gut wie alle Musik seiner Zeit in wiederkehrenden Zeitmaßen von gleicher Länge, in Takten also, geschrieben war, wußte er entweder nicht oder er kümmerte sich nicht darum. Diese Unwissenheit oder Rücksichtslosigkeit aber kam ihm, wie nichts andres, zustatten, denn der schwebende Rhythmus machte einige seiner Kompositionen, besonders die von Prosa, außerordentlich effektvoll.

Ephrata Musik Beispiel 1-1

Die Ausführung

(…) eine leicht sagenhafte Erinnerung daran habe sich doch durch Jahrzehnte erhalten, und ungefähr lasse sich aussprechen, wie so ganz eigentümlich und ergreifend es damit gewesen. Die vom Chore dringenden Töne hätten zarte Instrumentalmusik nachgeahmt und den Eindruck einer himmlischen Sanftmut und Frömmigkeit in dem Hörer hervorgerufen. Das Ganze sei im Falsett gesungen worden, und die Sänger hätten kaum dabei die Münder geöffnet noch die Lippen bewegt, mit wundersamster akustischer Wirkung. Der Klang sei nämlich dadurch zu der nicht hohen Decke des Betsaals emporgeworfen worden, und es habe geschienen, als ob die Töne, unähnlich allem menschlich Gewohnten, unähnlich jedenfalls jedem bekannten Kirchengesang von dort herabgestiegen wären und engelhaft über den Köpfen der Versammlung geschwebt hätten.