Glazunov_by_RepinAlexander Glasunow – mit diesem Namen verbindet man in der westlichen Musikszene wenig. Sein berühmtes Violinkonzert und die eine oder andere Symphonie sind manchem Musikliebhaber vielleicht bekannt. Glasunow, der in einer Zeit enormer politischer und musikalischer Veränderungen lebte, gehörte jedoch mit zu den wichtigsten Vertretern und Stiftern einer nationalen russischen Musikkultur. Sein Werk fand Zeit seines Lebens große internationale Anerkennung. Neben seinem kompositorischen Schaffen machte er sich auf vielfältige Weise um die Musikkultur in Russland verdient, worüber im Folgenden ein Abriss gegeben werden soll.

Wunderkind und früher Durchbruch

Glasunow zeigte von Kindheit an eine hohe künstlerische Begabung, nicht nur auf musikalischem, sondern auch auf zeichnerischem Gebiet. Die alleinige Hinwendung zur Musik war aufgrund seiner persönlichen Neigung schnell entschieden. Den ersten Klavierunterricht erhielt er 1877 bei dem angesehen Klavierprofessor Jelenkowski, bei dem seine Mutter ebenfalls Unterricht hatte. Dieser bildete ihn wenig in der Klaviertechnik aus, vielmehr ließ er den jungen Schüler von Bach über Chopin bis Liszt das Blattspiel üben. Nachdem Glasunow ihm immer mehr eigene Kompositionen vorlegte, lehrte er ihn auch die Grundlagen der Harmonielehre und des Kontrapunkts. Die Mutter zeigte Glasunows frühe Kompositionen M. Balakirew, der die außergewöhnliche Begabung des Jungen erkannte und ihn an Rimskij-Korsakow weiterempfahl. Dieser Komponist war im damaligen Russland eine Koryphäe, einer der angesehensten und berühmtesten Musiker. Im Jahr 1880 trat Glasunow seinen Unterricht bei ihm an, und wurde vor allem im Kontrapunkt und im Komponieren von Kammermusikwerken unterrichtet. Bereits nach einem Jahr beendete Rimskij-Korsakow den Unterricht. Aus Glasunows Erinnerungen:

„Im Frühling 1881 lehnte es Rimskij-Korsakow entschieden ab, mir weiter Unterricht zu geben, und schlug mir vor, mich nur noch um freundschaftlichen Rat an ihn zu wenden. Er wußte, dass er mit mir nicht den vollen Kursus durchgegangen war und erklärte seine Absage, mir weiter Stunden zu geben, mit den Worten: Alles andere werden Sie am besten beim Komponieren lernen.“1

Am 29. März 1882 schließlich gelang Glasunow der Durchbruch. Seine Erste Symphonie wurde mit glänzendem Erfolg uraufgeführt. Sogar die Kritiken strengster Kunstrichter wie z.B. Cui fielen ausschließlich zu seinem Lob aus. Besonders wurde der tiefe musikalische Gehalt und die Reife angesichts des jugendlichen Alters des Komponisten gelobt. Zu dem Zeitpunkt war Glasunow erst 15 Jahre alt. Einen solch frühen Durchbruch als Komponist gab es in der Musikgeschichte selten, vielleicht noch vergleichbar bei Mozart. Von diesem Zeitpunkt an lief seine weitere Entwicklung in zielgerichteten und geregelten Bahnen. Er lernte zunächst andere zeitgenössische Komponisten kennen, um den Kreis des “Mächtigen Häufleins”. Bereits im Jugendalter nahmen ihn diese berühmten Komponisten, wie Ljadow oder Borodin, in ihre Mitte auf und knüpften freundschaftliche Bande, die weit über ein kollegiales Verhältnis hinausgingen.

Der Kreis dieser Komponisten war stolz auf den jungen Begabten. Der Altersunterschied spielte hierbei keine große Rolle, Glasunow wurde von Anfang an wie ein Kollege behandelt. Selbst der Jüngste des Komponistenkreises, Ljadow, war bereits gute zwanzig Jahre älter als Glasunow. Diese Bande stellten nicht nur für Glasunow eine wichtige Verbindung dar, sondern hatten Einfluss auf das Schaffen einer ganzen Generation Petersburger Komponisten. Die folgenreichste frühe Bekanntschaft Glasunows sollte jedoch Mitrofan Belaieff werden. Dieser war ein äußerst begüterter Großholzhändler, der sich sehr für die Musik interessierte. Zur Zeit der Proben für die Erste Symphonie lernten sich die beiden Männer kennen. Belaieff war vom Genie des jungen Komponisten derart beeindruckt und überzeugt, dass er sich das ehrgeizige Ziel setzte, dessen Musik in jeder ihm erdenklichen Hinsicht zu fördern. Mit seinen Projekten, die im Folgenden immer wieder Erwähnung finden werden, kann man Belaieff als Stifter und bedeutsamen Initiator der russischen Musikkultur überhaupt bezeichnen. Die bezeichnende Rolle Belaieffs für die russische Musik betont auch Wendelin Bitzan in seinem Artikel über die russischen Klaviersonaten.2

Bereits in Glasunows Jugendzeit veranstaltete Belaieff Kammermusikabende, an denen die bedeutendsten Komponisten des Petersburger Kreises teilnahmen, wie z.B. Rimskij-Korsakow, Stassow, Balakirew, Cui, Ljadow etc. Neue und klassische Kompositionen wurden dort vorgestellt, gemeinsam oder alleine vorgespielt, diskutiert und Meinungen ausgetauscht. Besonders die Teilnahme des jungen Glasunow schweißte die ältere Komponistengeneration noch mehr zusammen. Ein solches Arbeitsforum, in dem ohne äußerliche Konkurrenzkämpfe gemeinsam an der Entwicklung einer eigenen Musikkultur gearbeitet wurde, ist in der Musikgeschichte absolut einzigartig.

1884 unternahm Glasunow zusammen mit Belaieff eine Reise nach Deutschland, Frankreich und Spanien. In Deutschland lernte er Franz Liszt kennen, dessen Werke er sehr schätzte. Liszt nahm kurzerhand sogar die erste Symphonie Glasunows in ein Konzertprogramm auf, anstatt eines Werks eines anderen deutschen Komponisten. Während des Aufenthaltes in Bayreuth bei den Festspielen manifestierte sich für Belaieff eine wegweisende Idee: Er wollte für die Herausgabe zunächst hauptsächlich Glasunowscher Werke einen Musikverlag gründen, und zwar in Leipzig, damals eine Metropole der Musikverleger. In Deutschland veröffentlichte Musikwerke waren im Gegensatz zu Russland durch die Berner Konvention urheberrechtlich geschützt.

Auch die Druck-Technik war erheblich besser als in Russland. Am 2. Juli 1885 wurde der Verlag in Leipzig ins Handelsregister eingetragen. Dieser wurde in Russland sehr erfolgreich, denn Belaieff pflegte ein unkonventionelles Verlagswesen: Die Noten wurden sehr günstig verkauft, wodurch die Werke der Komponisten ihren Weg auch in weniger begüterte Kreise finden konnten. Auf der anderen Seite sicherte er den Komponisten neben einer sehr großzügigen Entlohnung das Aufführungsrecht ihrer eigenen Werke, ein Zugeständnis, das kein anderer russischer Verlag machte.

Karriere als Dirigent

Neben der fortlaufenden Veröffentlichung eigener Kompositionen folgte bald ein wichtiger Markstein für Glasunows Karriere. Im Jahr 1887 stand er zum ersten Mal vor einem Orchester. Im Rahmen der russischen Symphoniekonzerte dirigierte er seine Erste Symphonie. Nach anfänglichen Unsicherheiten entwickelte er sich sehr schnell zu einem technisch wie musikalisch versierten Dirigenten. Im Jahr 1889 dirigierte er bei der Weltausstellung in Paris und begründete damit nicht nur seine internationale Bekanntheit als Dirigent, sondern erschloss dem französischen Publikum auch die zeitgenössische russische Musik, das diese höchstens aus vereinzelt aufgeführten Stücken kannte. So legte er den Grundstein für seine Laufbahn als Dirigent, in der er zu einem international gefragten und geschätzten Interpreten aufstieg.

Die folgenden Jahre waren von einer kontinuierlichen Entwicklung des eigenen Stils geprägt. Wichtige Stationen seines Schaffens der Zeit nach 1890 waren z.B. die Komposition einiger Ballette (z.B. Raymonda). Ganz besonderer Erwähnung verdient die Vollendung Borodins Oper Fürst Igor zusammen mit Rimskij-Korsakow, eine jahrelange, äußerst schwierige Arbeit. In der feinfühlig erfassten Borodinschen Tonsprache verfasste er sogar große Teile neu (z.B. den kompletten 3. Akt). Andere Teile, die ihm Borodin lediglich am Klavier vorgespielt hatte, reproduzierte Glasunow aus seinem bekanntermaßen ungeheuren Gedächtnis (z.B. die Ouvertüre). Die fruchtbare Zusammenarbeit an dieser Oper mit Rimskij-Korsakow über Jahre hinweg ist ebenfalls ein kaum begreifliches Kuriosum der Musikgeschichte und würde durchaus eine gesonderte Abhandlung verdienen.

Die Zeit am Petersburger Konservatorium – 30 Jahre lange Prägung der Musikgeschichte

1898 wurde Glasunow als Professor an das Petersburger Konservatorium berufen. Er unterrichtete Instrumentation, Harmonielehre, Kontrapunkt, Kammermusik, Literaturkunde sowie Dirigieren. Seine unangefochtenen Qualitäten als Komponist, vor allem auf dem Gebiet des Kontrapunkts machten ihn zu einem sehr gefragten und beliebten Lehrer bei den Studenten. Zu seinen Schülern gehörten z.B. Strawinskij, Prokofjew und Schostakowitsch. Letzterer würdigte Glasunow in seinen Memoiren und berichtete über seine (spätere) Arbeit als Konservatoriumsdirektor, woraus im Folgenden noch einiges angeführt werden wird. Bezeichnend an Glasunows Lehrmethode war unter anderem die Zusammenarbeit mit Rimskij-Korsakow, der ebenfalls am Konservatorium Komposition unterrichtete. Beide stimmten ihre Unterrichtspläne aufeinander ab und arbeiteten Hand in Hand. Kompositionsunterricht wurde also bei zwei der größten Komponisten ihrer Generation erteilt, die nicht als Konkurrenten auftraten, sondern die Schüler in engster Zusammenarbeit förderten. Eine Vorstellung, die in unseren Tagen und besonders in Europa nur noch als Absurdität gelten kann. Glasunows Instrumentationsunterricht hatte einen erheblichen Einfluss auf Rimskij-Korsakows berühmte Instrumentationslehre, welche ebenfalls als Ergebnis ihrer vorbehaltlosen Zusammenarbeit am Konservatorium gelten kann.

1905 – Revolution in Russland

Bisher war Glasunow lediglich als Komponist, Interpret und Professor in der Öffentlichkeit aufgetreten. Seine Qualitäten in dieser Hinsicht waren unangefochten. Die politischen Ereignisse 1905 und auch der Folgejahre lassen uns jedoch den Künstler als Menschen näher kennen lernen. Sein unermüdlicher Einsatz für die Studenten, v.a. für minderbemittelte und jüdische, war weithin bekannt. Er setzte sich auf so vielfältige Weise für ihre Rechte, Ausbildung und Karriere ein, dass nur eine Auswahl seiner Bemühungen und Erfolge hier Platz finden können. Zunächst zu den Ereignissen der russischen Revolution 1905: Die Aufstände v.a. der Arbeiterbewegungen und Bauern ließen ganz Russland erbeben. Die russische Bevölkerung zeigte ihren Unmut an der zaristischen Herrschaftspolitik. Der junge und damals noch unbekannte Lenin propagierte die vollständige Ablehnung des zaristischen Systems.

Auch die Studenten an den Universitäten betätigten sich als Revolutionäre. Am Konservatorium St. Petersburg war die Situation aufgeheizt; Die Studenten zettelten einen Streik an. Glasunow selbst war in einer prekären Lage: Einerseits pflegte er gute Kontakte mit seinen Kollegen, die nun plötzlich als Reaktionäre galten (z.B. Leopold Auer, der erste Interpret seines Violinkonzertes), andererseits versuchte er sich durchaus für die Interessen der Studenten einzusetzen und eine Aussprache zwischen den Parteien zu fördern und durchzusetzen. Die Forderungen der Musikstudenten waren dabei zutiefst unpolitisch. Sie beschränkten sich eher auf das Konservatoriumsleben selbst, wie Prokofjew berichtet (z.B. die Errichtung einer Bibliothek für die Studenten, höheres Bildungsniveau in bestimmten Fächern, respektvoller Umgang zwischen Professoren und Studenten).

Angesichts der Ereignisse wurde eine Kommission ins Leben gerufen, die verständnisvoll die Forderungen der Studenten prüfen sollte. Wie man sich vorstellen kann, war es mit dem Verständnis nicht weit her, viele Professoren ignorierten die Beschlüsse der Studenten völlig (wie bestimmte Streikproklamationen) und waren einem Konsens abgeneigt. Besonders Glasunow und Rimskij-Korsakow aber bemühten sich, die Vorschläge ernst zu nehmen und setzten sich für eine Aussprache ein. Schließlich mündeten die Ereignisse in eine Katastrophe: Die oben erwähnte Streikproklamation wurde trotz Ablehnung durch das Konservatorium am 16. März durchgeführt. Rimskij-Korsakow, der versucht hatte, die versammelten Studenten zu beschwichtigen, wurde plötzlich beschuldigt, die Meute erst recht aufgewiegelt zu haben und wurde kurzerhand aus dem Konservatorium entlassen.3

Diese Entlassung zog drastische Folgen nach sich: Glasunow und einige andere Professoren quittierten sofort ihren Dienst und traten zurück, wobei die Direktion auch keine Anstalten machte, sie daran zu hindern, sie nahm es mit „äußerstem Bedauern“ hin. 153 Studenten verließen außerdem das Konservatorium, an dem insgesamt nur ca. 900 Studenten eingeschrieben waren. Glasunow und Rimskij-Korsakow wurden nun als politisch brisant eingestuft. Eine Aufführung einer Oper Rimskij-Korsakows unter Glasunows Leitung hatte solch gewaltige Ovationen des Publikums zur Folge, dass die Polizei eingriff und kurzerhand den Saal räumte, wobei Rimskij-Korsakow infolge eines Handgemenges fast vom eisernen Vorhang erschlagen wurde, nur durch einen Sprung in den Operngraben konnte er sich retten.4

Die berufliche Zukunft der in Ungnade gefallenen Komponisten sollte jedoch nicht lange unbestimmt bleiben: Es wurde eine neue Nationale Musikakademie erwogen, Rimskij-Korsakow, Glasunow und Ljadow sollten dabei eine Schlüsselrolle spielen. Angesichts dieser Entwicklungen besann sich die Russische Musikgesellschaft doch noch: Sie gewährte dem Konservatorium Autonomie und Glasunow wurde von den Professoren einstimmig zum Direktor gewählt. In dieser Funktion setzte er viele Reformen durch. Als Beispiel sei sein Einsatz für jüdische Studenten genannt: „(Es) kam zu heftigen Zusammenstößen, besonders wegen der Judenfrage, in der ich meinen Standpunkt erfolgreich verfocht, die bisherige Quote für die Zulassung jüdischer Schüler aufzugeben und unbegrenzt das Talent entscheiden zu lassen.“5

Der Konservatoriumsdirektor

Schostakowitsch zeichnet in seinen Memoiren ein deutliches und überzeugendes Bild des Komponisten in seiner Funktion als Professor und Direktor:

„Um wirklich von Glasunow zu lernen, mußte man so viel wie möglich mit ihm zusammentreffen. Man mußte ihn abfangen, sei es bei Konzerten, sei es bei Geselligkeiten und natürlich im Konservatorium. Im Konservatorium vor allen Dingen. Denn hier verbrachte er fast seine ganze freie Zeit. Heute ist es schwer zu glauben: aber er besuchte ausnahmslos alle Prüfungskonzerte, selbst die der Schlagzeuger, bei denen er manchmal der einzige Außenseiter war.“6

„Er beurteilte (…) Musik wie jede andere mit der vollen Verantwortlichkeit für seine Worte. Und mit großem Ernst. Diesen Ernst vermittelte er seinen Zuhörern. Auf diese Weise lernten wir, scheinbar einfachen Begriffen einen genauen Sinn beizulegen. Das ist eine große Sache. Wenn Glasunow beispielsweise einen Komponisten ‚Meister‘ nannte, so behielten wir das unser Leben lang im Gedächtnis. Denn hinter diesen kurzen Definition steckte eine große geistige Arbeit. Wir waren Zeuge dieser Arbeit. Wir, nach Maßgabe unserer Möglichkeiten, bemühten uns, sie ebenfalls zu leisten. Das heißt (zusammen mit Glasunow) zu diesem und keinem anderen Schluß zu kommen. Wenn Glasunow nach dem Anhören einer Schumann-Symphonie sagte: ‚Technisch unerreichbar‘, verstanden wir genau, was er meinte. Es bedurfte keiner langen Erklärungen.“7

„Glasunow kannte alle Schüler namentlich. (…) Wichtig(er) für uns war, daß Glasunow jeden Schüler als Musiker kannte. Er erinnerte sich genau, wann und wie jeder gespielt hatte. Kannte auch das Programm und wußte, wie viele Fehler der Betreffende gemacht hatte. Das ist keine Übertreibung. (…) Man konnte, so oft man wollte, wieder ins Konservatorium eintreten, mußte nur nachweisen, daß man nicht mangelhaft war. Einer dieser Unermüdlichen wollte in die Komponistenklasse aufgenommen werden. Glasunow erschütterte ihn. Der Anwärter spielte eine eigene Klaviersonate. Glasunow hörte zu und sagte dann verträumt: ‚Wenn ich mich nicht irre, bewarben Sie sich schon vor ein paar Jahren. Damals spielten Sie eine andere Sonate mit einem recht netten Nebenthema.‘ Mit diesen Worten setzte sich Glasunow ans Klavier und spielte einen großen Teil der damaligen Sonate dem sprachlosen Komponisten vor. Das Nebenthema taugte natürlich auch nichts, aber der Effekt war enorm.“8

„Er (der Volkskomissar für Volksbildung der UDSSR) führte aus, daß die Regierung beschlossen habe, Glasunow Lebensbedinungen zu gewähren, die es ihm ermöglichten, seine Schaffenskraft zu erhalten, und die seinen großen Verdiensten entsprächen. Was hätte jeder andere Jubilar in diesem Fall getan? Er hätte sich glückselig und untertänigst bedankt. Schließlich lebten wir in harten, hungrigen Zeiten. Glasunow, ehedem eine voluminöse, statiöse Erscheinung, war erschreckend abgemagert. Sein alter Anzug umschlotterte ihn wie ein leerer Sack. Sein Gesicht war ausgemergelt und erschöpft. Wir wußten, dass er nicht einmal Notenpapier besaß, um seine Einfälle zu notieren. Doch Glasunow, im souveränen Bewußtsein seiner Würde und seiner Ehre, erwiderte schlicht, ihm mangele es an nichts und er bäte darum, ihm keine anderen Lebensbedingungen als jedem Normalbürger zu verschaffen. Doch wenn die Regierung geneigt sei, ihre Aufmerksamkeit dem Musikleben zuzuwenden, dann bäte er darum, sie auf die Konservatorien zu richten. Sie seien am Ende. Es wäre kein Holz da, um die Räume zu heizen. Es gab einen kleinen Skandal, aber das Konservatorium erhielt Holz.“9

„Immer hat er geglaubt, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, eine vernünftige Weltanschauung zu besitzen. Und ganz am Ende seines Lebens begann er, daran zu zweifeln. Ihm schien die Sache, der er seine Kräfte gewidmet hatte – die russische Musikkultur, das Konservatorium –, sei vernichtet. Das war seine Tragödie. Alle Werte waren fragwürdig geworden, alle Kriterien hinfällig. Glasunow ging nach Paris.“10

Lebensabend in Paris

Nachdem Glasunow 1928 in Wien an einer Jury für den Schubert-Wettbewerb teilgenommen hatte, bahnte sich für ihn eine entscheidende Wende an: Er sollte nicht mehr nach Russland zurückkehren. In Paris ließ er sich mit seiner Frau nieder und lebte in einfachen Verhältnissen in einer Mietwohnung. Immerhin schien er in Paris seine Trunksucht überwunden zu haben, die ihn am Konservatorium dauerhaft verfolgt hatte, wie seine Tochter berichtet.11 In den nächsten acht Jahren reiste Glasunow sehr viel, besuchte ihm unbekannte Städte und Länder, hauptsächlich in Europa. Auch gab er weiterhin Konzerte als Dirigent, oftmals zusammen mit seiner Tochter Elena als Pianistin; Diese wurden vom französischen Publikum begeistert aufgenommen. Eine äußerst erfolgreiche Konzerttournee führte ihn auch nach Amerika. In dieser späten Phase seines Lebens wendete er sich auch mit Interesse dem Jazz zu. Aus Begeisterung für das Saxophon komponierte er sein berühmtes Konzert für dieses Instrument, das er 1934 vollendete. Schließlich führte seine gesundheitliche Verfassung dazu, dass er Paris nicht mehr verlassen konnte, er zog sich immer mehr aus dem Musikleben zurück. Am 21. März 1936 entschlief er, ein Tag, an dem ihm zu Ehren ein Festkonzert in der Salle Gaveau stattfinden sollte. Der Dirigent musste dem erschütterten Publikum den Todesfall mitteilen und spielte das Konzert zum Gedächtnis an den Komponisten Alexander Glasunow.12

Anmerkung des Autors

Die bedeutende Rolle Glasunows am Scheitelpunkt zwischen Romantik und Moderne ist mir beim Verfassen dieses Artikels immer stärker bewusst geworden. Die Thematik erscheint mir so ergiebig und wichtig, dass diesem Thema in der nächsten Ausgabe ein eigener Artikel gewidmet werden wird, der das Thema in der gebührenden Länge behandelt.

Von Alexander Fischerauer


1Alexander Glasunow, Detlef Gojowy, Paul List Verlag, 1986, München
2
Contrapunkt Ausgabe 7, November 2012, S. 17
3
Gojowy, S.96
4
Ebd. S.97
5
Ebd. S.103
6
Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch, S. Volkow, 1797, Hamburg, Albrecht Knaus Verlag, S.87
7
Ebd. S.88f
8
Ebd. S.97
9
Ebd. S.187
10
Ebd. S.189
11
Gojowy, S.130
12
Ebd., frei zitiert nach S.145