Warum Patrice Chéreaus „Jahrhundertring“ noch heute seines Gleichen sucht
„Das Unvergleichliche des Mythos ist, daß er jederzeit wahr und sein Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist. Die Aufgabe des Dichters war es nur, ihn zu deuten.“ (Oper und Drama, S. 199)
Was Richard Wagner hier in seiner umfangreichsten kunsttheoretischen Schrift beschreibt, deren Entstehung mit der Konzeption des „Ring des Nibelungen“ zusammenfällt, bringt uns gleich ins Zentrum der Frage nach einer wirkungsvollen Inszenierung desselben.
Jeder Mythos besitzt durch seine zeitlose, allegorische Eigenschaft eine Unschärfe, die paradoxerweise zugleich als „dichteste Gedrängtheit“ wahrgenommen wird, denn in ihr sind alle Deutungsmöglichkeiten potentiell enthalten. Wenn beispielsweise Sophokles den Ödipus-Mythos verwendete um ein Drama zu schreiben, war es nach Wagner nicht nur seine Aufgabe, ihn zu übertragen, sondern auch, „ihn zu deuten“ (die Frage entsteht natürlich, ob der Dichter, der in diesem Falle ja auch Interpret ist, sein eigenes Deuten überhaupt verhindern kann – die Antigone von Jean Anouilh muss selbstverständlich 1944 eine vollkommen andere sein, als die des Sophokles 441 v.Chr.).
Das gedrängte Potential des Mythos wird also ein Stück weit konkretisiert, und so wird dem Leser oder Publikum ein Anstoß zu geben, das „jederzeit Wahre“ an den unscharfen allegorischen Figuren des Mythos mit der eigenen Wahrheit zu verbinden, und so letzten Endes auch etwas über sich zu erfahren.
Nichts anderes tat Wagner natürlich, als er die Edda heran nahm, um „seinen Ring“ mit bewundernswerter Ausdauer in über zwei Jahrzehnten zu schaffen. Seine „Aufgabe“ war es – und er konnte gar nicht umhin –, den Ring aus seiner Zeit und seinem Blick zu deuten. Der Zeitgenosse George Bernard Shaw erkannte das besonders scharf und beschrieb Wagners Tetralogie als ein „Drama der Gegenwart“ (Wagner-Brevier, S. 21), ein Drama über den Machtverlust des Adels, über die Zeit der Industrialisierung und der Entstehung des Kapitalismus mit all seinen unaufhebbaren Widersprüchen.
Tatsächlich liegt diese Interpretation gar nicht fern – drängt sich beim Lesen des Librettos immer wieder geradezu auf – und so müssen wir nicht einmal sicher sein, dass der junge französische Regisseur Patrice Chéreau Shaws Buch gelesen hatte, als er 1976 nach Bayreuth kam, um den „Ring“ zu dessen 100. Jubiläum zu inszenieren. Er schlug nämlich in dieselbe Kerbe und war wohl der erste Regisseur, der das tat, denn zunächst war die Inszenierung ein heftiger Skandal, aus dem heraus konservative Wagnerianer kurioserweise eine Initiative für ein „zukunftsorientiertes Verständnis des Wagnerschen Werkes“ gründeten.
Bei Chéreau sind die Götter im Rheingold unverkennbar als Vertreter einer langsam untergehenden Adelsgesellschaft kostümiert, die mit der Burg Walhall noch einmal an alte Macht und Prunk anknüpfen wollen. In Alberichs Nibelheim kündigt sich deutlich die Industrialisierung mit Hochöfen und schwitzendem Prekariat an.
Im Laufe der vier Abende vollzieht sich aber eine Verwandlung, an deren Ende die Gibichungen als großbürgerliche Unternehmer der Gründerzeit auftreten. Das Entscheidende ist jedoch, dass Chéreau zu jeder Zeit ein Gespür für die allegorische, unscharfe Kraft des Mythos behält und sich nicht völlig in seinen Deutungen verliert.
Bei Chéreau tritt kein Ludwig II oder Bismarck, kein Marx oder Napoleon III auf. Ganz im Sinne des Mythos bleiben seine Figuren Typen, die für mehr als eine Person stehen. Auch die Schauplätze bleiben in gewissem Sinne austauschbar und bieten – was so ungeheuer wichtig ist – Platz für eigene Projektionen. Es entsteht eine ungeheuer kraftvolle Balance zwischen Allgemeingültigkeit und Konkretisierung.
Anders verhält sich Stefan Herheim in seiner gerade ausgelaufenen und bis zuletzt viel gelobten Bayreuther Inszenierung des Parsifal (der ja auf seine Weise auch ein christlicher Mythos ist). Gleich im ersten Akt sehen wir die Villa Wahnfried der Familie Wagner als Gralsburg. Wohl mit Chéreaus „Ring“ als Vorbild versucht Herheim sich im weiteren Verlauf ebenfalls an einer geschichtlichen Deutung in großen Zügen – in seinem Fall als Drama der deutschen Staatswerdung -, die durchaus ihre Reize hat.
Was aber passiert, wenn Kundry ganz eindeutig als Marlene Dietrich im Blauen-Engel-Kostüm auftritt, wenn Klingsors Reich zu Nazideutschland wird und der Bundestag am Ende der Oper die Erlösung bringt?
Hier ist die Unschärfe völlig verloren gegangen und was entsteht, sind lauter Gleichheitszeichen: Kundry = Marlene, Walhall = Wahnfried, Amfortas = Jesus, Parsifal = Bundeskanzler? Ganz Amüsant freilich, aber genau da liegt das Problem. Diese radikale Schärfe der Deutung lenkt unsere Aufmerksamkeit unweigerlich auf ihre eigenen Widersprüche und bringt uns in ironische Distanz zum eigentlichen Inhalt des Dramas. Denn keine Deutung ist in letzter Konsequenz frei von Widersprüchen. Aber gerade das macht gerade die Kraft des Mythos aus; dass wir ein reiches Meer an Deutungen zur Verfügung haben, in dem wir uns mit der Phantasie, die uns gegeben ist, assoziativ frei bewegen können. Wenn eine Assoziation beginnt, ihren Sinn zu verlieren, können wir sie weiterspinnen oder verwerfen und eine neue entstehen lassen.
Wenn uns allerdings eine Deutung auf der Bühne mit der Dampfwalze aufgezwungen wird, sind wir nicht frei. Passenderweise fügt Wagner nur kurz nach den einleitend zitierten Sätzen hinzu: „Der Mythos selbst war meist gerechter gegen das Wesen der Individualität als der deutende Dichter.“ (Oper und Drama, S.199)
Dass die oben beschriebene Komik oben unfreiwillig entsteht, soll nicht heißen, dass in der Oper kein Platz für Humor oder Ironie wäre. Am elegantesten macht es hier Chéreau: nämlich mit Selbstironie. Er lässt die Illusion des Theaters fallen, indem er bei Siegfrieds Kampf gegen den Drachen die Träger der riesigen Drachenpuppe einfach nicht versteckt. Verblüffender Weise fühlt man sich durch diesen Witz nicht aus dem Stück gerissen, vielmehr verstehen wir ihn als augenzwinkerndes und bescheidenes Eingeständnis der Grenzen des Theaters.
In der aktuellen Hamburger Ring-Inszenierung von Claus Guth zeigt sich die Problematik der Schärfe in etwas anderer Gestalt. Guth verwendet hier nicht eindeutige Gleichungen wie Herheim, wird aber in anderer Weise radikal konkret. Der gutverdienende Abonnent im vorderen Parkett soll hier im Rheingold sein eigenes Spiegelbild sehen. Die Götter leben hier in einem etwas spießigen Einfamilienhaus, Burg Walhall, die den sozialen Aufstieg symbolisiert, wird auf dem Bastel-Dachboden im Modellbau konzipiert, die Riesen sind überteuerte, Schulden eintreibende Bauarbeiter und Alberich ist der unfreundliche Klempner im Heizungskeller.
Auch hier muss man immer wieder über gelungene Analogien schmunzeln. Wird sich der Gemeinte im Parkett aber selbst als Wotan im Spiegel sehen? Hier unterschätzt Guth die Ausweichmechanismen des menschlichen Unterbewusstseins. Je genauer (schärfer) er den Menschen zu treffen versucht, desto weniger wird es ihm gelingen. Natürlich wird der Student auf dem Stehplatz die Idee verstehen, aber der Gemeinte wird immer viel eher seinen Nachbarn wiedererkennen als sich selbst.
Auf den besseren Plätzen zeigt in dieser Inszenierung vermutlich jeder innerlich mit dem Zeigefinger auf den Nebenmann, und sicher nicht auf sich. Aber was ist das Drama wert, wenn wir in ihm nicht uns selbst, in Wotans Zwängen nicht die eigenen erkennen? Wenn wir nun auf die Gefahren der allzu konkreten Deutung geblickt haben, stellt sich natürlich die Frage nach dem anderen Extrem. Was passiert, wenn ein Regisseur sich die Deutung versagt?
Zunächst fällt auf, dass Regisseure oft den Weg in diese Richtung aus politischen Gründen wählen. Wagners Enkel Wieland war geradezu gezwungen, nach der Bayreuther Wiedereröffnung 1951 ganz nach dem Prinzip „Stunde Null“ allen alten Ballast abzuwerfen und mit minimalistischen Bühnenbildern und schlichten Kostümen den Weg des geringsten Risikos und der Diplomatie zu gehen. Natürlich lauert hier an jeder Ecke die Langeweile, wobei der konservativ-empfindliche Hörer oft erleichtert ist ob derartiger Inszenierungen, weil ihn hier nichts davon ablenkt, ganz in der Musik zu versinken (hier sei darauf hingewiesen, dass Wagner in der Einleitung von „Oper und Drama“ die Musik als bloßes „Mittel des Ausdrucks“ dem Drama unterordnet!).
Interessant wird es, wenn die beiden Künstlerpersönlichkeiten und Freunde Robert Wilson (Parsifal, Staatsoper Hamburg 1991) und Heiner Müller (Tristan, Bayreuth 1993) radikal eine neue abstrakte Form entwerfen, die zwar nicht deuten will, aber als starkes eigenständiges Element neben der Musik besteht. Wilson lässt beispielsweise alle Sänger in abstrakten, unmenschlich wirkenden Gesten und Posen spielen und verharren, wodurch er eine völlig neue Ästhetik schafft.
Bei Heiner Müller, einem Theatermenschen, der sich immer wieder sehr intensiv mit den dunklen Kapiteln der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt hat, kann man – etwas anders als bei Wieland – wiederum politische Hemmungen erkennen. Angesichts Bayreuths Nazi-Vergangenheit konnte er nicht anders, als sich beim Tristan in beklemmend reduzierte Quadrat-Formen vor schwarzem Hintergrund zurückzuziehen.
Am Beginn des zweiten Aktes passiert allerdings etwas bemerkenswertes: Isolde löscht die Fackel und die Musik beschreibt Tristans aufgeregte Verliebtheit und Ungeduld auf dem Weg zu ihr. Auf der Bühne allerdings lässt Heiner Müller den Tristan unerträglich langsam auf Isolde zuschreiten, sodass aus der Differenz zwischen Musik und Bühnenhandlung eine ungeheure Spannungskraft entsteht, der man sich kaum entziehen kann. Konservative Kritiker beschuldigen ja immer wieder Regisseure, die sich auf oben beschriebene Art und Weise in ihrer eigenen Deutung verlieren, der Arbeit gegen oder gar der Zerstörung des Werkes.
Sie verkennen allerdings den konstruktiven, jedoch nicht ganz geglückten Versuch, das Werk neu und wirkungsvoll zu deuten. Aus einer – wohlgemerkt – bewussten Arbeit gegen das Werk, wie Müller sie hier vollzieht, kann letzten Endes sogar auf beiden Ebenen (Bühne und Musik) neue Kraft entstehen! Es wird deutlich, dass Wilson und Müller im Gegensatz zu den oben beschrieben reinen Assoziationsspielen trotz ihrer primären Rolle als Interpreten selbst schöpferisch tätig werden. Aber auch hier bleibt Chéreau nicht zurück: Seine so meisterhaft ausbalancierte Deutung des „Rings“ hat durchaus Platz für vollkommen eigene poetische Momente. In der ersten Szene des zweiten Aktes der Walküre kreist ein riesiges Pendel in der Mitte der Bühne.
In Wotans Gemächern steht es symbolisch für etwas, was wir zunächst nicht benennen können. Erst als Wotan sein Schicksal verflucht und sich das Ende der Welt herbeisehnt, wird sein Zweck plötzlich klar: Mit den Worten „Nur eines will ich noch: Das Ende!“ bringt er das Pendel gewaltsam zum Stillstand. Diese Szene hat auch bei wiederholtem Anschauen eine erschütternde Wirkung. Das Symbol des Pendels reiht sich ganz selbstverständlich in Wagners mythologische Symbolwelt mit dem Schwert Nothung, der Tarnkappe, dem Vergessenstrank und natürlich dem Ring ein und steht diesen in seiner allegorischen Kraft in nichts nach.
Um ein letztes Beispiel für Chéreaus künstlerisches Schaffen zu geben, sei noch erwähnt, wie er in der Götterdämmerung mit Siegfrieds Trauermarsch umgeht. Anstatt, wie es immer wieder geschieht, ein paar arme Herren aus dem Chor in einer Zitterpartie den meist übergewichtigen Siegfried tragen zu lassen, verwendet er zunächst eine Technik, welche die angewandte Unschärfe schlechthin ist: Suspension.
Er zeigt den Trauermarsch einfach nicht. Stattdessen kommt nach und nach der Chor als einfaches Volk gekleidet auf die vollkommen schwarze Bühne und stellt sich vor die so verschwindende Leiche Siegfrieds. Während der Trauermarsch aus dem Orchestergraben ertönt, blicken diese Menschen stumm und fragend ins Publikum. Plötzlich ist die vierte Wand verschwunden und wir haben ein Moment von absolut schmerzhafter Schärfe.
Zu guter Letzt und nach all den Ausführungen über Deutung, Schärfe und Unschärfe muss allerdings gesagt werden, dass den „Jahrhundertring“ vor allem eine zunächst unspektakuläre Eigenschaft auszeichnet: nämlich ganz einfach gute Personenregie.
Wo es heute immer noch ständig vorkommt, dass gerade Wagnersänger statuenhaft am Bühnenrand stehen und nur einzelne schauspielerisch ehrgeizige Sänger aus einem ansonsten unglaubwürdig agierenden Ensemble positiv herausstechen, lässt Chéreau sein gesamtes Ensemble menschlich und glaubhaft miteinander agieren.
Und genau so gelingt das, was Claus Guth mit seinem allzu deutlichen Spiegel versucht und dabei knapp verfehlt: Der Opernbesucher erkennt in Walhall sein eigenes Bauprojekt, fühlt sich in Wotans Disput mit Fricka an den letzten Streit mit seiner Ehefrau erinnert, in dessen tiefen Verbindung zu Brünnhilde fühlt er die zu seiner Tochter nach und wenn Siegfried Wotans Speer zerbricht, sieht er den eigenen rebellierenden Sohn in den er doch so viele Hoffnungen setzt. So bekommt er zuletzt einen neuen Blick auf sich selbst, der ihn vielleicht sogar ein wenig verändert. Was das ganze Theater ohne diese Dimension wert ist, beschreibt Bernard Shaw, mit dem ich hier schließen möchte, wunderbar treffend:
„Wenn der Zuschauer darin [in Wagners Drama] nicht ein Abbild des Lebens erkennt, durch das er sich selbst einen Weg bahnt, muß es ihm schlechterdings wie eine ins Riesenhafte aufgeblähte Weihnachtspantomime vorkommen.“
Von Joachim Kelber
Quellenangabe:
Wagner, Richard: Oper und Drama, Reclam Stuttgart, 1984
Shaw, Bernard: Ein Wagner-Brevier, Suhrkamp Frankfurt am Main, 1973
No Comment