Die aktive künstlerische Arbeit mit der Gattung der klavierbegleiteten Sololieder hält so manche Herausforderung bereit. Im Gegensatz zur Instrumentalmusik, wo durch Besetzung und Durchführbarkeit dem „gängigen Repertoire“ immer wieder Grenzen gesetzt sind, ist im Klavierlied prinzipiell erst einmal alles möglich.
Durch die Unmengen an überliefertem Repertoire und der unkomplizierten Besetzung steht der Interpret bei der Auswahl von Klavierliedern vor wichtigen Entscheidungsfragen. So gilt es zum Beispiel es bei der Kombination verschiedener Stücke, eventuell auch verschiedener Komponisten immer auch die vertonten Texte zu beachten. Oft werden Liedprogramme nicht nur nach musikalischen Gesichtspunkten zusammengestellt, sondern komplett einem Dichter (Goethe, Heine, Eichendorff) oder einer Thematik (Liebe, Tod, Einsamkeit) gewidmet. Die romantischen Komponisten stellen hierfür genug Auswahl zur Verfügung.
Den Liedern von Wolfgang Amadeus Mozart hingegen wird schon im Gesangsunterricht eher wenig Achtung entgegengebracht. So müssen sie hier oft als Lückenfüller dienen und werden allzu häufig als „einfache Musik“ oder „einfach zu singen“ eingeschätzt. Wie auch immer man die musikalische Qualität der Lieder bewerten möchte, aus einem Grund ist die Vernachlässigung schon rein rechnerisch nachvollziehbar: Im Gegensatz zu den rund 600 Schubert-Liedern sind von Mozart, je nach Zählweise, nur ca. 30 Lieder überliefert.
Alleine anhand dieser Mengenverhältnisse ist schon deutlich spürbar, dass die Gattung des Klavierliedes zu Mozarts Lebzeiten noch sehr in den Kinderschuhen steckte. Der Blick über den Tellerrand hinaus verrät jedoch, dass das Mozart-Lied nicht unbedingt nur in der Gattung des reinen klavierbegleiteten Liedes zu finden ist. Studiert man die Nummernfolge verschiedener Mozart Opern, stößt man nicht selten auf die Bezeichnung „Canzonetta“. Und so weisen zum Beispiel Cherubinos Lied „Non so piú…“ oder das bezirzende „Deh, vieni alla finestra“ in dem Don Giovanni ein einziges Mal „bei der Arbeit“ zu erleben ist, deutlich einen liedhaften Charakter auf.
Die Einordnung der Lieder in Mozarts Werk kann verschieden diskutiert werden. Sind die Klavierlieder von Wolfgang Amadeus Mozart bedeutende Kompositionen eines nicht in Frage stehenden Genies? Oder sind sie, wie die Anzahl mutmaßen lässt, Randprodukte seines Schaffens, die im Vergleich zu anderen Werken und Gattungen weniger bedeutungsvoll erscheinen?
Ein Argument, welches die zweite Frage bejaht, ist die zeitliche Einordnung der Lieder in den Rest des Gesamtwerkes. Mozart schrieb das erste (überlieferte) Lied 1768 im zarten Alter von 12 Jahren. Die weiteren Kompositionen entstanden dann sporadisch im Abstand von zwei bis fünf Jahren. Eine Dichte, die gemessen am Restwerk tatsächlich fast schon zu vernachlässigen ist.
Durch die Briefe von Mozarts Schwester ist überliefert, dass die meisten Lieder wohl als Gelegenheitskompositionen zu bezeichnen sind. Einige Stücke verraten schon im Titel einen konkreten Anlass (zum Beispiel „Des kleinen Friedrichs Geburtstag“) und stehen so im klaren Kontrast zum Gros der Auftragskompositionen aus Mozarts Feder.
Es stechen die Jahre 1785 und 1787 heraus, in denen sechs bzw. zehn Stücke entstehen. Unter ihnen finden wir auch die bekanntesten Kompositionen Mozarts in dieser Gattung. Ins Jahr 1785 fallen zum Beispiel „Der Zauberer“ (KV 472, Text: Christian Felix Weiße (1726-1804)) und „Das Veilchen“ (KV 467,Text: Johann Wolfgang von Goethe). Im Jahr 1787 entstanden unter anderem „Die Verschweigung“ (KV 518, Text: Christian Felix Weiße), „Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte“ (KV 520, Text: Gabriele von Baumberg (1766-1839)), „Abendempfindung an Laura“ (KV 523, Textdichter unbekannt) oder „An Chloe“ (KV 524 Text: Johann Georg Jacobi (1740-1814)).
Ebenfalls auffallend ist die Herkunft der Texte, die von Mozart vertont wurden. Das Veilchen, vielleicht das bekannteste Mozartlied, bleibt die einzige Liedkomposition in der ein wirklich prominenter Dichter vertont wurde. Dass Mozart darüber hinaus vor allem eher unbedeutende Dichter und literarisch nicht wirklich hochwertige Texte vertont hat, deutet darauf hin, dass er seinen Liedern keine besonders große Bedeutung zumaß. Man denke nur an die Sorgfalt, die Robert Schumann für die Auswahl der Texte aufwandte, die er vertonte.
Zu nennen ist aber auf jeden Fall noch Christian Felix Weiße. Zum einen, da er als Schriftsteller, vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur durchaus eine gewisse Bekanntheit besitzt, zum anderen da Mozart keinen anderen Dichter so oft vertont hat. Mehrere Kompositionen nach dem selben Dichter entstanden lediglich noch im Falle von drei Liedern nach Johann Timotheus Hermes (1738-1821).
Aber wie sind denn nun klavierbegleitete Sololieder von Wolfgang Amadeus Mozart heute einzuschätzen? Wie so oft scheiden sich die Geister und die Meinungen reichen von strikter Ablehnung bis hin zur Einstufung der Lieder als Vorstufe zum romantischen Kunstlied. Allein die zeitliche Spanne des Liedschaffens Mozarts lassen pauschale Bewertungen jedoch völlig unangebracht erscheinen. Dies macht es notwendig, die Lieder einzeln zu betrachten.
Die Vorstellung, „Das Lied der Trennung“ (KV 519) in voller Länge zu hören, gehört aufgrund der beachtlichen Anzahl von 15 Strophen nicht unbedingt zum Idealfall eines Konzerterlebnisses und seien sie noch so differenziert interpretiert. Dieses ist nicht das einzige Lied, in dem Mozart einen Text mit solch hoher Anzahl von Strophen wählt. Geringfügig differenziert werden in solchen Fällen wenn überhaupt nur einzelne, zum Beispiel die letzte Strophe. Dies trägt nicht dazu bei, die betreffenden Stücke musikalisch besonders interessant wirken zu lassen.
Darüber hinaus schöpft Mozart in seinen letzten Lebensjahren in seinen Liedern nicht das kompositorische Potential aus, das ihm im Vergleich mit anderen Werken, zur Verfügung steht. Wer in den drei Zeilen der „Sehnsucht nach dem Frühlinge“ (1791, KV 596) eine Miniatur des restlichen Mozartschen Schaffens sucht, wird wohl oder übel enttäuscht werden. Man denke auch hier im Hinblick auf vokale Werke an die oben erwähnten Da Ponte Opern, in denen Mozart den Witz und die Dramatik legt, die eben erst später im Kunstlied ausgelebt wurden.
Doch muss bei aller Kritik festgestellt werden: Es sind und bleiben Kompositionen aus der Feder eines Genies. Das kann man sich auch leicht lebhaft vor Augen führen. Und man muss nicht lange suchen, um die Stellen zu finden, in denen sich der große Komponist offenbart, der sich so oft in das innere Ohr eingebrannt hat. Zum Selbstversuch sei Der Zauberer empfohlen. Jeder, der das Lied jemals gehört hat, wird sich vielleicht nicht unbedingt an den Text, möglicherweise auch nicht an die Melodie der Strophe erinnern. Was jedoch immer Präsent bleibt, ist der Lauf am Ende des Nachspieles im Klavier.
Und so gelingt es Mozart immer wieder, ein besonderes „i-Tüpfelchen“ auf seine Kompositionen zu setzen, um ihnen doch seine ganz persönliche Note zu verleihen. Wie im Falle des Zauberer-Nachspieles gelingt es Mozart, übrigens in jeder Schaffens-Phase seines Lebens, seine Hörer immer wieder zu überraschen. Das besprochene Nachspiel gibt ja dem Klavier eine Bedeutung, die in der Zeit noch überhaupt nicht üblich war und uns auch heute beim Hören überrascht.
Der gleiche Effekt, den Hörer zu überraschen in dem der Komponist schon vorwegnimmt, was eigentlich noch nicht zeitgemäß ist, gelingt Mozart unzählige Male in seinen harmonischen Verläufen. Wie weiter unten am Beispiel beschrieben, könnte man immer wieder einzelne Zeilen oder Takte aus Mozartliedern herausstellen, die unbekannter Weise gewiss später eingeordnet würden.
Einen wichtigen Aspekt stellt auch die Tatsache dar, dass Mozart durchaus nicht nur Strophenlieder komponierte. „Das Veilchen“, wie schon angesprochen ein durchaus herausragendes Lied, fällt neben dem prominenten Dichter auch durch seine Kompositionstechnik auf. Es handelt sich hier um ein durchkomponiertes Lied, das in der Musik deutlichen Bezug auf den Text nimmt. Eindeutig wird das Klavier für einen kurzen Moment vom Begleitinstrument zum nachmalenden, ausschmückenden Faktor, wenn von der jungen Schäferin und ihrem Gesang die Rede ist und das Klavier dieses Bild in einem viertaktigen Zwischenspiel unterstreicht, ausmalt und ergänzt. Zweifelsohne wird in diesem Stück der Text nicht nur beiläufig vertont, sondern durch Rücksichtnahme, Ausdeutung und Interpretation bereichert und in einer Weise veredelt, der wir regelmäßig erst ein halbes Jahrhundert später bei den Komponisten der Romantik begegnen werden.
In die gleiche Kategorie fällt eine Stelle, die ganz deutlich ins Auge und Ohr springt. Wenn Mozart in der 18. Strophe von „Das Lied der Trennung“ (KV 519) in der letzten Zeile von der Tonika über den Tonikagegenklang als Sextakkord zur Subdominante mit zusätzlicher Sexte wandert und von dort aus zum Dominantseptakkord zurückkehrt, lässt sich die Assoziation mit Schuberts „Ständchen“ aus dem Schwanengesang nur sehr sehr schwer beiseite schieben. Die rhythmische Ähnlichkeit in der Begleitfigur tut ihr Übriges, um diesen Eindruck zu erhärten. So findet man auch hier eine Idee, die Jahrzehnte später ganz konkret wieder aufgenommen wurde.
Ebenso herausragend ist das bereits erwähnte Lied „Abendempfindung an Laura“. Auf der einen Seite aufgrund seiner außergewöhnlich melancholischen Grundstimmung, die sich doch spürbar von dem Gros der restlichen Lieder absetzt. Auf der anderen Seite finden wir hier harmonische Finessen, anhand derer sich wiederum einmal mehr das Genie hinter der Komposition offenbart.
Wer weiter oben auf der Suche nach den „Mozartminiaturen“ enttäuscht wurde, hat hier Gelegenheit noch einmal auf seine Kosten zu kommen. Wer würde in den Takten 62-64 wo es heißt „schenk auch du ein Tränchen mir“ beim ersten Hören oder Spielen einen Mozart hinter dem harmonischen Verlauf vermuten?
Insgesamt bleibt als Eindruck bestehen, dass die 30 überlieferten Lieder von Wolfgang Amadeus Mozart sicherlich nicht zu den Werken gehören, die dem Komponisten selbst besonders wichtig waren. Auch aus diesem Grund finden sich innerhalb der Lieder durchaus einige Stücke, die nicht unbedingt eine Bereicherung für einen Liederabend darstellen. Jedoch finden wir viele der Charakteristika des romantischen Kunstliedes schon auf einige Mozartlieder verteilt. Ein sich emanzipierendes Klavier wie im Nachspiel des „Zauberers“ oder die Textausdeutung im „Veilchen“ wurden als Beispiele genannt.
Und so bleibt ganz klar festzuhalten, dass man auch auf einige Lieder stößt, deren Wert auch im Vergleich zum Kunstlied-Repertoires späterer Komponisten unermesslich ist. Dies entsteht gerade durch den Vorgriff auf eine Ästhetik im Lied, die in dieser Form erst mit Schubert endgültig auf den Weg gebracht wurde.
Von Virgil Mischok
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