„Wahn, Wahn, überall Wahn!“

Die ungeteilte Aufmerksamkeit, die man dem Komponisten Richard Wagner letztes Jahr gewidmet hat, beruhigt sich allmählich wieder. Endlich ist das Wagner-Jahr vorbei, wobei sich im Grunde nichts Wesentliches geändert hat. Eines scheint jedoch von Neuem bestätigt worden zu sein: Dass die Kontroversen um die Persönlichkeit Richard Wagners, die bereits zu seinen Lebzeiten ihren Anfang nahmen, auch in unserer Zeit immer wieder aufgegriffen werden.

Ob man dem „Phänomen Wagner“ dabei gerecht wird steht auf einem anderen Blatt. Verschiedenste Umstände und geschichtliche Ereignisse des 19. wie auch des 20. Jahrhunderts haben dazu beigetragen, ein einseitiges Wagner-Bild zu schaffen, das so verzerrt und oberflächlich in unsere Zeit hineinwirkt, wie dies bei kaum einem anderen Komponisten der Fall ist. Einer sachlicheren Rezeption stehen enorme Hindernisse im Wege, wobei besonders auf die Entfremdung des Werkes durch die Nationalsozialisten zu verweisen ist.

Die aktuelle Wagner-Rezeption wird auf einer breiten Ebene von Unsachlichkeiten und Missverständnissen geprägt. Es gibt keine Entschuldigungen dafür, dass im Jahr 2013, in dem der geschichtliche Abstand zu gewissen Ereignissen scheinbar groß genug sein müsste, eine kritische Diskussion höchstens am Rande der Gesellschaft geführt wird.

Die Wagner-Literatur spricht in dieser Hinsicht Bände, wobei in der riesigen Menge an fabelhaftem Unsinn auch vereinzelte Perlen zu finden sind. Die dem deutschen Kulturkreis unangemessene Rezeption Richard Wagners ist manchen Autoren so aufgestoßen, dass sie hauptsächlich aus der Motivation, diese zu verbessern, d.h. die Vielseitigkeit dieses Charakters zu diskutieren, dem nicht zu erschöpfenden Fundus der Wagner-Literatur ein neues Buch hinzufügten.

„Es ist an der Zeit, die Wagner-Kritiker zu kritisieren, die sich aus Vorurteil oder Bequemlichkeit nicht um jederzeit zugängliches Quellenmaterial bemüht haben.“1

Dieser Leitspruch ist auf einen Großteil aktueller Darstellungsweisen anwendbar. Buchtitel wie „Wagners Hitler“ oder „Richard Wagner das Pumpgenie“ stehen bereits durch ihre reißerischen Titel in der Tradition einer sensationslüsternen, modernen Pressekultur. Die grundlegende Intention eines solchen Buches und die damit verbundene emotionale Haltung gegenüber dem Komponisten machen die eigentliche Lektüre überflüssig, da ein historisch zuverlässiger (und das heißt auch weitgehend neutraler) Umgang mit der Thematik von vorneherein umgangen wird. Es versteht sich von selbst, dass derartige Biographien nicht ernstgenommen werden können, wobei dies leider recht häufig, wenn auch unterbewusst dennoch geschieht: Diverse nicht verifizierte Vorurteile werden geschürt und weiterverbreitet.

Das Problem mit Wagner lässt sich im deutschsprachigen Raum im Großen und Ganzen auf das Problem mit der eigenen Geschichte konkretisieren. Reich-Ranicki spricht vom „nationalen Minderwertigkeitskomplex der Deutschen“. Oder anders gesagt: Das Problem mit Wagner ist vordergründig ein gesellschaftliches Problem, das nur aus der Beschaffenheit der modernen Medien- und Informa­tionskultur erklärt werden kann.

Informationen lassen sich perfekt in die Medienlandschaft integrieren, wenn sie von einer Einfachheit ihrer Struktur geprägt sind. Durch ihre unzweifelhafte Tendenz schließen sie in der Meinungsbildung nicht erwünschte Diskussionen aus und lassen sich mit den Prinzipien des Mainstreaming vereinen. Alles verkommt hierbei zur boulevardesken Floskelhaftigkeit. Das besondere mediale Interesse um den Komponisten im Jahr 2013 konnte sich nicht anders, als auf gänzlich unhistorische Art äußern, um die Leitlinien unserer „Positivgesellschaft“2 nicht zu stören.

Nach der Theorie des Philosophen Byung-Chul Han muss Information, um der Schnelligkeit der modernen Kommunikationsstrukturen zu entsprechen, möglichst geradlinig, ohne innere Widersprüche sein, weil jede Widersprüchlichkeit (Negation) eine Verlangsamung zur Folge hätte. D.h. eine problematische Darstellung einer Person mit ihren Widersprüchen, die gerade in Wagners Leben zahllos und für seinen Charakter bezeichnend sind, passt nicht in den technischen Ablauf der modernen Medienkultur.

Zu den folgenschweren Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Systems zählt der Philosoph auch die allgemeine Verständnislosigkeit gegenüber Kunst und besonders der Musik.3 Dass seine theoretischen Reflexionen ihr Pendant auf musikalischer Seite ausgerechnet in der aktuellen Auseinandersetzung mit Richard Wagner finden, erhellt die Richtigkeit seiner Überlegungen: Die Literatur der letzten Jahre zeichnet sich klar durch ihre Unfähigkeit aus, der künstlerischen Seite dieses Menschen, also der Wesentlichen, gerecht zu werden.

Der berühmte Philologe Peter Wapniewski äußert sich unter Einbeziehung des besonderen Charakters der Wagnerschen Kunst zu dieser Problematik folgendermaßen: „Wagner hat die Eigentümlichkeit, den Denkunwilligen kraft der den irdischen Horizont streifenden Gewalt seines Orchesterklangs von der Not des Denkens gnädig zu entbinden. Das aber heißt auch: an der denkenden Erfassung seines Werkes zu hindern. So erklärt es sich, dass die Geschichte der Deutung seiner Werke auch die Geschichte ihrer Umdeutung ist, – was zwar grundsätzlich für alle Beschäftigung mit Kunst, insbesondere dramatischer Kunst zutrifft, sich aber im Falle Wagners ungleich verheerender bestätigt und ausgewirkt hat als etwa im Falle Shakespeares oder Schillers.“4

Bei einem Universalgenie vom Format Wagners, der verschiedenste Künste in sein Werk integrierte (Musik, Dichtkunst, Schauspiel, Malerei, Bildende Kunst, Architektur) ist die Verständlichmachung seiner Person und seines Werkes eine schwierige Aufgabe, die ein Mensch allein kaum befriedigend zu lösen vermag. Anstatt den Versuch zu wagen, dieses wahrhaft phantastische Phänomen zu ergründen, wozu ein (laut Han in unserer Gesellschaft nicht vorhandenes) ästhetisches Bewusstsein erfordert wird, konzentriert sich die Literatur gemeinhin auf das Leben Wagners und schlachtet dieses nach trivialen Begebenheiten aus, um schließlich aus einer Mücke einen Elefanten zu machen.

Demgegenüber ist nicht zu verachten, dass es vereinzelte Versuche musikwissenschaftlicher Arbeit gibt, die sich sehr wohl um die künstlerischen Aspekte bemühen; Diese machen aber bei weitem nicht den Löwenanteil in der Literatur aus und sind durch ihren fachspezifischen Charakter auch nicht einem allgemeinen Interesse zugänglich. Von den Medien, wie auch von diversen Museen werden solch fundierte, mit gründlich recherchiertem Quellenmaterial ausgestatte Arbeiten weitgehend ignoriert, worin meiner Meinung nach der entscheidende Fehler im Rezeptionsvorgang liegt, der in den von Han aufgezeigten „positiven“ gesellschaftlichen Strukturen begründet ist.

Ausgewiesene Fachleute werden selten konsultiert, man beruft sich vielmehr auf die gängige Literatur, von deren tendenziösem Charakter man sich in jeder Bibliothek leicht selbst überzeugen kann. Mir geht es im Zusammenhang mit dem Wagner-Jahr darum, wie der Komponist in der Öffentlichkeit von verschiedenen Medien präsentiert wird. Anstelle einer umfassenden Literaturanalyse fasse ich die Hauptmotive, aus der die bewusste Verzerrung des Wagnerbildes entspringt im Punkt der nationalen Identität zusammen, wobei einige wenige, dafür um so bedeutungsvollere Aspekte das Identifkikationsproblem Deutschlands mit Richard Wagner erkennbar machen sollen.

Das Problem der nationalen Identität

Wagner gilt weithin als das Urbild eines typisch deutschen Komponisten. Seine eigene Positionierung mit dem Erschaffen einer nationalen, deutschen Opernkultur hat nicht wenig zu dieser Stilisierung beigetragen. Es stimmt, dass Wagner sich selbst als zutiefst deutscher Komponist verstand, dass ein nicht zu unterschätzender Teil seiner Motivation der Etablierung eines nationalen Stils in Europa galt.

Doch worin genau bestand eigentlich seine Leidenschaft und Solidarität gegenüber dem Deutschtum? Der starke Wille, mit dem Wagner eine Kulturnation zu einigen versuchte, konnte nur aus den desolaten Zuständen entspringen, in der sich diese befand. Geschweige denn, dass im 19. Jh. davon gesprochen werden konnte, dass eine solche überhaupt bestehe. Deutschland existierte nicht als souveräner Staat, sondern wurde nach den napoleonischen Befreiungskriegen durch den Wiener Kongress lediglich in einem Staatenbund von vielen einzelnen souveränen Staaten, zu denen auch Österreich gehörte, im „Deutschen Bund“ repräsentiert.

Diese Zustände ließen bei vielen Menschen, so auch im jungen Wagner die tiefe Sehnsucht nach Einigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit aufkommen, die sich in Revolutionen (z.B. 1830 oder 1848) äußerten. Die Problematik einer Definition der eigenen, deutsch-nationalen Identität wurde oben als „nationaler Minderwertigkeitskomplex“ bezeichnet, der sich durch die deutsche Geschichte wie ein roter Faden zieht. Dass Wagner von dieser Identitätskrise wie viele andere betroffen war, darf man in der Zeit eines souveränen und geeinten Deutschlands nicht vergessen.

„Hatte ich im unwillkürlichen Drange dem, was ich als ‚deutsch‘ mit immer innigerer Wärme sehnsüchtig zu erfassen suchte, mich immer mehr zugewandt, so ging mir dies hier plötzlich in der einfachen, auf das bekannte alte Leid vom „Tannhäuser“ begründeten Darstellung dieser Sage auf.“5

Bezeichnend ist das suchende, sehnsüchtige Element im Auffinden eines irgendwie gearteten deutschen Geistes. Und worin findet Wagner diesen Geist? Lediglich auf zwei vereinzelten Seiten deutscher Kulturgeschichte: Der Geisteswissenschaft und der Kunst. Das politische Geschehen kritisierte er zeitlebens stark. In seiner Schrift Was ist deutsch? lässt er kein gutes Haar am (mittlerweile bestehnden) deutschen Kaiserreich. Dazu gehört auch seine tiefe Abneigung gegen die sog. Tagespolitik. Wagner suchte die nationale Identität lediglich in der Kunst und beschränkte deren Wirkung aber bei weitem nicht nur auf den deutschsprachigen Kulturkreis. Es erscheint auch nur natürlich, dass ein gänzlich für die Kunst lebender Mensch die Lösungen für verschiedenste Probleme in derselben aufzufinden versucht. Sein eigenes Verständnis zum Deutschtum begründete sich in Wahrheit überhaupt nicht auf das nationale, politische Element.

Deutschtum im Jahr 2014

Unsere Situation unterscheidet sich maßgeblich von den Problemen des 19. Jahrhunderts, weist aber auf einer anderen Ebene einen ähnlichen Komplex im Umgang mit der Nationalität auf. Durch den schlimmen Missbrauch seiner Macht im 20. Jahrhundert scheint Deutschland so viel Schuld auf sich geladen zu haben, dass von der deutschen Öffentlichkeit eine ständige Bußfertigkeit eingefordert und zelebriert wird, um das Ausland zu befriedigen: „Ja, wir haben aus unserer Geschichte gelernt.“ Einige Beispiele werden das nahezu neurotische Geschichts-Bewusstsein (man könnte auch sagen: die Geschichtsverdrängung) erhellen:

Der deutsche Kabarettist Serdar Somuncu erhielt für eine Tournee Morddrohungen vom linken sowie rechtspolitischen Spektrum, musste aus Sicherheitsgründen von einem Polizeikonvoi ununterbrochen begleitet werden. Der Grund für die Aufregung: Er zitierte in seinem Kabarett auf humoristische Weise Passagen aus Mein Kampf.6

Ein weiteres Beispiel: Beim polititsch rechts ausgerichteten Akademiker-Ball im Januar 2014 wurde die Wiener Innenstadt großflächiger abgesperrt, als beim Besuch des US-Präsidenten Obama. Grund der Aufregung hier: Um die Ballbesucher vor Übergriffen politischer Demonstranten zu schützen hielt es die Stadt für angebracht neben den Absperrungen Vermummungsverbote in 9 Bezirken auszusprechen. Die Abwehrmechanismen gegen Alles, was mit der Geschichte der Nationalsozialisten irgendwie in Verbindung gebracht werden kann, sind in der deutschsprachigen Gesellschaft so tief verankert, dass sie mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung der Geschichte beitragen.

Was bei Kabarettisten und Bällen medienwirksam in Erscheinung tritt, äußert sich auch in der Musikwissenschaft. So musste sich beispielsweise der Musikkritiker Alex Ross für sein Buch The Rest Is Noise den Vorwurf nationalsozialistischer Tendenzen gefallen lassen, weil er sich teilweise kritisch zur Musikentwicklung der Moderne geäußert hätte, was die Nationalsozialisten ja auch getan hätten. In diese Reihe gehört auch ein ironischer Kommentar, über den ich in einem Internetforum gestolpert bin und den ich hier sinngemäß wiedergebe: „Die deutsche Sprache weist erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem Nationalsozialismus auf. Man sollte daher eine neue Sprache erfinden.“

Die Sprödigkeit im Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte motivierte die stärksten und zugleich unhaltbarsten Vorurteile über Richard Wagner. Es scheint, dass der Nationalsozialismus eine tiefe Kluft zwischen unserer Gesellschaft und der vergangenen deutschen Kultur geschlagen hat, die bis heute nicht überwunden werden konnte. Dieses fatalistische Bild wurde von Richard Strauss beispielsweise in seinen Metamorphosen (1945) und Vier letzten Liedern (1949) festgehalten, die in einer nahezu endzeitlichen Stimmung den Untergang nicht nur der Romantik sondern des gesamten Erbes der europäischen Kultur beklagen. Ältere Vertreter des deutschen Kulturerbes geraten in unserer Gesellschaft nahezu in Vergessenheit. Schriftsteller wie Goethe und Schiller werden bereits im deutschen Schulsystem als „schwierig“ empfunden und vermittelt. Der Umgang damit wird dort erzwungen, im Öffentlichen wie im Privaten hinterher logischerweise abgelehnt oder nivelliert.

Diejenigen Künstler, die jedoch vom Nationalsozialismus in irgendeiner Form anerkannt waren, müssen aus der deutschen Geschichtsverdränung an die Oberfläche gezogen und zur Opferbank geführt werden (um ständige Bußfertigkeit zu demonstrieren). Dass es hierbei große Ungleichgewichte gibt, erhellt z.B. daraus, dass Beethoven, der tatsächlich auf einer breiten, nationalsozialistischen Ebene als Heros der deutschen Musik galt, überhaupt nicht aus diesem Gesichtspunkt beurteilt wird. Im Gegensatz dazu stellt man Wagner umso mehr an den Pranger, obwohl viele seiner Werke von der Führungsspitze wegen mangelender Kompatibilität mit nationalsozialistischen Wertvorstellungen eigentlich abgelehnt wurden (besonders der Parsifal). Lediglich die persönliche Begeisterung Hitlers für diese Werke ermöglichten deren zahlreiche Aufführungen.

Im schlimmsten Fall wurden folgende Schlüsse mit einfachster (und darum bestechender) Logik gezogen: Hitler war verwerflich, Hitler mochte Wagner, darum muss Wagner verwerflich sein. Und mit dem nächsten Schritt ist man schon bei: Wagner muss der ideologische Vorreiter von Hitler gewesen sein. Über solche Phantastereien wäre wahrscheinlich sogar E.T.A. Hoffmann in Erstaunen geraten.

Joachim Köhler, Autor des Buches „Wagners Hitler“, der diesen letzten Zusammenhang am lautesten ausposaunte, gestand später die unsachgemäße Behandlung dieses Themas aus historischer Sicht. Das Buch steht trotzdem weiterhin in den Bibliotheken und wird verbreitet, gelesen und zitiert. Ein eine verfehmende, aus historischen Gründen in höchster Affektiertheit verfasste biographische Veröffentlichung lässt sich später nicht einfach zurückziehen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der vergangenen Kultur sollte eigentlich eine Leitlinie für jeden ernst zu nehmenden Biographen sein. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts muss ernster genommen werden, da helfen keine Polemik und keine kulturellen Opfergaben, die von den eigentlichen Problemen ablenken.

In diesem Sinne muss endlich die nationale Geschichte nicht verarbeitet, sondern sogar überwunden werden, um wieder einen tieferen, öffentlichen Umgang mit Wagner und allen anderen Vertretern deutscher Kulturgeschichte zu ermöglichen. Dass die innerliche, emotionale Haltung im gesellschaftlichen Bewusstsein einer solchen Vorgehensweise entgegensteht, darauf hat Serdar Somuncu mit seinem Kabarett in der höchstmöglichen aggresiven Form aufmerksam gemacht. Der gesellschaftilche Standpunkt wurde durch seine Show auf hässliche Weise deutlich. Die Wahrheit hat den unbequemen Zug öfter an sich, als den bequemen. Mit diesem Artikel möchte ich dieser Polemik eine ernsthafte Diskussion an die Seite stellen, in der Hoffnung dass diese Thematik auch zukünftig auf einer breiteren Ebene diskutiert werden kann.

Freispruch für Wagner?

Die Vorwürfe, denen Richard Wagner in Biographien aller Art ausgesetzt ist, kreisen immer wieder um ähnliche Aspekte seines Lebens. Die Urteilssprüche kreisen oft um sein Verhältnis zu König Ludwig II, die Anklage bezichtigt den Komponisten der übermäßigen finanziellen Ausbeutung der bayerischen Staatskasse. Außerdem wird sein Umgang mit Frauen gerügt, besonders die Affäre um Cosima Bülow, seine spätere Ehefrau, die vorher mit dem ihm befreundeten Dirigenten Hans von Bülow verheiratet war. Der gewichtigste Vorwurf gilt jedoch dem Antisemitismus, den Wagner in Das Judentum in der Musik geäußert hatte, und der die verhängnisvolle Verbindung mit dem Nationalsozialismus bis heute besonders forciert.7

Aus den gründlichen Recherchen motivierter Musikwissenschaftler lässt sich der Wahrheitsgehalt diverser Unterstellungen überprüfen. Es folgen nun einige Sachverhaltsdarstellungen, die im Fundus der kritischen Wagner-Literatur durchaus gefunden werden können. Der Vorwurf der finanziellen Ausbeutung des bayerischen Staates kann nur ordentlich untersucht werden, wenn Höhe und Herkunft der Summen genannt werden, die Wagner tatsächlich erhielt. Nach Manfred Egers ausführlicher Quellenforschung erhielt Wagner demnach über einen Zeitraum „von 19 Jahren (…) von Ludwig insgesamt 562 914 Mark. Darin sind Gehälter, Mieten, Geldwert der Sachgeschenke und auch 75 000 Mark für den Bau des Hauses Wahnfried inbegriffen. Der Gesamtbetrag macht nicht ganz den siebten Teil eines Jahresetats der Zivilliste (4,2 Millionen Mark) aus, über den der König allerdings nur zu einem Drittel frei verfügen konnte. (…) Seine Schlösser kosteten ihn 32,4 Millionen Mark, – ihn allein, nicht den Staat, der nach dem verlorenen Krieg mit Preußen 51 Millionen Mark an Reparationen bezahlte. Allein für die Einrichtung des Schlafzimmers in Herrenchiemsee wandte der König rund 652 000 Mark auf – 90 000 Mark mehr als für Wagner insgesamt, und die Brautkutsche für die königliche Hochzeit, die dann nicht stattfand, kostete 1,7 Millionen Mark. (Meyerbeer erhielt für 100 Aufführungen seiner Oper Der Prophet in Berlin 750 000 Mark Tantiemen).“8 Wenn man diese Zahlen gegeneinander abwägt, wird schnell ersichtlich wie lächerlich klein sich die Gelder, die an Richard Wagner wohlgemerkt im Lauf von 19 Jahren flossen, im Verhältnis allein zu einem Schlafzimmer (!) des Königs verhalten.

Richard Wagner und die Frauen – eine ganz eigene Facette der Wagner-Rezeption, und nicht die rühmlichste, ist nun der Abgesang: Für mich ist es völlig unverständlich, wie man einem Künstler ein paar wenige Liebesaffären (von denen nicht belegt ist, ob viele über den platonischen Charakter hinausgingen) so dermaßen zur Last zu legen und sich als Biograph gleichzeitig als Moralapostel zu betätigen. Wagner hat die Unbeständigkeit seines Liebeslebens offen gestanden. Ebenso beschreibt er in seiner Biographie ehrlich sein wechselhaftes Temperament, das v.a. seine erste Frau Minna zu bändigen und zu tragen hatte. Auch die männlichen Haupt-Figuren seiner Opern sind Männer, die an den Frauen und der Liebe regelmäßig scheitern: Da gibt es Wotan, der seine Untreue frech zu behaupten weiß („Wandel und Wechsel liebt, wer lebt“), Tannhäuser, der seine Elisabeth schrecklich betrügt, Lohengrin, der seine Geliebte verlässt, Siegfried, der in Gunters Gestalt seine Brünnhilde zur Liebe zwingt usw. Was Wagner nie getan hat, nämlich sich in Liebesdingen als Moralapostel aufzuspielen wird von seinen Biographen auf breiter Basis übernommen. Darf ein Mensch in seinem Leben etwa nur einen Partner haben? Muss ein Mensch von Anfang an sein Liebesglück finden, um andernfalls moralisch verworfen zu werden? Eine Gesellschaft, die das verlangt, kann nur als extrem prüde und realitätsfremd bezeichnet werden. Gerade Wagners Opern können uns hierin eines Besseren belehren. Reich-Ranicki äußerte in Abwandlung eines Brecht-Zitates: „Unglücklich das Land, das von seinen Dichtern Heldentum erwartet.“9

Von Alexander Fischerauer


1 Weikl/Bendixen, Freispruch für Richard Wagner?, Leipziger Universitätsverlag, 2012, S. 14

2 Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Matthes&Seitz, Berlin, 2012, S. 5

3 Ebd. S.25 und S.47

4 Müller/Wapniewski, Wagner Handbuch, Alfred Körner Verlag, Stuttgart, 1986, S. 236f.

5 Richard Wagner, Mein Leben, List Verlag, München 1963, S. 252

6 vgl. Interview mit Holger Kreymeier: http://fernsehkritik.tv/folge-72/

7 Die Bedeutung des Antisemitismus in Wagners Leben, die einem beständigem Wandel unterlag, verweise ich auf meine diesbezügliche Beschreibung in Contrapunkt, Nr. 4, Richard Wagner und die Religion

8 Wagner-Handbuch, Müller/Wapnewski, Alfred Kröner Verlag, 1986, Stuttgart, S. 171

9 Reich-Ranicki in der Fernsehsendung lauter schwierige Patienten, http://www.youtube.com/watch?v=dksetII5sls