Gemäß den Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie setzt sich die sinnliche Wahrnehmung beim Menschen aus 60% visueller und 40% auditiver Information zusammen. Das ist auch bei einem Konzertbesuch der Fall. Neben der Musik nimmt man immer auch den Dirigenten, die Solisten, die Musiker des Orchesters, auffallende Personen im Publikum und die Innenarchitektur des Saales wahr. Und bei einer Opernaufführung natürlich die Bühne.
Interessanterweise ist aber der aktuelle Standard-Tonträger für Musikaufnahmen die bildlose CD, obwohl es mit der DVD und der BD (Blue-ray Disc) Speichermedien für die Aufzeichnung von Ton und Bild gibt. Anscheinend sind Musikfreunde zufrieden, wenn sie in ihrem Wohnraum Musik ausschließlich hören ohne die Musikeraktivitäten und ihr Umfeld auch zu sehen. Aber auch bei den Konzertübertragungen dominiert das bildlose Medium, der Rundfunk. Fernsehübertragungen finden deutlich seltener statt.
Bei der Wiedergabe von Aufnahmen von Instrumental- und Vokalmusik ist diese Genügsamkeit der Musikkonsumenten noch einigermaßen verständlich. Bei der zurzeit üblichen Art der Fernseh-Konzertübertragungen ist die visuelle Information ja auch nicht immer hilfreich. Oft ist sie sogar störend, vor allem dann, wenn die Bildregie in Großaufnahmen ausschließlich gemäß Wilhelm Busch verfährt („beim Duett sind steht’s zu sehn, zwei Mäuler welche offen stehn“). Interessanterweise bevorzugen Musikfreunde aber auch bei Opernaufnahmen den bildlosen Tonträger CD.
Das mag bei Rossini-Opern noch angehen. Wie sieht es aber bei den Musik-Dramen Wagners aus? Wagner verwendete für seine Werke die Bezeichnung „Drama für Wort und Ton“. Im Zentrum stand für ihn das jeweilige Drama, das er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln so zu vermitteln versuchte, dass man sich als Zuhörer nicht entziehen konnte. Das Drama war der Zweck, Mittel zu diesem Zweck waren für ihn die bildende Kunst (das Bühnenbild) die Pantomime (das Bühnengeschehen), das Wort (seine Dichtung) und last but not least die Musik.
Der Ablauf des Dramas wird pantomimisch auf der Bühne dargestellt, ergänzt und verständlich gemacht durch den gesungenen Text. Dazu kommt Wagners „unglaublich intensive und manipulative Musik“ (Zitat Barenboim). Erst die Kombination von Bühnengeschehen Dichtung und Musik ermöglicht den Zuhörern die Deutung des Dramas. Es gibt eine künstlerisch eigentlich unsinnige CD mit dem Titel „der Ring ohne Worte“ (Wiener Philharmoniker mit Lorin Maazel).
Ebenso unsinnig ist aber ein „Wagner ohne Bühnengeschehen“, denn in Bayreuth (an deren von Wagner gewünschten Aufführungssituation man sich orientieren muss) befinden sich Dirigent und Orchester unsichtbar im „mystischen Abgrund“ des Orchestergrabens und der Zuschauerraum ist während der Aufführung verdunkelt. Das Publikum kann und muss sich deshalb auf das einzig sichtbare, die Bühne zu konzentrieren. Und genau das wollte Wagner erreichen.
Den Stellenwert der Bühne für das Drama verdeutlichte Wagner auch bei der Eröffnung der ersten Festspiele am 13. August 1876 mit Rheingold. Dirigent war Hans Richter. Wagner hatte die Gesamtleitung und er inszenierte den ganzen Ring selbst. Er führte sogar ein Casting für die Sänger durch. Dabei achtete er nicht nur auf deren sängerischen Qualitäten, sondern auch auf ihr Aussehen und ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Damit ist klar, dass CDs und Rundfunkübertragungen ohne Bühnenbild und ohne pantomimisches Bühnengeschehen dem Zuhörer das Drama nicht mit der von Wagner vorgesehenen Intensität vermitteln können. Der „Aufnahme-Zuhörer“ muss sich mit einer konzertanten Aufführung, einem amputierten Gesamtkunstwerk begnügen.
Die Fragen „Rundfunk- oder Fernsehübertragung“ und „CD oder DVD“ sind damit beantwortet. Was aber natürlich auch bei einer multimedialen Wiedergabe im Wohnraum immer fehlen wird, ist die Einbettung des Zuhörers in die einmalige Akustik des Festspielhauses, die auch von Surroundaufnahmen nicht reproduziert werden kann. Und dann natürlich die Hügelstimmung mit dem ganzen Drum und Dran. Die habe ich als Besucher der Tannhäuser-Aufführung in der Inszenierung von Sebastian Baugarten vom 1. August in Bayreuth selbst erlebt. Mit einigen Irritationen, über die ich zum Abschluss doch noch kurz berichten möchte: Handlungsort auf der Bühne war für alle drei Akte das Bühnenbild einer Biogasanlage. Der erste Akt, der Venusberg mit einer von Tannhäuser schwangeren Venus, war ungefähr so erotisch wie das Vorstadt-Billigbordell in Fellinis Film „Roma“.
Wenigstens konnte da endlich einmal auch der letzte Zuhörer verstehen, weshalb Tannhäuser den Venusberg unbedingt verlassen wollte. Der zweite Akt war musikalisch eine Sternstunde, die auch vom Bühnenbild, über das man dank der vielen Akteure einigermaßen hinwegsehen konnte, nicht getrübt wurde. Leider war der dritte Akt mit der in einem Biogastank eingesperrten Elisabeth musikalisch nicht mehr auf dem gleichen Niveau. Sternstunden wiederholen sich leider nicht.
Es ist ja bekannt, dass man heute schon einigermaßen glücklich sein kann, wenn die Inszenierung eine Opernaufführung nicht stört. Für den „Wagner im Wohnraum“ gibt es aber zum Glück auf dem Markt genügend DVDs mit den unterschiedlichsten Inszenierungen. Zum Beispiel den „Jahrhundert-Ring“ von Patrice Chéreau und Pierre Boulez.
PS: Wieder zu Hause im Wohnraum habe ich mir den Mitschnitt einer total konventionell inszenierten Tannhäuser-Aufführung der Met mit Levine angeschaut. Und da war für mich die Welt wieder in Ordnung.
Von Jürg Jecklin
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