Vorbemerkung

Einen Zusammenhang zwischen der Religiosität, erhaltenen Schriften und dem Werk eines Künstlers herzustellen zu wollen, ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Denn so schwer sich die Religiosität eines Menschen aufgrund ihrer subjektiven Beschaffenheit feststellen lässt, muss es doch fast unmöglich erscheinen, solch vage Vorstellungen auch noch im Werk eines Künstlers nachzuweisen.

Mit Richard Wagner hat es hierbei aus mehreren Gründen eine besondere Bewandtnis: Das erste und wohl größte Hindernis einer kritischen Darstellung seiner religiösen Ansichten besteht darin, dass in unserer Zeit von einem vorurteilsfreien Umgang mit der Person Wagner leider nicht ausgegangen werden kann. Daher musste dieser Artikel eine beachtliche Länge annehmen, um durch einen differenzierten Vortrag alten Vorurteilen und dem dadurch bewirkten Misstrauen entgegen zu wirken.

Mit dieser Untersuchung ist das Ziel verbunden, zumindest in Hinblick auf das Thema einen neutralen Zugang zu suchen, der hauptsächlich auf Primärquellen, also auf Schriften Wagners beruht und auf diese aufmerksam macht.

Außerdem bringt dieses Thema gewisse Probleme mit sich, die zu Beginn festgehalten werden sollten.

Erstens: Das Verhältnis Wagners zur Religion unterlag starken Entwicklungen und Veränderungen. Auch nur einen groben Überblick verschaffen zu wollen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Daher ist der hauptsächliche Gegenstand der Untersuchung Wagners Position am Ende seines Lebens. Als theoretische Schrift wird Religion und Kunst zu Grunde gelegt.

Zweitens: Aus den schriftlich sowie mündlich überlieferten Zeugnissen Wagners direkt auf sein Werk zu schließen, wäre ein ganz verfehltes Vorgehen. Denn die Entstehung der Kunstwerke Wagners unterlagen für die Nachwelt nicht nachvollziehbaren, oft subjektiven Bedingungen. Daher muss man mit Schlussfolgerungen dieser Art sehr vorsichtig umgehen.

Das Hauptproblem besteht in der Tatsache, dass die „dichterischen Ideen“1 in einem Drama durch Sprache nicht deutlich genug erfasst werden können (ein Problem das Kant in der Kritik der Urteilskraft dargelegt hat und das eines der grundlegendsten Probleme der Ästhetik ist). Dennoch lassen sich Zusammenhänge zwischen Wagners späten Schriften und dem Parsifal herstellen. Die äußerste Behutsamkeit, mit der sie in dieser Untersuchung angestellt werden, soll die Grenze zum rein spekulativen möglichst nicht überschreiten. Zusätzlich werden Überlegungen angestellt warum und wie Wagner bestimmte Ideen in Parsifal umgesetzt hat, andere jedoch nicht.

Arthur Schopenhauer – ein philosophiegeschichtlicher Exkurs

„Unser großer Philosoph“ – so nennt Wagner seinen wichtigsten Mentor. Nach dem Studium seiner Werke änderte er das schopenhauerbereits in der Dichtung fertiggestellte Ende der Götterdämmerung. An diesem Eingriff kann man bereits erahnen, wie sehr Schopenhauer das Denken und Wirken Wagners nachhaltig veränderte.

Warum ausgerechnet Schopenhauer diese Rolle im Leben des Dichters und Komponisten einnehmen sollte, lässt sich aus der Bedeutung dieses Philosophen erklären.Nachdem Immanuel Kant mit seinen Schriften (besonders der Kritik der reinen Vernunft) einen der entscheidendsten Wendepunkte in der gesamten Philosophiegeschichte bewirkte, stürzte das philosophische Deutschland in eine Krise. Denn die spekulative Theologie2, war von Kant mit absoluter Endgültigkeit widerlegt worden. Man suchte nun andere Wege, Philosophie zu betreiben wobei man großen Ernst und Eifer an den Tag legte, letztlich aber hauptsächlich Wortklaubereien und Begriffsspiele hervorbrachte, bei denen sich jeder alles und nichts denken konnte.

Diese Entwicklung ist in der Philosophiegeschichte ebenfalls einzigartig. Während diese neue Richtung, heute weitgehend als Deutscher Idealismus bezeichnet, sich von sämtlichen philosophischen Schulen abgrenzend, die es jemals gegeben hatte, in Deutschland auf große Beachtung, im europäischen Ausland auf Verachtung stieß, gab es einen deutschen Philosophen, der grundlegende Fehler in dieser Strömung erkannte, daher von Mitwelt und Kollegen zum größten Teil völlig ignoriert wurde: Arthur Schopenhauer knüpft direkt an I. Kants Werk an und betrachtet sich dabei selbst als dessen Fortführer und Vollender seiner Lehre. Mit seinem enormen Wissen über alle älteren sowie neueren philosophischen Schulen war es ihm möglich, die Fehler Kants zu berichtigen und dessen Lehre zu vervollkommnen.

Seine Erkenntnisse, die sich über alle philosophischen Disziplinen bis hin zu Grundsätzen der empirischen Naturwissenschaft, Psychologie, Mathematik und Kunst erstrecken, legte er in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung nieder, das schließlich auch Wagner in die Hände fallen sollte. Es ist also kein Zufall, dass Wagner sich ausgerechnet denjenigen Philosophen aussuchte, der die wichtigsten Erkenntnisse aus über 2000 Jahren Philosophiegeschichte mit seinen eigenen Ansätzen wirkungsvoll vereinte und damit zu einem der bedeutendsten Denker der Kulturgeschichte überhaupt wurde.

Wagners Religiosität

Diese lässt sich, wie schon in der Vorbemerkung erwähnt schwerlich fixieren. Die früheren Kunstwerke, wenn man sie in der Oper hört und sieht, geben meiner Meinung nach den besten Aufschluss über die Ideen, die Wagner mit einem Religiositätsgefühl verbindet, z.B. die Figuren Senta, Lohengrin und Elsa, Elisabeth mit ihrem Gebet. Dass Wagner schon von Kindheit an zur christlichen Religion eine starke, manchmal fast mystische Verbindung hatte, zur Kirche jedoch stets ein ambivalentes, geht z.B. aus einem Absatz seiner Autobiographie hervor: „Bereits traf mich der Akt meiner Confirmation zu siegfried-wagner-with-richard-420pxOstern 1827 in ziemlicher Verwilderung nach dieser Seite hin, und namentlich mit merklicher Herabstimmung meiner Hochachtung für kirchliche Gebräuche. Der Knabe, der noch vor wenigen Jahren mit schmerzlicher Sehnsucht nach dem Altarblatte der Kreuzkirche geblickt, hatte die Hochachtung vor dem Geistlichen, zu welchem er in die der Confirmation vorangehenden Vorbereitungsstunden ging, bereits so sehr verloren, dass er zu seiner Verspottung nicht ungern sich gesellte, und sogar einen Theil des für ihn bestimmten Beichtgeldes in Übereinstimmung mit einer hierzu verbundenen Genossenschaft vernaschte. Wie es trotzdem mit meinem Gemüte stand, erfuhr ich fast zu meinem Schrecken, als der Akt der Austheilung des heiligen Abendmahles begann, vom Chor Orgel und Gesang ertönte, und ich im Zuge der Confirmanden um den Altar wandelte: Die Schauer der Empfindung bei Darreichung und Empfang des Brodes und des Weines sind mir in so unvergesslicher Erinnerung geblieben, dass ich, um der Möglichkeit einer geringeren Stimmung beim gleichen Akte auszuweichen, nie wieder Veranlassung ergriff zur Communion zu gehen, was mir dadurch ausführbar ward, dass bekanntlich bei den Protestanten kein Zwang hierzu besteht.“3

Religiosität durchzieht in der Tat fast jedes der größeren Kunstwerke Wagners. Im Laufe seines Lebens suchte er sich jedoch dem Glauben und der Religion auch über die Philosophie zu nähern – eine Motivation, die in den gebildeten Schichten des 18. und 19. Jahrhunderts eine immer stärkere Bedeutung gewann. Der reine Offenbarungsglaube wurde von den Philosophen abgelehnt, was natürlich zu starken Konflikten mit der Theologie führte. Die Philosophen der Aufklärung versuchten den dogmatischen Kirchenglauben zu überwinden und den Kern religiösen Glaubens überhaupt aufzusuchen, den sowohl Kant als auch Schopenhauer wieder in Grundgedanken des Christentums finden. Paul Deußen, ein philosophischer Historiker, bekräftigt das „eminent Religiöse, ja Tiefchristliche der Weltanschauung Schopenhauers, welcher recht eigentlich den Namen eines philosophus christianissimus (christlichsten aller Philosophen) verdient, da er das innerste Wesen des Christentums tiefer erfasst und reiner dargestellt hat, als es je vor ihm geschehen ist.“4

Schopenhauer und Parsifal

Wagner, ganz im Geiste der aufklärerischen Offenheit, beschäftigte sich ausführlich mit verschiedenen anderen Religionen wie dem Islam, dem Brahmanismus und dem Buddhismus. Die Früchte dieser Arbeit waren so ergiebig, dass Wagner eine große Oper plante, die Buddha in der Hauptrolle vorsah. Die Sieger (es ist ein Prosaentwurf erhalten)kamen dann jedoch zugunsten des Parsifal nicht zur Ausführung. Die wirkungsvollste Äußerung der Schopenhauerischen Philosophie ist in eben diesem Werk, dem Parsifal, zu finden. Die Welt als Wille (die Verneinung) manifestiert sich als Idee im Gralsrittertum, einer Art christlichen Ordensgemeinschaft, die weltlichen Gütern und Genüssen entsagt und deren Ritter vom Gral in ferne Gegenden entsandt werden, um Unterdrückten und Armen zu helfen.

Die Welt der Vorstellung (der Bejahung) zeigt sich als Idee im Klingsorreich mit den verführerischen Blumenmädchen. Beide Welten in ihrem heftigen Widerstreit werden in der Figur der Kundry vereint, die zwei Naturen in sich birgt: Mal stellt sie sich dar als entsagende, aufopferungsvolle Büßerin, nach einer geheimnisvollen Verwandlung ist sie eine teuflische Verführerin, die durch ihre Verführungskünste sogar den Gralshüter Amfortas seine hohen Sendung vergessen machen konnte. Den heftigen Widerstreit dieser in jedem Menschen verankerten, entgegengesetzten Prinzipien bekommt denn auch Parsifal zu spüren, der aber die Nichtigkeit und Falschheit der heuchlerischen Kundry und des Klingsorreiches erkennt, wonach dieses unter dem Kreuzzeichen, das Parsifal mit dem wiedererlangten Speer schlägt, in Trümmer zusammenstürzt. Die Genialität mit der Wagner es verstand, die Ergebnisse der Schopenhauerischen Philosophie in künstlerische Ideen umzusetzen und damit den Kern wahrer Religiosität zu zeigen, um diesen dadurch einer viel breiteren Masse zugänglich zu machen, zeugen von einer ungeheuren Schöpferkraft.

Der Parsifal ist das lebendigste Beispiel dafür, was unter dem Einfluss der Lehre Kants und Schopenhauers bewirkt werden kann. Wagner war der Parsifal so heilig, dass er eine Bestimmung durchsetzte, die garantierte, dass das Werk bis 40 Jahre nach seinem Tod ausschließlich in Bayreuth aufgeführt werden durfte.5 Sein „Erlösungswerk“, dem er den Untertitel „Bühnenweihfestspiel“ gab, sollte mit dem herkömmlichen Opernbetrieb nichts zu tun haben. Diese in aller Kürze aufgezeigten Verbindungen der Philosophie Schopenhauers mit Parsifal müssen hier genügen, da man bei der Vertiefung der Thematik sowohl in Wagners Drama als auch in Schopenhauers Philosophie tiefere Einblicke vornehmen müsste. Das hier Dargestellte sind also nur die wichtigsten Einflüsse, aufgeführt in einer groben Darstellung.

Religion und Kunst

Zuletzt soll untersucht werden, wie sich Wagners Schrift Religion und Kunst mit dem Parsifal in Einklang bringen lasse. Wagner hat in dieser Schrift viel Widersprüchliches niedergelegt, indem er die Schopenhauerischen Erkenntnisse mit spekulativen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zweier Zeitgenossen vermengte. Diese späte Schrift Wagners wurde von ihm selbst später durch Ausführungen ergänzt. Über der Arbeit an der letzten Ausführung im Jahr 1883 in Venedig verstarb er, weshalb dieser Abschnitt nur ein Fragment blieb.

Die Schrift ist in einer etwas komplizierten, philosophisch angehauchten Sprache verfasst, die eine Kenntnis des Wagnerischen Sprachstils voraussetzt. Ebenso ist die Kenntnis der Philosophie Immanuel Kants sowie Arthur Schopenhauers erforderlich, erstens um den Text gänzlich zu verstehen, da Anleihen aus dem Vokabular v.a. Schopenhauers ohne Hinweise oder Erläuterungen verwendet werden, zweitens um die Fehler, die Wagner in seiner Argumentationskette begeht aufzudecken, den Kern seiner Lehre aber trotzdem zu erkennen, und diesen in ein ihm gehöriges Licht zu rücken. Dass also dieser Text nicht leichthin abgefertigt werden kann (z.B. indem man nur einzelne Sätze ohne ihren Zusammenhang bewertet), noch dazu ohne gründliche Vorstudien anderer Schriften Wagners, ist hoffentlich aus dem oben Gesagten hervorgegangen. Denn schon bald nach Wagners Tod setzte eine Verfälschung seiner Lehre ein, die leider bis heute andauert, hervorgerufen durch Unkenntnis der erwähnten Hintergründe.

Bestimmte geschichtliche Entwicklungen im späten 19. wie im 20. Jahrhundert haben zu dieser Verfälschung maßgeblich beigetragen und potenzierten die falschen Schlüsse auf ein Ausmaß, das so stark wurde, dass es bis zum heutigen Tag das Bild von Wagner irriger Weise beeinflusst. Warum dies so leicht geschehen konnte und noch geschieht wird ganz klar ersichtlich, wenn nun der Inhalt der Schrift erläutert wird.

Die Regenerationslehre

Um die Länge des Artikels einzugrenzen, sollen hier lediglich die Hauptgedanken des Aufsatzes dargestellt werden, der an Ideen und verstreuten Gedanken zu verschiedensten kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten sehr reich ist. „Dass die Welt im Argen liege: ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte(…)“6 Diese Klage über den schlimmen Stand der Menschheit äußert Wagner in seiner Lehre bestimmt und sucht erstens Gründe für die fortlaufende „Degeneration“ (Verschlechterung) des menschlichen Geschlechts und der christlichen Kirche zu finden, zweitens den Ausweg aus dieser Misere anzuzeigen, die „Regeneration“.

Bereits die Annahme einer Degeneration ist aber der erste Fehler in dieser Schrift. Denn wie Kant richtig sagt, ist die Klage am Zustande der Menschheit so alt wie die Geschichte selbst. Die Annahme, dass es eine frühere Zeit gegeben habe, in der die Menschen wesentlich besser, kultivierter, gesitteter etc. gewesen wären ist rein spekulativ. Daher haben auch die folgenden Erklärungen diesen Charakter. Als Gründe führt Wagner neben vielen kleineren Kriterien (z.B. als negativen Punkt die im Christentum früh einsetzende Vermischung des alttestamentlichen mit dem neutestamentlichen Glauben, oder bestimmten Entwicklungen in der Kirchengeschichte) im Wesentlichen zwei Hauptpunkte an, die er von zwei zeitgenössischen Autoren entlehnte.

Vegetarismus

Die erste Theorie behandelt den Vegetarismus. Wagner resümiert Gedanken des Schriftstellers A. Gleizès, der über dieses Thema eine Abhandlung verfasst hat. Den Vegetarismus rechtfertigt Wagner aus zwei grundverschiedenen Standpunkten, die er jedoch nicht deutlich trennt und in Folge der Vermengung dieser beiden Argumentationsgründe unglaubwürdig wird. Kurz zusammengefasst: Das Mitleid als tiefste, urtümlichste Eigenschaft des Christentums könne sich nicht nur auf den Menschen erstrecken. Denn auch Tiere könnten leiden (Schmerzen empfinden), haben außerdem auch einen Willen zum Leben, den der Mensch ihnen nicht nehmen dürfe.

Dies ist also ein moralischer Standpunkt, entlehnt aus dem christlichen Glauben sowie der Schopenhauerischen Philosophie, der auch heute durchaus aktuell ist. Denn Mitleid mit den Tieren bewegt auch in unserer Zeit viele Menschen zum Vegetarismus. Die zweite Begründung entnimmt Wagner besagter Schrift. In dieser wird eine Analogie zwischen der Gewaltbereitschaft der Menschen sowie dem Schlachten von Tieren behauptet. Diese Ansicht ist alt und wurde schon von Plato vertreten, z.B. in seiner Verachtung des Jäger-Berufes. Der falsche Schluss ist jedoch ein historischer: Wagner glaubt dem französischen Autor, dass alle Menschen vor unbestimmter Zeit Vegetarier gewesen seien und durch widrige Natureinflüsse erst zur Fleischnahrung übergegangen seien, womit die Degeneration begonnen habe. Diese Ansicht entbehrt jeglicher naturwissenschaftlicher Grundlage und war schon damals höchst fragwürdig. Genau aus diesem Grund wurde Religion und Kunst schon kurz nach der Erscheinung stark kritisiert.

Bezeichnend ist jedoch, wie Wagner das Mitleid als christliche, rein moralische Idee im Parsifal umsetzt. Im ersten Akt versagt Parsifal gleich zweimal: Nachdem er von sich aus unfähig ist, Mitleid für den von ihm erlegten Schwan zu empfinden, versteht er noch weniger die Leiden des Amfortas, die ihm wie ein wunderliches Schauspiel erscheinen. In der künstlerischen Idee setzt Wagner also das um, was mit Sicherheit ein ewiges Interesse mit sich bringt, nämlich ein moralisches Argument. Stattdessen lässt er im Kunstwerk alle naturwissenschaftliche Theorie komplett unter den Tisch fallen. Denn, wie sich an vielen Stellen der Schrift zeigt, war Wagner die Kurzlebigkeit naturwissenschaftlich begründeter Wahrheiten durchaus bewusst, weshalb er ihnen eher kritisch gegenüberstand.

Rassentheorie

Als zweite große Säule der Degeneration stellt Wagner Gedanken von Graf A. Gobineau vor, den wichtigsten Vertreter der Rassenlehre im 19. Jahrhundert. Die Betrachtung wendet sich nun einem äußerst heiklen Thema zu, denn die Aussagen, die Wagner in diesem Zusammenhang macht, wurden später teilweise (und heute insbesondere) umgemünzt, um ihn einerseits als Verfechter einer arischen, germanischen Rasse zu verurteilen, andererseits um ihm einen radikalen Antisemitismus unterzujubeln. Viele dieser vorurteilsbehafteten Versuche (die oft von subjektiven Erfahrungen aus der Zeit des dritten Reichs herrühren) gipfeln schließlich in der Proklamation Wagners als Vorreiter und Wegbereiter des Nationalsozialismus.

Dass solch einseitige Betrachtungen nur zu dogmatischen Aussagen führen und als solche nicht bestehen können, soll durch das Folgende aufgeklärt werden. Nach einer Kritik der Kirchenspaltung sowie dem in der Gesellschaft immer wichtiger werdenden Prinzip des Eigentums, das in krassem Widerspruch zum Christentum steht, kommt Wagner auf die Rassentheorie zu sprechen. Gleich zu Beginn des Absatzes äußert er bestimmt seine Meinung zur Theorie einer „deutschen“ Rasse und schwört bei diesem Gedanken auf eine vernünftige, kritische Untersuchung. Dieser Absatz widerlegt alle Theorien, die Wagner als Verfechter der arischen Rasse annehmen.

„Hier müsste denn wohl zunächst erkannt werden, dass, wenn wir von einer deutschen „Rasse“ reden wollten, diese mit einer so ungemein ausgesprochenen und unverändert erhaltenen, wie die der jüdischen, verglichen, sehr schwer, ja fast kaum, mit Bestimmtheit zu spezifizieren sei. Wenn die Gelehrten sich darüber unterhalten, ob gemischte oder rein bewahrte Rassen für die Ausbildung der Menschheit wertvoller seien, so kommt es für die Entscheidung wohl nur darauf an, was wir unter einer fortschrittlichen Ausbildung der Menschheit verstehen.“7

Wagner bezweifelt also die Existenz einer rein erhaltenen deutschen Rasse. Einen bedenklichen Einfluss rechnet er jedoch der semitischen Rasse zu. Die Vermischung der höheren Rassen, insbesondere mit der semitischen habe zu einer Degeneration geführt. Dass Wagner dieser Theorie Glauben schenkte, macht ihn keineswegs zu einer besonderen Erscheinung.Der Antisemitismus war im 19. Jahrhundert in allen Gesellschaftsschichten vorhanden, erkennbar vor allem an einem überall verbreiteten Misstrauen gegen Juden. Dies ist keine rühmliche Entwicklung dieser Zeit, die eigentlich aus der Aufklärung die Schwächen dieser Theorien erkennen hätte müssen.

So führt Kant die Rassentheorie in der Kritik der reinen Vernunft (erschienen schon im Jahr 1781!) als Negativbeispiel für den falschen, nicht rechtmäßigen Gebrauch der Vernunft an und widerlegt diese Theorie mit seinen Ausführungen in einem kurzen Absatz. Wagners vorbehaltlose Annahme dieser Theorie muss also scharf kritisiert werden. Nun aber bringt Wagner seinen Vorschlag der Regeneration (der Verbesserung, Erlösung des menschlichen Geschlechts) vor. Dabei ist es erstaunlich, wie er die fälschlich angenommene Rassentheorie in seiner Lehre behandelt:

„Wollen wir dennoch versuchen, durch alle hier angedeuteten Schrecknisse hindurch uns einen ermutigenden Ausblick auf die Zukunft des menschlichen Geschlechtes zu gewinnen, so hat uns nichts angelegentlicher einzunehmen, als noch vorhandenen Anlagen und aus ihrer Verwertung zu schließenden Möglichkeiten nachzugehen, wobei wir das eine festzuhalten haben, dass, wie die Wirksamkeit der edelsten Rasse durch ihre im natürlichen Sinne durchaus gerechtfertigte Beherrschung und Ausbeutung der niederen Rassen eine schlechthin unmoralische Weltordnung begründet hat, eine mögliche Gleichheit aller, durch ihre Vermischung sich ähnlich gewordener Rassen uns gewiss zunächst nicht einer ästhetischen

Weltordnung zuführen würde, diese Gleichheit dagegen einzig aber uns dadurch denkbar ist, dass sie sich auf den Gewinn einer allgemeinen moralischen Übereinstimmung gründet, wie das wahrhaftige Christentum sie auszubilden uns berufen dünken muss. Dass nun aber auf der Grundlage einer wahrhaftigen, nicht „vernünftigen“ (…) Moralität eine wahrhaftige ästhetische Kunstblüte einzig gedeihen kann, darüber gibt uns das Leben und Leiden aller großen Dichter und Künstler der Vergangenheit belehrenden Aufschluss.“8

Wagner sieht also in der Rassentrennung überhaupt schon die Anlage zu moralischen Übeln, Krieg, Verbrechen, Habgier usw. Das heißt, bereits die Tatsache, dass Völker über andere herrschen ist für ihn falsch. Die Lösung liegt in einem gemeinschaftlichen, alle Menschen umfassendem Streben nach wahrer, echter Moralität, die Wagner in einem geläuterten levi_hermannChristentum findet. Im Parsifal findet dieser Gedanke direkten Ausdruck. Der Antisemitismus, die Rassenlehre (als spekulative Pseudowissenschaft) fand keinen Eingang in das für Wagner bedeutendste Werk. Im Streben nach dem höchsten Ziel sind eben alle Menschen eingeschlossen, egal welcher Herkunft und Religion.

Dies war auch die Grundstimmung in Bayreuth zur Zeit der Uraufführung des Parsifal. Überhaupt ist dies ein Hauptgedanke der Bayreuther Festspiele gewesen, denn heute ist von diesem leider kaum ein Hauch erhalten geblieben. Auf dieser Grundlage erklären sich auch bestimmte Aspekte seines Lebens, die widersprüchlich erscheinen: Er wollte für den christlichen Parsifal, sein hohes Erlösungswerk, keinen anderen Dirigenten als den jüdischen Hermann Levi zur Uraufführung zulassen. Viele Orchestermitglieder und Sänger waren Juden. Er hatte einige jüdische Freunde, die allerdings dem radikalen Judentum kritisch gegenüberstanden.

Die Kritik, die Wagner in seinen Schriften am Judentum übt, bezieht sich zumeist auf dieses radikale Judentum (den strengen alttestamentlichen Glauben) nie konkret auf bestimmte Rasseneigenschaften, auch wenn er diesen nicht vorbehaltlos gegenüberzustehen scheint. Diese Überlegungen sollten zumindest angestellt werden, wenn es darum geht, Wagner und Antisemitismus miteinander in Verbindung zu bringen. Außerdem muss bei einer solchen Absicht genau geklärt werden, was Antisemitismus bedeutet, der ja in unterschiedlichen Epochen ganz verschiedene Formen annahm. Beim Begriff Antisemitismus denken die meisten an den des dritten Reiches. Wie die Verhältnisse jedoch im 19. Jahrhundert waren, ist ein ganz anderes, im Vergleich mit dem 20. Jahrhundert selten behandeltes Thema.

Beschluss

Eine historische Persönlichkeit wie Richard Wagner zu beschreiben bringt jederzeit widersprüchliche Seiten ans Tageslicht. Die meiste neuere Wagner-Literatur ist bemüht immer nur eine dieser Seite zu zeigen (oft die des hasserfüllten Antisemiten) und die andere komplett zu ignorieren, den eigenen Theorien widersprechende historische Tatsachen zu unterschlagen. Diese Vorgehensweise ist geprägt von einem schon von einem zuvor bestimmten Ziel der Darstellung. Solch ein Verhalten an den Tag zu legen, gerade in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft, ist Hohn für jede ernst gemeinte historische Untersuchung.

Widersprüche in einer historischen Person müssen aufgezeigt werden und sind notwendig. Versuche, diese zu klären oder zu verstehen können danach aufgestellt werden. Ein Ansatz dieser kritischen Herangehensweise wurde in diesem Aufsatz versucht, der nicht eindeutige und damit einseitige Antworten liefert, dafür aber die Gewissheit der Behauptung in Anspruch nimmt, dass jene Fragen problematisch sind. Nur auf diese Art kann ein vorurteilsfreier Weg zu Wagner für die jetzige und die kommenden Generationen geebnet werden.

Von Alexander Fischerauer


1 Ein Begriff, den Wagner eingeführt und oft verwendet hat. Der entsprechende Kantische Begriff ist die „ästhetische Idee“. Gemeint ist eine Idee, die zu groß und vielseitig ist, als dass sie mit Worten allein hinreichend und komplett beschrieben werden könnte. Nur die Kunst durch ihre Formen kann sich der Idee annähern. In der dramatischen Dichtkunst sind das z.B. Handlung, Handlungsmotive oder Gegenstände, mit denen im Drama ein symbolischer Gehalt erzeugt wird.
2
Die spekulative Theologie beschäftigte sich in verschiedenen Formen mit Gottesbeweisen aus philosophischen Begriffen (von Kant Ideen der reinen Vernunft genannt). Man suchte Gott mit eben solcher Gewissheit zu beweisen,wie es die Beweise der Mathematik sind. Diese Vertreter dieser philosophischen Schule, die das Mittelalter und auch die frühe Aufklärung beherrschte, waren die sog. Scholastiker.
3
Richard Wagner, Mein Leben, S. 29-30, Bruckmann-Verlag 1911 München
4
Adolf Vogl, Parsifal, S. 18, Hugo Schmidt Verlag München, 1914
5
Der erste Urheberrechtsschutz in der Geschichte! Eigentlich wollte Wagner einen fristlosen Schutz erwirken, was ihm zu seinem größten Unmut nicht gelang.
6
I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Die Metaphysik der Sitten, Suhrkamp-Verlag, 1977
7
Wagners gesammelte Schriften, Band 14, Religion und Kunst, S.187, Hesse und Becker Verlag, 1917, Leipzig
8
Wagners gesammelte Schriften, Band 14, Religion und Kunst, S.202f, Hesse und Becker Verlag, 1917, Leipzig