Die Violine, das Ausdrucks- und Melodieinstrument, dessen Seele der Gesang ist, entspricht dem zur Entfaltung der Kantilene drängenden Naturell des Italieners weit eher, als dem kühleren, intellektuellen französischen. Trotzdem kann die französische Schule mit einigen Größen aufwarten, welche die Welt der Violinsonate weit vor dem Jahr 1870 prägen und eine Grundlage zur klassischen, romantischen bzw. impressionistischen Entwicklung bieten. Erste Impulse setzten die damaligen Violinvirtuosen Claude Gervaise (1550), Jean Baptist Anet (1675- 1755), sowie Jean Baptiste Senaillé (1687- 1730).
Deren Nachfolger und zudem einer der berühmtesten Violinvirtuosen seiner Zeit war Jean Marie Leclair (1697- 1764), der stark von der italienischen Schule geprägt wurde. Mit seinem umfassenden Werk für Violine und Generalbass gilt er bis heute als der Begründer der französischen Violinsonate. Ähnlich wie bei Leclair sollte die italienische Schule um Giovanni Battista Viotti (1753-1824) den Franzosen wiederum als Vorbild dienen. Als Lehrer am Pariser Conservatoire wird Viotti zum Begründer der neuen Pariser Violinisten-Schule und bringt einige sehr erfolgreiche Schüler, wie z. B. Baillot (1771- 1842) sowie Rode (1774-1830) hervor, deren gesangliche Kompositionen an ihren italienischen Lehrer Viotti erinnern. Das Wirken Viottis und seiner Schüler lässt Paris zu einer Metropole der Violinmusik heranwachsen, sodass Frankreich bald von einer Schar der besten Violin-Virtuosen heimgesucht wird. So gerät die Kammermusik etwas in den Hintergrund: Es konnte keine Sonate für Violine und Klavier in dieser Zeit gefunden werden. 1871 jedoch blüht durch die Gründung der Société National de Musique und ihre Vertreter César Franck und Camille Saint-Saens das Interesse am ‘Intimen‘ wieder auf. Auch Gabriel Fauré gilt als einer der Mitbegründer dieser Gesellschaft und sollte schon bald mit neuen Formen, ausgezeichneten Modulationen, ungewöhnlichen Klangfarben und Rhythmen die Entwicklung der französischen Duosonate entscheidend vorantreiben. Trotz der romantischen Schwermütigkeit und der gleichzeitig gegensätzlichen französischen, leichten Brillianz, ja geradezu Schwerelosigkeit, wird die Violinsonate von Fauré eindeutig noch der Spätromantik zugeordnet.
Ganz im Gegensatz zu Claude Debussy (1862-1918), einer der bedeutendsten Komponisten des französischen Impressionismus, der seine Violinsonate erst 40 Jahre später komponierte. Die Zeit war geprägt von einem Schwanken zwischen Aufbruchsstimmung, Zukunftseuphorie, diffuser Zukunftsangst und Regression, Endzeitstimmung, Lebensüberdruss, Weltschmerz, Faszination für Tod und Vergänglichkeit, Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz. Für Intellektuelle, Künstler und Literaten wurde ein Gefühl von Ohnmacht charakteristisch, weil sie sich einerseits angesichts einer vom Marktgesetz und anonymen Massen beherrschten Großstadtgesellschaft und andererseits von einer zunehmend von Naturwissenschaften und Technik gezeichneten Welt angezogen und abgestoßen fühlten. Sie versuchten, in ihren Werken die vorherrschende Stimmung einzufangen und Mittel zu finden, diese musikalisch bzw. künstlerisch auszudrücken.
Debussy reizte nicht nur die Kunst des Komponierens bzw. Konzertierens, er hatte auch reichlich Talent für Improvisation und befasste sich eingehend mit den impressionistischen Malern, deren Landschaftsbilder ihn aufgrund ihres Licht- und Schattenspiels in seinen Bann zogen. Aufgrund seiner Liebe zur malerischen Kunst versuchte auch er, die impressionistischen Farbwirkungen nachzuempfinden. Dabei spielen kontrastierende Klangkomponenten, bewegte Klangfarbenflächen und die verschwimmenden Grenzen einzelner Formelemente eine wesentliche Rolle.
Nachdem Debussy 1889 bei der Pariser Weltausstellung die indonesische Gamelanmusik kennen gelernt hatte, ließ er in seinen weiteren Kompositionen immer wieder fernöstliche Klangfarben und Rhythmen einfließen. Jedoch nicht nur die ausländische Musik nahm Einfluss auf sein Werk, auch die Dichtkunst des französischen Literaten Mallarmé. Dessen Gedicht Prélude à l’après midi d’un faune faszinierte Debussy so sehr, dass er es vertonte. Dieses Werk wurde zum Schlüsselwerk des musikalischen Impressionismus, einem Kompositionsstil, der für Debussy Klang- und Farbkunst bedeutete. Debussy wurde oft als Rebell bezeichnet. Er lehnte sich gegen die klassisch-romantische Tradition auf und suchte in harmonischer wie formaler Hinsicht eine Alternative. So wie Claude Monet und Paul Gauguin die Malerei, hat Debussy mit seinen fremdartigen und sphärischen Klangbildern die Musik sanft revolutioniert.
Nun zur Kompositionstechnik seiner Violinsonate: Wie schon im obigen Absatz kurz angedeutet, weicht Debussy von der Funktionsharmonik ab und gesteht den einzelnen Akkorden mehr Eigenständigkeit zu. So bleibt er nicht gezwungen, die Klänge leittönig aufzulösen, wie es in der vorherigen Kadenzharmonik Brauch war, sondern kann neue Akkordfolgen schreiben, welche nicht in direkter, funktionaler Beziehung stehen und häufig als Septnonakkorde auftreten. „Seid ihr nicht imstande, Akkorde zu hören, ohne nach ihrem Pass und ihren besonderen Kennzeichen zu fragen? Woher kommen sie? Wohin gehen sie? … Hört sie an; das genügt!“ Er verwendet häufig leere Klänge, d.h. Quart- oder Quint-Akkorde, welche von Orgelpunkten begleitet werden. Durch den fortschreitenden Verzicht auf die herkömmlichen Skalen und die Einführung von Pentatonik und Ganztonleitern erreicht seine Musik einen schwebenden und fernöstlichen Klang. Der Spätstil gerade in dieser Sonate ist außerdem reich an atmosphärischen Erscheinungen (z.B. Natursymbole). Sie zeigen, wie sehr Debussys Melodiegestaltung an das Grunderlebnis der umhüllenden Klangsphäre gebunden ist.
Auch rhythmische Elemente können nicht klar und deutlich voneinander abgegrenzt werden, da Debussy oft Taktschwerpunkte verschiebt, viel synkopisch sowie übergebunden komponiert und damit die Rhythmik ebenfalls als schwebend empfunden werden kann. Das Stück wird beherrscht von einer Vorliebe für abtaktige Formen, Abdämpfung oder Verwischung der Akzente, z.B. durch Pausen auf Hauptzeiten, Triolenbildung, Taktwechsel und verwickelte Unterteilungen. Außerdem arbeitet Debussy in seinem Werk häufig mit Taktwechseln und komplizierten Rhythmen, welche als solche aufgrund der sich mischenden Klänge meist nicht erkannt werden. Die metrische Seite des Rhythmus, das Zählen und Messen hat jedenfalls für Debussy nicht primäre Bedeutung. Dies hat sogar der englische Schriftsteller und Kritiker Neville Cardus verspürt, wenn er bemerkt: „Ich fühle, er hatte zu warten, bis er seine Musik ins Leben gerufen hatte, bevor er ihren Pulsschlag zählen konnte. Ein Debussy-Rhythmus ist ein Herzschlag, kein Tick-Tack des Metronoms.“
Auch im Punkt der Dynamik bereichert Debussy sein Werk durch eine Vielzahl von feinen, kurz gestalteten Schattierungen und Nuancen voller Kontraste. Er bezeichnet seine Sonate äußerst exakt und vermittelt somit dem Interpreten eine möglichst genaue Vorstellung von der feingliedrigen Gestaltung dieses Werks. Die Erneuerung der Tonsprache, die unkonventionelle Harmonik, die Komplexität der Rhythmik, das Wechselspiel von Spannung und Entspannung sowie das ungeheure Klangerlebnis manifestieren eine deutliche Entwicklungsphase seit Fauré. In diesem Sinne sagte Debussy einmal: „Die Musik ist ihrem Wesen nach nicht eine Sache, die man in eine strenge und überlieferte Form gießen kann.“
Maurice Ravel, der ein großer Verehrer Debussys Musik war, lernte diesen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennen. Beide Komponisten verband sogleich ein lockeres Freundschaftsverhältnis. Sie experimentierten beide mit ähnlichen harmonischen neuen Mitteln und benutzten ähnliche Inspirationsquellen für ihre Stücke, wie z.B. die spanische Volksmusik, die ostasiatischen Klänge, sowie die französische Barockmusik. Trotz aller Gemeinsamkeiten weisen aber beide Komponisten eine persönliche Tonsprache und einen individuellen Kompositionsstil auf. Im Gegensatz zu Debussy, der in seiner Violinsonate durch neue klangliche Experimente besticht, versucht Ravel, die Eigenständigkeit und Unvereinbarkeit der beiden Instrumente zu demonstrieren. So steht nicht die Verschmelzung der beiden Instrumente, sondern deren weitgehende Unabhängigkeit im Vordergrund der Komposition.
Jedoch nicht nur von Fauré bis Ravel lässt sich eine spürbare Entwicklung nachvollziehen, sondern auch danach ließ die Genialität und der Reichtum an kompositorischen Ideen in Frankreich nicht auf sich warten – doch dies natürlich stets auf der Basis des französischen 19. Jahrhunderts.
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