Spring 0, Spring 1, Spring 2, Spring 3…Das ist kein Countdown in die falsche Richtung und mit Spring ist auch nicht eine wiederholte Aufforderung zum Springen gemeint. Wobei ein Sprung hier sehr wohl vorgenommen wurde. Ein musikalischer Sprung aus dem 17. ins 21. Jahrhundert. Nein, diese Aufzählung ist ein Substitut eines uns wohlbekannten, viel zu bekannten Stücks. La Primavera – Der Frühling, Op. 8, RV 269 ist der eigentliche Titel und uns als der „Frühling“ aus den Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi geläufig.
Liest man die einzelnen Tracks auf der Rückseite des Covers, so geht es die ganze Linie durch. Nach „Spring“ folgt „Summer“ (1-3), „Autumn“ (1-3) und dann „Winter“ (1-3). Keinerlei Referenz zum Original wie es scheint, kein Allegro, kein Danza Pastorale. Ein Name springt ins Auge. Daniel Hope – Geige. Dieser berühmte, expressive und als Ausnahmegeiger bezeichnete Musiker auf solch einer Platte?
Sobald der erste Track aber läuft, wird klar, dass es sich kaum um die Vier Jahreszeiten handeln kann, die wir alle nur zu gut kennen…
In der Reihe Recomposed der Deutschen Grammophon entstanden schon seit einiger Zeit Remixes bekannter klassischer, barocker, romantischer und moderner Werke. Einige, nicht ganz unwichtige Namen aus dem Elektro-Genre wie Jimi Tenor, das Duo Moritz von Oswald und Carl Craig sowie Matthew Herbert haben sich mit ihren hauptsächlich auf Samples basierenden Verfremdungen an die Werke alter Meister gewagt.
2012 erschien dann eine Aufnahme, die als echter kompositorischer Neuzugang betrachtet werden kann und sich von den anderen Produktionen abheben sollte. Max Richter (48), britischer Komponist mit Renommee, legte mit einer „Bearbeitung“ im besten Sinne des Wortes seine eigene Version der Four Seasons vor. Wie nicht nur dem Booklet, sondern auch einigen anderen Kommentaren über das Werk und das Album zu entnehmen ist, ging es Max Richter um die Neuentdeckung Vivaldis Vier Jahreszeiten, die Transposition in das Jetzt und die Beleuchtung verschiedener Aspekte des Originals aus seiner eigenen kompositorischen Perspektive heraus.
Gleich in Spring 1 wird deutlich, dass die Bandbreite der Eingriffe ins Original nicht klein ist. Basslinien wurden ausgetauscht, harmonische Neubezüge entstehen, rhythmische Ideen Vivaldis werden unter die Lupe genommen, es entstehen neue klangliche Muster. „Das ist doch ein Remix“ – könnte man sagen. Nein, Richter bleibt Vivaldi sehr nahe. Vivaldis Musik zeichnet sich generell durch große Reinheit oder „Simplizität“ aus, deren Eleganz, freche Attitüde und zugleich für den Komponisten typisch einfache Ehrlichkeit eine große innere Demut suggeriert. Diese hat Richter getroffen und bleibt ihr alle Sätze und Jahreszeiten hindurch treu ohne destruktiv zu agieren. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, Richter habe die Affekte der Musik Vivaldis erkannt, deren feine Eigendynamik und Energie beobachtet und in Bahnen gelegt, die ins Jetzt, ins Verständnis unserer Zeit führen, die von plakativen Leinwandemotionen und avantgardistisch zeitgenössischer Akribie geprägt scheint. In Richters Ideenreichtum, die musikalischen Vorgaben Vivaldis weiterzudenken, ist eine große Spannung zwischen fokussierter Reduktion und atmendem, zusammenfassendem Bogen in einer „Metaebene“, deutlich. Sie finden sich konsequent umgesetzt in rhythmischer, harmonischer und melodischer Variation, die das Wort „Groove“ beim Hören vehement ins Bewusstsein drängen.
Groove – davon hat Summer 1 reichlich zu bieten. Der zarte Cembaloklang keines geringeren als Raphael Alpermanns, Cembalist der Akademie für Alte Musik Berlin, schmiegt sich an den Gesamtklang an. In einer Kondensation der Vivaldi´schen Geigenvirtuosität mutiert der Klang dann zu einem beinahe psychedelisch wirkenden Solo mit immer den gleichen Figuren in hoher Lage. Im Moment des Eintritts der Kontrabässe ist der Groove dann nicht mehr zu halten, als ob der Geiger eine Loop-Maschine oder einen Footcontroler mit eingespeichertem Orchester hätte, zu dem er dann quasi im Play Along improvisiert. Und dass Improvisation eine Selbstverständlichkeit in der Musizierpraxis des 17. Jahrhunderts war, ist klar. Konsequent und durchdacht, Max Richter!
Max Richter hat Vivaldi umfunktioniert, destilliert und kondensiert, manchmal aber auch ein emotionales Update verlangt, dem Vivaldi nicht immer gereichen kann. Es ist nun mal nicht leicht, Barockmusik aus ihrem eigenen, ans Jahrhundert gebundenen Verständnishorizont herauszutragen ins Jetzt. Kompromisse sind da unumgänglich. Doch Dank der Konsequenz Richters, sein Material zu behandeln, entsteht Konsistenz und keine zusammengewürfelten Arrangements, die vielleicht das Original persiflieren könnten. Vielmehr ist ein Kaleidoskop an Farben, neuem Formverständnis und der Minimal Music ähnlichen Methoden mit einer großen Portion Lieblichkeit und Ehrerbietung Vivaldis Musik entstanden.
Ganz besonders muss die Leistung Daniel Hopes (41) hervorgehoben werden. Der „Ausnahmegeiger“ aus Südafrika, brillierte nicht nur bereits 2010 im deutschen Bundestag mit einer herzzerreißenden Solodarbietung eines jüdischen Kaddisch zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Seine Spezialisierung auf zeitgenössische Musik und zahlreichen Uraufführungen neuer Werke machen ihn zu einem technisch und klanglich überlegenen Musiker, der ein großes Gespür für Nuancierung auch geräuschhafter Anteile im Klang besitzt und einzusetzen weiß. In dieser Einspielung wird das deutlich. Sein Instrument kann sich blitzschnell vom schizophrenen, grellen Klangstrahl zum beinahe aufgeweichten, mollig warmen Flüstern wandeln. Artikulation und Ornamentierung überzeugen durch Beherrschtheit und Charakter.
„Recomposed by Max Richter: Vivaldi, The Four Seasons“ darf nicht als Arrangement wahrgenommen werden, vielmehr ist es als eigenständige Neukomposition zu betrachten, vielleicht als eine Art Palimpsest. Plakative Ausschlachtung des außermusikalischen Programms Vivaldis fand definitiv nicht statt. Alle moralische Verwerflichkeit, die aufkommt, wenn klassische Musik in der Mühle popularmusikalischer Maschinerien landet, wurde abgewendet.
Die Einspielung wurde vom Konzerthaus Kammerorchester Berlin und dem überaus fähigen Dirigenten André de Ridder fabelhaft umgesetzt. Aus instrumentaler Sicht bietet sich höchstes Niveau. Auch für Audiophile bleiben keine Wünsche offen. Seit 28. April 2014 gibt es auch eine erweiterte Neuauflage mit zusätzlichen Stücken Max Richters (vgl. Cover). Man darf gespannt sein, wer Max Richter demnächst unterkommt – Corelli, Rameau oder doch Beethoven?
Deutsche Grammophon
Audio CD (25. April 2014)
Anzahl Disks/Tonträger: 1
Universal Vertrieb ISBN 0028947927778
16,99 € (Preis Amazon)
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