Das große Vorbild: Carl Maria v. Weber
Der Durchbruch in der europäischen Musikwelt gelang Richard Wagner erst im Alter von 29 Jahren mit der Uraufführung seiner Oper Rienzi, die ihn über Nacht schlagartig berühmt machte. Einen unabhängigen, eigenständigen Kompositionsstil erlangte er laut seiner eigenen Einschätzung jedoch erst mit seinem nächsten Werk, dem fliegenden Holländer. Im Vergleich zu anderen Komponisten wie z.B. Schumann oder Brahms benötigte er eine relativ lange Zeit, um sich von der Musik seiner Vorbilder zu emanzipieren.
Er war bei aller Begabung, sich fremde Stile anzueignen nicht dazu in der Lage, seine konkurrierenden Kollegen zu übertrumpfen, sodass seinen frühen Opern kein durchschlagender Erfolg beschieden sein konnte, da sie gegenüber z.B. den Marschnerischen und Meyerbeerschen Stücken keinen Mehrwert boten. So ist es kein Wunder, dass diese Werke auch heute wenig bekannt sind (von den Feen über das Liebesverbot bis hin zum Rienzi). Wagner selbst hat noch am Ende seines Lebens verfügt, dass der Rienzi in Bayreuth nicht gespielt werden solle, worüber man sich dieses Jahr endlich erfolgreich hinweggesetzt hat.
Der fliegende Holländer bildet einen Grenzstein, als dasjenige Werk, in dem zuerst die typisch wagnerischen Stilmerkmale, musikalische und dichterische, aufkeimen. Trotz aller Entwicklungen und Veränderungen in seiner musikalischen Laufbahn blieb Wagner seinen Vorgängern in Vielem treu, mehr noch: Er nahm teilweise ihre Errungenschaften in sein kunstästhetisches Konzept auf und erhob diese abgewandelt zu Schwerpunkten seiner musikdramatischen Konzeptionen.
Auch wenn sich der Opernkomponist immer wieder ausdrücklich als Erbe Beethovens erklärt und diesen zeitlebens hoch verehrte, muss als einflussreichstes, weil früheres musikalisches Vorbild doch ein anderer Komponist gelten: Carl Maria von Weber. Dessen Musik war es, die im Kindesalter die Neigung zur Musik überhaupt aufkommen ließ und von dem er nicht nur musikalische, sondern auch dramatische Stil- und Formmerkmale übernahm und konsequent weiterentwickelte. Selbst in späten Werken Wagners kann man Beziehungen zu Weber deutlich erkennen.
Die Verdeutlichung der vielfältigen Beziehungen zwischen den beiden Komponisten ist ein sehr fruchtbares Unterfangen bezüglich einer musikhistorischen Einordnung seines Werkes, über das im Wagner-Jahr, zu allerlei biographischen Skandalgeschichtchen ins Verhältnis gesetzt, erstaunlich wenig veröffentlicht wurde. Entscheidend für das Verständnis der Verbindung dieser Komponisten ist, dass die tiefe musikalische Verwandtschaft Wagners mit seinem Vorgänger Weber weniger auf den äußerlich formalen Aspekten (die recht leicht zahlreich zu erkennen sind) beruht, sondern vielmehr in dem Verständnis des Wesens und Ursprungs der Musik selbst, was diese leisten könne und zu leisten habe.
Biographisches
Die Ouvertüre des Freischütz war es, die den 6-jährigen Richard Wagner derart magisch anzog, sodass er, um sie selbst immer wieder hören zu können, bald das Klavierspiel erlernte. Er berichtet selbst über seine frühen Erfahrungen mit Webers Musik aber auch der Person des Komponisten selbst, der des Öfteren im Hause Wagner in Leipzig verkehrte:
„Die seltenen Besuche Webers scheinen (…) in mir diejenigen ersten Eindrücke hervorgerufen zu haben, welche mich mein ganzes Leben mit unauslöschlicher Sympathie erfüllten. Der skandalösen Gestalt Sassarolis gegenüber erfasste mich Webers überaus zarte, leidende und geistverklärte Erscheinung mit ekstatischer Teilnahme. Das schmale feine Gesicht mit den lebhaften und doch häufig umschleierten Augen bannte mich in Schauern fest; sein stark hinkender Gang, den ich oft vom Fenster aus wahrnahm, wenn der Meister um die Mittagszeit aus den ermüdenden Proben seinen Heimweg an unserem Hause vorbei nahm, kennzeichnete meiner Imagination den großen Musiker als ein ungewöhnliches, übermenschliches Wesen.
Als ihm einst meine Mutter den etwa neunjährigen Knaben vorstellte, und er frug, was ich werden sollte, ob vielleicht Musiker, sagte meine Mutter, dass ich wohl auf den Freischütz ganz versessen sei, sie aber trotzdem noch nichts an mir wahrgenommen hätte, was auf mein musikalisches Talent deuten möchte. Dies war von meiner Mutter sehr richtig beobachtet: Nichts ergriff mich so stark als die Musik des Freischütz, und auf jede Weise suchte ich die von dort her empfangenen Eindrücke wieder vorzuführen (…).“1
Die musikalische Ausbildung Wagners war bis zum Unterricht bei Theodor Weinlig fast ausschließlich autodidaktisch erfolgt. Er hatte kein Instrument über die Anfangsgründe hinaus erlernt, jedoch in seiner Jugendzeit zum Studium der Musik folgende Methode entwickelt:
„Da wie erwähnt auch der Musikunterricht nichts fruchtete, fuhr ich in meiner willkürlichen Selbsterziehung dadurch fort, dass ich mir die Partituren meiner geliebten Meister abschrieb, wobei ich mir eine später oft bewunderte zierliche Handschrift erwarb.“2
Zu den auf diese Weise kopierten Werken gehörten neben sämtlichen Symphonien Beethovens auch die Partitur des Freischütz, die auf den jungen Wagner eine so große Faszination ausübte. Wagner bewies auch nach Webers Tod immer wieder seine große Bewunderung für den geschätzten Komponisten. Webers Witwe, die sich nach seinem Tod für seine künstlerischen Errungenschaften stark einsetzte, drängte Wagner zur Übernahme der Dresdner Kapellmeisterstelle, was ihr auch gelang. Damit trat der junge Komponist Wagner nun in die Fußstapfen Webers und konnte an diesem Ort das von Weber begründete kulturelle Erbe fortführen und weiterentwickeln.
Im Jahr 1844 fand die Übersiedelung der sterblichen Überreste Webers von London nach Dresden statt. Die finanziellen Strapazen für die Feierlichkeiten, den Kauf einer angemessenen Gruft, sowie die besondere Ehrung durch eine Statue mussten irgendwie gedeckt werden: Wagner, unterstützt durch Webers Witwe, organisierte zahlreiche Benefizkonzerte, deren erfolgreichstes mit dem Berliner Hoftheater unter Meyerbeer die stattliche Summe von 2000 Talern einbrachte. Wie viel diese Trauerfeier für Wagner bedeutete ist am besten seiner eigenen Erinnerung zu entnehmen:
„Diese Überführung sollte am Abend bei Fackelschein in feierlichem Zuge vor sich gehen; ich hatte es übernommen, für die dabei auszuführende Trauermusik zu sorgen. Ich stellte diese aus zwei Motiven der Euryanthe zusammen; durch die Musik, welche die Geister in der Ouvertüre bezeichnet, leitete ich die ebenfalls ganz unveränderte, nur nach B-dur transponierte Kavatine der Euryanthe „Hier dicht am Quell“ ein, um hieran die verklärte Wiederaufnahme des ersten Motives, wie es sich am Ende der Oper wieder vorfindet, als Schluss anzureihen. Dieses somit sehr gut sich fügende symphonische Stück hatte ich für 80 ausgewählte Blasinstrumente besonders orchestriert und bei aller Fülle hierbei namentlich auf die Benützung der weichsten Lagen derselben studiert; das schaurige Tremolo der Bratschen in dem der Ouvertüre entlehnten Teile ließ ich durch zwanzig gedämpfte Trommeln im leisesten Piano ersetzen und erreichte durch das Ganze, schon als wir es im Theater probierten, eine so überaus ergreifende und namentlich gerade unser Andenken an Weber innig berührende Wirkung, dass, wie die hierbei gegenwärtige Frau Schröder-Devrient, welche allerdings noch Weber persönlich befreundet gewesen war, zu der erhabensten Rührung hingerissen wurde, auch ich mir sagen konnte, noch nie etwas seine Zwecke so vollkommen Entsprechendes ausgeführt zu haben. Nicht minder glückte die Ausführung der Musik auf offener Straße beim feierlichen Zuge selbst: da das sehr langsame Tempo, welches sich durch keinerlei rhythmische Merkmale deutlich zeichnete, hierfür besondere Schwierigkeiten machen musste, hatte ich bei der Probe die Bühne gänzlich entleeren lassen, um so den geeigneten Raum zu gewinnen, auf welchem ich die Musiker, nachdem sie das Stück gehörig geübt hatten, nun auch während des Vortrags im Kreise um mich her gehen ließ. Mir wurde von Zeugen, welche an den Fenstern den Zug kommen und vorübergehen sahen, versichert, dass der Eindruck der Feierlichkeit unbeschreiblich erhaben gewesen sei.
Nachdem wir den Sarg in der kleinen Totenkapelle des katholischen Friedhofs in Friedrichstadt, in welcher er still und bescheiden von Frau Devrient mit einem Kranz bewillkommt worden war, beigesetzt hatten, ward nun am andern Vormittag die feierliche Versenkung desselben in die von uns bereitgehaltene Gruft ausgeführt. Mir nebst dem andern Vorsitzenden des Komitees, Herrn Hofrat Schulz, war die Ehre zugeteilt worden, eine Grabrede zu halten. (…) Für mich hatte es eine tiefe Bedeutung, dass ich, durch Webers lebensvolle Erscheinung in meinen frühesten Knabenjahren so schwärmerisch für die Musik gewonnen, dereinst so schmerzlich von der Kunde seines Todes betroffen, nun im Mannesalter durch dieses letzte zweite Begräbnis noch einmal mit ihm wie in persönlich unmittelbare Berührung getreten war. Nach meinen voranstehenden Berichten über meinen Verkehr mit lebenden Meistern der Tonkunst und den Erfahrungen, die ich von ihnen machte, kann man ermessen, aus welchem Quell meine Sehnsucht nach innigem Meisterumgang sich zu stärken hatte. Es war nicht tröstlich, vom Grabe Webers nach seinen lebenden Nachfolgern auszusehen; doch sollt mir das Hoffnungslose diese Ausblickes mit der Zeit erst noch zum recht klaren Bewusstsein kommen.“3
Kunstästhetik – Musikverständnis
Wer die uneingeschränkte Verehrung Wagners gegenüber seinem „Meister“ kennengelernt hat, wie es oben geschehen ist, könnte bei der Lektüre von Oper und Drama, seiner zentralen kunsttheoretischen Schrift, in Verwirrung geraten: Hier scheint Weber teilweise in nicht besonders hoher Achtung zu stehen, im Gegenteil erfährt er scharfe Kritik hinsichtlich des (auch in dieser Schrift) so sehr gelobten Freischützen:
„Weber dagegen, erfüllt von unbeugsamem Glauben an die charakteristische Reinheit seiner einen und unteilbaren Melodie, knechtete sich den Dichter mit dogmatischer Grausamkeit und zwang ihn, den Scheiterhaufen selbst aufzurichten, auf dem der Unglückliche, zur Nahrung des Feuers der Weberschen Melodie, sich zu Asche verbrennen lassen sollte. Der Dichter des Freischützen war noch ganz ohne es zu wissen zu diesem Selbstmorde gekommen: aus seiner eigenen Asche heraus protestierte er, als die Wärme des Weberschen Feuers noch die Luft erfüllte, und behauptete, diese Wärme rühre von ihm her – er irrte sich gründlich; seine hölzernen Scheite gaben nur Wärme, als sie vernichtet – verbrannt waren: einzig ihre Asche, den prosaischen Dialog konnte er nach dem Brande noch als sein Eigentum ausgeben.“4
Um diese Kritik richtig zu interpretieren, muss dieser Abschnitt in den Gesamtzusammenhang eingeordnet werden. Wagner selbst weist schon zu Beginn seiner Schrift auf deren scharf polemischen Charakter hin, möchte den ersten Teil auch in dieser Hinsicht verstanden wissen. Die Kunstauffassung, die im Laufe seines jungen Lebens langsam heranreifte, fortwährend wuchs und am Ende als Idee des heute so bekannten und missverstandenen „Musikdramas“ in den Ring des Nibelungen mündete war hart erkämpft worden.
Wagner wollte sich in Bezug auf die Bedeutung der Oper von seinen Vorgängern drastisch distanzieren, nachdem er eine lange Zeit nach deren Vorstellungen geschaffen hatte. Wahrscheinlich verspürte er gerade deshalb das Bedürfnis nach einem zynischen Tonfall, weil er die Fehler im Opernwesen, die er so eifrig kritisiert, selbst mit Feuereifer begangen hatte, wie im Falle von Meyerbeers Musik. Die eigene Ablehnung seiner frühen Werke ist ein weiteres Indiz für diese scharfe, auch gegen sich selbst gerichtete Polemik.
Die obige Kritik an Weber bezieht sich auf seine radikalste Neuerung hinsichtlich des Opernwesens: Die Musik habe sich der Dichtung unterzuordnen, sie müsse sich auch damit zufriedengeben, nur im Hintergrund zu wirken und Dienerin zu sein; Ein Hervortreten wäre ihr nur in solchen Momenten erlaubt, in denen die Dichtkunst an ihre Grenzen gelangt und die musikalische Unterstützung förmlich verlangt. Dass Weber, trotz seiner Neuerungen hinsichtlich des nationalen, volkstümlichen Charakters der Oper, die von Wagner restlos anerkannt werden, die Dichtkunst der Musik unterordnete, trifft genau den wunden Punkt, den die musikdramatischen Konzeptionen von Wagner endlich korrigieren sollten.
Im Zusammenhang lässt sich diese Polemik so interpretieren, dass letztlich sogar Weber, der ruhmreiche Begründer einer deutschnationalen Opernkultur, das Wesen des Dramas nicht verstanden hatte, sondern wie alle anderen ganz als „tyrannischer“ Musiker handelte. Wird aus dieser Kritik die Abgrenzung Wagners gegenüber seinem Vorbild erkennbar, sollen nun die Aspekte Webers Musik beleuchtet werden, die Wagner nicht nur beibehielt, sondern in potenzierter Form zum Grundcharakter seiner Musik erhob.
Der Traum einer deutsch-nationalen Opernkultur
Die Musikkultur des 19. Jahrhunderts und besonders das Opernwesen lebte von dem produktiven Nebeneinander nationaler Stile. Damals war Nationalismus ein positiv aufgefasstes gesellschaftliches Phänomen. Besonders im Bereich der Kunst wurde dieser nicht als innere Abgrenzung empfunden, sondern mit einem nach außen gerichteten Interesse für andere Kulturen praktiziert. So forderte das Pariser Publikum nicht ausschließlich französische Stücke, sondern explizit „fremde“ Musik mit einem nationalen, ihr eigentümlichen Kolorit. Die Nachfrage für „ausländische“ Musik war permanent vorhanden, die die Komponisten, konkurrierend versteht sich, zu befriedigen versuchten. Man sprach von Vertretern der „italienischen“, „deutschen“ und „französischen“ Schule.
Die deutsche Musik hatte hierbei nun beileibe keine leichte Ausgangsposition: Die Oper, die in Italien erfunden worden war und sich wenig später auch in Frankreich zu einem komplett eigenständigen Stil entwickelte, war die Domäne dieser beiden europäischen Länder. Deutschland hatte da gewissermaßen nichts mitzureden. Die deutschen Opernkomponisten des 18. Jahrhunderts mussten sich zwischen dem italienischen und französischen Stil entscheiden. Versuche, eine deutsche Opernkultur zu begründen, wie es z.B. Mozart mit der Entführung aus dem Serail tat, waren nicht von Erfolg gekrönt.
Das erste mal, dass man im Bereich der Oper von einem europäischen Durchbruch eines deutsch-nationalen Stils reden sprechen kann, ist der Freischütz Carl Maria von Webers. Diese Oper schlug ein wie eine Bombe, um es salopp auszudrücken und begründete auf einen Schlag den solange gesuchten „deutschen“ Nationalstil. Die Merkmale, durch die sich dieser Stil auszeichnete, wurden nahezu sämtlich von Wagner übernommen und weiterentwickelt. Sie finden auch in Oper und Drama die entsprechende Würdigung.
Der oben angeführte Grundcharakter Wagners Musik bezieht sich vor allem auf die von ihm so bezeichneten volkstümlichen Wurzeln der deutschnationalen, also auch Weberschen Musik. Gerade hierin war Weber sein uneingeschränktes Vorbild. Die Chöre seiner Opern (z.B. Holländer, Lohengrin, Tannhäuser) lassen sämtlich die Nähe zur Volkstümlichkeit und auch den Weberschen Chören erkennen, wobei sie diese im Ausdruck noch bei weitem übersteigern, auch durch die veränderte Funktion des Chores im Wagnerschen Drama.
Die Volkskunst sei die urtümlichste Grundlage der Kunstmusik, von der diese sich niemals allzu weit entfernen dürfe und dies eigentlich auch nicht könne. Damit vertritt Wagner eine künstlerische Position, die der Epoche der Romantik eigentümlich ist, nämlich das Erreichenwollen eines riesigen Publikums, nicht nur das des eigenen Landes, sowie das intensive Studium der nationalen Volksmusikkultur. Diese Tradition kann man von Schubert über Schumann, Weber und Wagner bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein zu Bartok oder Schostakowitsch verfolgen. Wagner ist eine breite Massenwirkung im besonderen Maße geglückt. Seine Musik hat den Siegeszug in die ganze Welt nicht nur angetreten, sondern längst gewonnen.
Er beurteilt die Wirkung einer nationalen, volksliednahen Melodik auf das Publikum folgendermaßen:
„Es ist ein charakteristischer Zug der deutschen Volksmelodie, dass sie weniger in kurzgefügten, keck und sonderlich gefügten Rhythmen, sondern in langatmigen, froh und doch sehnsüchtig geschwellten Zügen sich uns kundgibt. Ein deutsches Lied, gänzlich ohne harmonischen Vortrag, ist uns undenkbar; überall hören wir es mindestens zweistimmig gesungen; die Kunst fühlt sich ganz von selbst aufgefordert, den Bass und die leicht zu ergänzende zweite Mittelstimme einzufügen, um den Bau der harmonischen Melodie vollständig vor sich zu haben. Diese Melodie ist die Grundlage der Weberschen Volksoper; sie ist, frei aller lokal-nationellen Sonderlichkeit, von breitem, allgemeinen Empfindungsausdrucke, hat keinen andern Schmuck als das Lächeln süßester und natürlichster Innigkeit, und spricht so, durch die Gewalt unentstellter Anmut, zu den Herzen der Menschen, gleichviel welcher nationalen Sonderheit sie angehören mögen, eben weil in ihr das Reinmenschliche so ungefärbt zum Vorschein kommt.“5
Zur ergänzender Erläuterung der Bedeutung einer (deutsch-)nationalen Kunst möge eine schriftliche Äußerung Schillers gelten:
„Unmöglich kann ich hier den großen Einfluss übergehen, den eine gute stehende Bühne auf den Geist der Nation haben würde. Nationalgeist eines Volks nenne ich die Ähnlichkeit und Übereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet. Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Übereinstimmung in einem hohen Grad zu bewirken, weil sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert, alle Situationen des Lebens erschöpft, und in alle Winkel des Herzens hinunter leuchtet; weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt, und den gebahntesten Weg zum Verstand und Herzen hat. Wenn in allen unsern Stücken ein Hauptzug herrschte, wenn unsre Dichter unter sich einig werden, und einen festen Bund zu diesem Endzweck errichten wollten (…), mit einem Wort, wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation. Was kettete Griechenland so fest aneinander? Was zog das Volk so unwiderstehlich nach seiner Bühne? – Nichts anders als der vaterländische Geist, das große überwältigende Interesse des Staats, der besseren Menschheit, das in denselbigen atmete.“6
Wagner hat durchaus ähnliche Vorstellungen von der Bedeutung der nationalen Kunst und Bühne vertreten, mit seiner persönlichen Erweiterung, dass das Volkstümliche in allen Künsten derart verarbeitet werde, dass das Reinmenschliche als letztes Ziel dem Künstler immer vor Augen zu schweben habe; dadurch würde das Kunstwerk über die Grenzen des eigenen Landes hinaus für alle Menschen ein Interesse mit sich führen.
Musikalische Parallelen
Für einen Komponisten, zumindest bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, galt es, sich das musikalische Vokabular seiner Zeit anzueignen. Bestimmte „Vokabeln“ zogen sich auch durch die Epochen, von der Renaissance bis zur Romantik. Dazu gehören z.B. die Tonartensymbolik sowie bestimmte rhetorische Figuren, die vor allem in der Barockzeit ihre größte Intensivierung gefunden haben, aber auch in den nachfolgenden Epochen immer wieder aufgegriffen wurden. Dass Wagner, der die Musik Webers von Kindheit an kannte und liebte, gerade dieser auch sein Grundvokabular abgewann, ist nicht verwunderlich. Interessant ist, dass sich die tonartlichen, harmonischen und melodischen Bezüge noch bis in die Reifezeit verfolgen lassen, andere frühere Ausdrucksmethoden jedoch fast vollständig abgelegt wurden.
Für unheimliche oder auch sehr angespannte Stimmungen hatte Wagner von jeher ein besonderes Feingefühl. Oft vermittelt in solchen Fällen eine chromatische Harmonik den entsprechenden Ausdruck. Ein markantes Beispiel hierfür sei als Abschluss des Artikels angeführt: Das Harmoniegerüst des Beginns vom ersten Finale des Freischütz (T.3-7), verglichen mit einer Stelle aus dem Rheingold (1. Szene, Alberich: „o Schmerz! o Schmerz!“).
Von Alexander Fischerauer
1 Richard Wagner, Mein Leben, List Verlag München 1963, S. 38 f.
2 ebd. S. 47
3 ebd. S. 350 ff.
4 Richard Wagner, Oper und Drama, Reclam, 2000, Stuttgart, S. 87
5 Richard Wagner, Oper und Drama, Reclam, 2000, Stuttgart, S. 55
6 Friedrich Schiller, Gesammelte Werke, Bertelsmann Verlag, 1955, Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, S. 83
No Comment