Die europäische, zeitgenössische Kunst zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie sich Beurteilungskritieren mit aller Kraft entziehen möchte; Sie soll keinerlei Ansätze für Bewertungskriterien liefern. In diesem Sinne macht sie glauben, eine ästhetische Kritik ihres Gegenstandes verhindern, gar unmöglich machen zu können. Auf der anderen Seite werden einzelne Kunst-Sparten zu genreübergreifenden Werken zusammengestimmt, oder Einflüsse aus einer anderen Kunstform geltend gemacht.
Das wird auch mit schlagkräftigen Worten benannt: Typisch für die moderne Typologie hängt man vor herkömmliche, in ihrer Bedeutung eigentlich klare Begriffe ein bestimmtes Präfix (das ist schon alles, was zur Modernisierung nötig ist), Ausdruck dafür, dass alles und nichts darunter verstanden werden könne. In diesem speziellen Fall wird Kunst interdisziplinär und interkulturell. Wenn man eine Kunst die Sphäre einer anderen streifen lässt, sie vereinen möchte zu neuen Formen, kommt es doch auf gewisse Prinzipien an, die sich gegeneinander abgrenzen lassen.
Gäbe es diese Unterschiede nicht, ließen sich die Künste überhaupt nicht differenzieren und es wäre überall nur eine einzige Kunstform möglich. Solche Kriterien, und mögen sie zunächst nur ganz äußerliche sein, definieren grundlegende Eigenschaften. In diesen Formen liegt immer eine Idee verborgen, die zur künstlerischen, sinnlichen Vermittlung antritt und mal mehr, mal weniger deutlich erscheint. Die verschiedenen Möglichkeiten sinnlicher Wirkung hat einen enormen Einfluss auf die Kunstrezeption. Die durch ein Kunstwerk vermittelte sinnliche Anschauung bestimmt, in welchem Maße die ursprüngliche Idee der Kunstgattung ausgedrückt wird.
Die sinnliche Anschauung ist das, was in der ursprünglichsten und einzig sinnvollen Absicht Ästhetik genannt wurde. Die ästhetischen Abhandlungen der Aufklärung thematisieren, ähnlich wie die Moderne, zu einem guten Teil die Grenzen und Überschneidungsmöglichkeiten der Künste. Darunter fallen Werke wie z.B. Lessings Laokoon, Kants Kritik der Urteilskraft, Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung uvm.
Vom sinnlichen Verhältnis zur Kunst (also dem ästhetischen), das sich im ersten Moment recht abstrakt ausnimmt, hängt auch die moderne, allgemeine Rezeption der verschiedenen Künste ausschließlich ab. Dabei sticht die Tatsache ins Auge, dass die verschiedenen zeitgenössischen Kunstformen in der Öffentlichkeit extrem unterschiedlich wahrgenommen werden. Daraus folgt: Die europäische Kunst-Rezeption ist einem gewaltigen Ungleichgewicht unterworfen.
Für die vergangenen Kunstepochen lässt sich bestimmen, welche welchen aufeinanderbezogenen Wert die Künste innehaben. Die große Kulturepoche der Romantik hatte die Musik als oberste aller Künste proklamiert, während die Literatur, Malerei, Schauspielkunst und Architektur bei aller Größe ihr als Begleiter auf dem Fuße folgten. Um nur ein Beispiel für diese Ansicht anzuführen: Der berühmte Philosoph des 19. Jahrhunderts, Arthur Schopenhauer räumte der Musik das absolute Primat vor allen anderen Künsten ein.
„Auf unserm Standpunkte daher, wo die ästhetische Wirkung unser Augenmerk ist, müssen wir ihr [der Musik] eine viel ernstere und tiefere, sich auf das innerste Wesen der Welt und unser selbst beziehende Bedeutung zuerkennen (…)“1
Als eine beklemmende Auswirkung dieser ungeheuren „Macht“ der Musik ist zu betrachten, dass die Errungenschaften dieser Glanz-Zeit uns im Musikleben bis heute nahezu unverändert begleiten: Die Instrumente, die Größe des Orchesterapparats, die Funktion der Konzertsäle stammen aus dieser Epoche. Zum ersten Mal in der europäischen Musik-Geschichte stehen wir einem Instrumentarium gegenüber, das seit 100 Jahren quasi unverändert geblieben ist, obwohl dieses seit ihrer Entstehung eigentlich permanentem Wechsel unterworfen war.
Interessanter Weise hantiert die ach so „neue“ Musik ausschließlich mit diesen uralten, völlig überkommenen Mitteln: Instrumenten, Partituren, Konzertsäle, alle in ihrer vom 19. Jahrhundert vorgegebenen Funktion. Selbst in der elektronischen Musik, die die Möglichkeit hätte, sich dieser Mittel gänzlich zu überheben, werden überwiegende alte Instrumente eingesetzt, die dann elektronisch entfremdet werden. Die Rezeption der Künste in unserer Gesellschaft ist der empirische Indikator, der zu den objektiven Prinzipien, einer gedanklichen Ordnung der Künste in unserer Zeit hinführt.
In unseren Tagen ist die Musik (als neue Musik) die niedrigste und unwürdigste Erscheinungsform aller Kunstformen. Sie nimmt im öffentlichen Bewusstsein eine Stellung ein, bei der man nicht einmal von Ignoranz sprechen kann, sondern eher von einem absoluten Nicht-Wissen, einer totalen Unkenntnis. Der künstlerisch nicht vorgebildete Teil der Gesellschaft hat von der Existenz der neuen Musik als solcher nicht einmal den Hauch einer Ahnung, selbst die höchste Schulbildung vermittelt als höchstes der Gefühle die bereits fast 100 Jahre alte Zwölftonmusik.
Die professionellen Musiker geben sich ihr fast ausschließlich im Austausch gegen Kapital hin, von wenigen Ausnahmen abgesehen, was einen Vergleich mit einer erniedrigenden Buhlschaft provozieren könnte. Besonders im Profi-Bereich liegt die Identifikation mit dieser Art von Kunst weit hinter dem zurück, was man von einer im wahrsten Sinne des Wortes „zeitgenössischen“ Musik erwarten würde.
Eine Erklärung dieses Phänomens scheint das unerbittliche Primat der Musik des 19. Jahrhunderts zu sein, das bis heute die klassische Musik-Szene weltweit beherrscht. Die Musiker fühlen sich natürlicherweise nicht nur zu ihren alten Instrumenten, den alten Konzertsälen hingezogen, sondern auch zur alten Musik, die Ihnen viel näher zu stehen scheint als die abstrakte neue Musik. Die ausdrückliche Mehrzahl der professionellen Musiker praktiziert unbeeindruckt von allen neueren Bestrebungen. Besonders gilt dies von den berühmtesten, zugleich qualitativ hochwertigsten Kulturstätten der Musik: Den großen Opernhäusern in Wien, Berlin, München, Mailand, New York und Sydney, den Konzerthäusern wie dem Goldenen Saal in Wien, dem Concertgebouw in Amsterdam, der Laeisz-Halle in Hamburg uvm., in denen Neue Musik nur als Ausnahme, als besondere Ergänzung zum gewöhnlichen Programm gegeben wird, wenn überhaupt.
Soviel zum Bereich der Musik. Ein außenstehender könnte nach diesen Erläuterungen vermuten, dass die anderen zeitgenössischen Künste ähnliche Rezeptionsmuster beim Publikum aufweisen. Das ist aber erstaunlicherweise nicht der Fall. Ganz anders sieht es z.B. mit der modernen Architektur aus: Sie wird auf breiter gesellschaftlicher Basis akzeptiert, bestaunt und bewundert, selten verworfen. Sie ist nicht nur das Objekt touristischer, fotographisch ausbeutender Bewunderung, sie verkörpert Lebensgefühl und Kraft-Bewusstsein einer modernen Gesellschaft, z.B. die riesigen, beeindruckenden Hotelbauten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Skyline von Manhattan, die Firmensitze der großen Konzerne wie Siemens oder BMW in München, die politischen Schauplätze wie das EU-Parlament in Straßburg oder das Vienna International Center in Wien.
Dabei fühlen sich die Architekten, die ausführenden Künstler gar nicht gesellschaftlich bedroht oder eingeschränkt in ihrem Wirkungskreis, im Gegenteil leben sie ihre Visionen ungehindert, in einem Bewusstsein der künstlerischen Freiheit aus. Warum sind Architektur und Musik solch starke Antipoden innerhalb der zeitgenössischen Kunst? Die völlig ungleichartige Wahrnehmung der neuen Musik und der zeitgenössischen Architektur liegt nicht in ihrer „Modernität“, ihrem zeitgenössisch spezifischen Charakter begründet.
Sie geht auf die grundsätzliche Gegensätzlichkeit dieser Kunstformen zurück, auf die Ideen, die durch sie ausgedrückt werden. Ihre moderne Erscheinungsform erhellt lediglich, warum die Architektur zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte den obersten Rang bekleidet, aber nicht, warum sie der Musik entgegengesetzt ist.
Die objektive Idee in der Architektur
Wenn Architektur als Kunst betrachtet wird, erkennt man ihren Gegenstand in der Verarbeitung und Organisation der Baustoffe. In der sinnlichen, ästhetischen Wahrnehmung eines architektionischen Kunstwerkes kommen zwei grundsätzliche Eigenschaften der Baustoffe in Betracht: Deren Schwere und deren Starrheit. Der Widerspruch zwischen diesen Naturkräften, der zum Boden strebenden Schwere und die das Gebäude aufrechthaltenden Starrheit, wird von Schopenhauer eindrücklich beschrieben:
„Wenn wir nun die Baukunst (…), abgesehn von ihrer Bestimmung zu nützlichen Zwecken, (…) betrachten; so können wir ihr keine andere Absicht unterlegen als die, einige von jenen Ideen, welche die niedrigsten Stufen der Objektität des Willens sind, zu deutlicher Anschaulichkeit zu bringen: nämlich Schwere, Kohäsion, Starrheit, Härte, diese allgemeinen Eigenschaften des Steines, diese ersten, einfachsten, dumpfesten Sichtbarkeiten des Willens sehn wir schon sein Wesen sich in Zwietracht offenbaren: denn eigentlich ist der Kampf zwischen Schwere und Starrheit der alleinige Stoff der schönen Architektur: ihn auf mannigfaltige Weise deutlich hervortreten zu lassen ist ihre Aufgabe.“2
Ausgehend von dieser Darstellung erscheint die Architektur der Moderne in einem ganz klaren Licht: Weil sie als moderne Architektur noch immer Architektur, d.h. Baukunst bleibt, hat sie ihren grundlegenden Charakter nie abgelegt. Sie verwendet Baustoffe, die sie zu Gebäuden formt, das hat sich nicht verändert und wird sich nicht verändern, ohne dass sie aufhören würde, Architektur zu sein. Die Ideen der Schwere und Starrheit bilden noch immer ihr Element, auch wenn diese, als der von Schopenhauer beschriebene Gegensatz in der modernen, theoretischen Diskussion nicht in demselben Sinne vorkommen.
Der moderne Charakter, das negierende, aufbegehrende Element der Architektur gegen das Alte und Überkommene lag und liegt darin, die von Schopenhauer erwähnte „nützliche Zweckmäßigkeit“ völlig zu überwinden, um von allen äußerlichen Zwecken unabhängig, also frei zu sein. Dass dies eigentlich schon immer und grundsätzlich die Bedingung der Architektur als Kunstform ist, kann nicht als eine Erfindung der Moderne angesehen werden, genügte dieser jedoch zur Begründung der Modernen Architektur bis zum heutigen Tag, weil sie den Grad der Freiheit, den sie einforderte, im Verhältnis zu den vorherigen Epochen explodierend, geradezu exponentiell steigerte.
Mit dieser im 20. Jahrhundert unter schweren Opfern errungenen zweckgelösten Freiheit begnügte sich also die moderne Architektur. Sie ging ganz in den neuen Baustoffen Stahl-Beton-Glas auf, die sie zur Betonung ihrer Freiheit vorzüglich verwenden konnte. Sie übt sich seither darin, unkonventionelle, unmöglich erscheinende Gebäudeformen zu erfinden, die den Gegensatz der Schwere und Starrheit aufs Schärfste herausbilden, in nie geahnte Größen potenzieren.
Damit bietet die moderne Architektur sogar eine enorme Steigerung gegenüber den vorhergehenden Epochen. Sie ist damit ein im modernen Stadtbild ständig präsenter Gegenstand der Schopenhauerisch verstandenen „schönen“ Kunst, auch wenn man das innerhalb der Moderne niemals beabsichtigt hat, weit davon entfernt, dass man davon sprechen oder es eingestehen würde. Schönheit bezeichnet bei Schopenhauer nicht ein subjektives Wohlgefallen, sondern einen Gegenstand, der für eine kontemplative, ästhetische Erfassung geeignet ist.
Die himmelwärts strebenden Wolkenkratzer eröffnen dem beobachtenden Auge unmittelbar das Kräftespiel der Schwerkraft, sie führen ihn auch ohne die Absicht des Architekten in das Reich der elementarsten Naturkräfte und beschäftigen Einbildungskraft und Verstand zugleich, wodurch Kant den Charakter des Schönen bezeichnet. Sogar ein anderer, noch stärkerer Natureindruck wird durch die moderne Architektur möglich.
Wenn die Kräfte in einen Gegensatz getrieben werden, der unmöglich erscheint, sodass man den Eindruck hat, das Gebäude müsse eigentlich einstürzen, wobei es durch die Kraft der Stahlkonstruktionen dennoch getragen wird, (wobei früher aufgrund mangelnder, entsprechender Baustoffe solche Gegensätze einfach nicht möglich waren) kann bei der Betrachtung durch die Bedrohlichkeit, die scheinbare Gefahr des Einsturzes das Gefühl des Erhabenen zart und leicht erweckt werden, was eigentlich auf reine Naturgegenstände begrenzt ist und gegenüber der älteren Architektur eine nicht unwesentliche Erweiterung darstellt.
Die subjektive Erkenntnis der Naturkräfte in den Bauten der Architektur wirkt sich zuletzt auf deren gesellschaftliche Wahrnehmung frappierend aus. Selbst eine im rudimentärstem Zustande errichtete Lehmhütte drückt andeutungsweise die Ideen der Schwere und Starrheit aus. Die moderne Architektur ist aber weit davon entfernt, diese Ideen nur anzudeuten: Sie hat sie hypostasiert, sie lässt das scheinbar Unmögliche in die Erscheinung treten und drückt damit symbolisch zuletzt den technischen und ökonomischen Fortschritt der Menschheit im 21. Jahrhundert aus.3
In ihrem gewaltigen Wirkungskreis inszeniert sie die Macht der Banken sowie der großen Konzerne, die Bedürfnisse einer Wohlstandsgesellschaft, deren Luxusbedürfnis und Dekadenz, aber auch die völlige Vernichtung und Bedeutungslosigkeit des Individuums, in gigantischen, tausende Arbeiter verschlingenden Bürobauten. Deshalb ist die moderne Architektur insgesamt und objektiv betrachtet, ein würdiger, andauernder Gegenstand ästhetischer Betrachtung innerhalb unserer Gesellschaft.
Der Architekt selbst hat hierbei jedoch eigentlich keinen direkten Bezug zu derselben, er bewegt sich in einer Sphäre, die dem gewöhnlichen Bildungsbürger durchaus unzugänglich ist. Aber die unbeabsichtigten sinnlichen Eigenschaften seiner Werke, und seien sie noch so ungewollt, können den Charakter der Baukunst niemals verleugnen.
Eben dieser Umstand, dass sie ihren Charakter niemals verleugnet hat und dies auch nicht wollte, weil man etwas ganz anderes dafür gehalten hat, unterscheidet die architektonische Kunst von ihren Geschwistern. So konnte sie nach der überwundenen Romantik von der unwichtigsten zur höchsten Stufe aufsteigen. Mir sind schon mehrmals, von Kunst und Kultur in ihrem Leben nahezu unberührt, Menschen begegnet, die laut eigener Aussage die moderne Architektur der alten vorziehen, diese lieber „mögen“, ohne auch nur jemals mit den Prinzipien oder ästhetischen Ideen der modernen Architektur in Berührung gekommen zu sein.
Es herrscht hier eine für die moderne Kunstauffassung paradoxe Erscheinung: Die Architekten, die aus völlig anderen Beweggründen als zu gefallen, ihre Werke planen (man darf vermuten, dass solch eine Absicht von ihnen sogar bewusst negiert wird und in der Konzeption zugunsten der künstlerischen Freiheit völlig vernachlässigbar ist), gefallen durch ihre Bauten zuletzt doch, was immerhin ein nicht zu unterschätzender Aspekt der Rezeption ist.
Dies ist ein Beispiel dafür, dass eine Kunst, nur weil sie im Allgemeinen gefällt oder akzeptiert wird, nicht gleich den Anspruch der Trivialität verdient. Vor der Moderne war dieses Paradox auch gar kein Thema, paradox ist dieser Umstand nur in einer von unnatürlichen Grundsätzen heimgesuchten Kunstepoche. Im Bereich der anderen Künste konnte ich diesem Phänomen keine analogen Erfahrungen zur Seite stellen, weil deren Existenz denselben Personen nicht einmal bekannt war (insbesondere die der neuen Musik). Dieses einfache Beispiel, lässt sich leicht durch eigene, entsprechende Befragungen wiederholen.
Trotz allem darf man nicht übersehen, dass die moderne Architektur von Elementen geprägt wird, die in starken Kontrast mit dem rein ästhetischen Erfassen der architektonischen Form treten. Wer kennt nicht den Effekt des Kitschig-Banalen, den die Innenausstattung einer völlig überladene Barockkirche auslösen kann? Das Ringen der verschiedenen Eindrücke miteinander gleicht einem Vexierbild.
In der Moderne treten weniger kitschige, als vielmehr die Einbildungskraft hemmende und störende Elemente auf. Gebäude, die sehr klobig ausfallen, mehr in die Breite als in die Höhe wachsen, in unangenehmen Farben und chaotisch angeordneten Linien, Ecken und Kanten können den Eindruck des ästhetisch Schönen, der durch die bloße Form ausgelöst wird völlig vernichten.
Die ästhetische Form ringt also mit den sie verneinenden Elementen und wird je nach Fall stärker empfunden (Gefühl des Schönen) oder negiert (Gefühl der Unlust, des Hässlichen). Man sollte sich also auch nicht zu großen Illusionen hingeben: Wie in so mancher Barockkirche die reine ästhetische Auffassung abgelenkt und verhindert wird, so geschieht dies nur allzu häufig in der modernen Architektur. Als Beispiel dafür kann man etwas das Gewandhaus in Leipzig betrachten, in dem die ästhetsiche Betrachtung eigentlich völlig vernichtet wird und das abstoßend hässliche Element hervortritt.
Übergang zur Musik
Die moderne Architektur hat ein weiteres erstaunliches Phänomen aufzuweisen. Manche ihrer Künstler werden dem zunächst gewählten Beruf abtrünnig und wechseln hinüber in eine der „niedrigeren“ Künste.
Ein prominentes Beispiel hierfür ist etwa Prof. Renée Levi, die von der Architektur zur Malerei überging. Für unsere Darstellung besonders interessant ist jedoch Iannis Xenakis, der, vormals Architekt, später ein bedeutender Komponist der zeitgenössischen Moderne wurde. Umgekehrt gibt es solche Wechsel nicht, von der zeitgenössischen Musik in die Architektur. Warum verhält sich dies so?
Die erste oberflächliche, aber naheliegende Erklärung scheint auf der Hand zu liegen: Die zeitgenössische Komposition erfordert zu ihrer Ausübung so schwammige wie einfach anzuwendende Prinzipien, dass auch bei völlig anderweitiger Ausbildung jederzeit ein Wechsel in sie möglich ist, um mit etwas Geschick sogar noch zu einiger Größe innerhalb ihrer Szene zu gelangen. Umgekehrt erfordert die Architektur Kompetenzen, die ein Studium erfordern, welches nach einer bereits abgeschlossenen Berufslaufbahn nur sehr schwer nachgeholt werden kann.4
Diese Darstellung scheint zwar einige Wahrheit zu enthalten, kommt aber insgesamt zu einfach daher, um den Kern des Problems wirklich beschreiben zu können. Eine Untersuchung der platonischen Ideen in der Musik und den Grad der Vermittlung derselben durch die Moderne kann, wie vorhin bei der Architektur, deren gesellschaftliche Wahrnehmung besser begründen.
Die Beschreibung dieser Ideen ist jedoch beileibe nicht so einfach wie bei der Architektur, wo sie als Naturkräfte offen vor dem anschauenden Auge lagen. Die Musik ist in der sinnlichen Auffassung nicht nur das unbewusste Erfassen akustischer Zahlenverhältnisse, dafür ist ihre Wirkung auf das Gemüt, oder ihre Verarbeitung durch die Gehirnfunktionen, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, zu vielseitig. Sie drückt im Gegensatz zur Architektur keine elementaren Naturkräfte aus, und niemand der Musik hört, wird unvermeidlich auf ein Spiel der Einbildungskraft geleitet, das die physikalischen Eigenschaften der Luftteilchen im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Schalls, der akustischen Verhältnisse der Wellenlängen oder dergleichen vor das innere Auge bringt.
Diese Schwierigkeit, man muss es gestehen, die Unmöglichkeit der konkreten Auffindung objektiver Ideen in der Musik, stellt den deutlichen Gegensatz zur Architektur bereits in Grundzügen dar, nämlich in dem Sinne, dass das wesentliche Element, welches die Architektur in den Naturkräften erkennt, gänzlich außerhalb ihrer Sphäre liege. Jeder, der in einem historisch vernünftigen Sinn über Musik sprechen will, muss in Rücksicht auf die Produktionen der vergangenen Jahrhunderte bekennen, dass Musik tatsächlich „eine tiefere, sich auf (…) uns selbst beziehende Bedeutung“ hat, unabhängig vom Strom der Zeiten.
Wer diesem schopenhauerischen Standpunkt nicht einmal ein Quäntchen Wahrheit zugestehen kann, wird Schwierigkeiten haben, die Größe der musikalischen Kunstwerke der vergangenen Epoche zu verstehen, sowohl mit dem Gefühl, wie auch der Vernunft. Ein der abstrakten Logik verschriebener, zeitgenössischer Komponist, der sich das „Liebesverbot“ des Dr. Faustus zugunsten seiner rein mathematisch konstruierten Musik auferlegt hat, überhebt sich in seiner von allen vernünftigen Geistern verlassen Trutzburg des unsinnigsten ästhetischen Skeptizismus auch von der nun folgenden Argumentation und fühle sich frei, diese nicht weiter verfolgen zu müssen.
Wollen wir uns in die an der Sinnlichkeit geschulte ästhetische Betrachtung der Musik weiter vertiefen, so kann man die objektiven Ideen derselben sich auf folgende Weise verständlich machen. Die Naturkräfte, die äußeren, sichtbaren Begebenheiten des Lebens usw. werden durch die darstellenden, bildenden Künste, durch Literatur, Malerei, Architektur tausendfach dargestellt. Sie liefern darin Nachbildungen der Ideen, von denen die Natur, das menschliche Leben und alles damit Verknüpfte erfüllt ist. Die Musik unterscheidet sich nun dadurch von ihnen, dass man keine Naturkraft, keine Sinneswahrnehmung entdecken kann, deren unmittelbarer Ausdruck sie wäre.
Die Objekte der anderen Künste hatten jederzeit ihr Pendant in der Natur oder deren Kräften auszuweisen, die Musik jedoch scheint ganz unabhängig von diesen zu sein, sie ist auch in der Natur als solche, in Skalen, Harmonien oder Melodien, die so stark aufs Gemüt wirken, streng genommen nicht anzutreffen. Die Vermutung liegt also nahe, dass sie sich gar nicht mit dem objektiven befasse, also dem was außerhalb unserer Sinne liegt, der wahrnehmbaren Welt.
Ihr scheint es vorbehalten zu sein, die subjektive Seite des Menschen, sein Innerstes, mit allen Regungen und Empfindungen deren er fähig ist, in höchster Konzentration darzustellen. Dass die Musik die Seelenregungen des Menschen in überwältigender Variabilität darstellen kann (aber nicht muss), ist von Renaisseance bis einschließlich Moderne durch tausende Werke bezeugt worden.
Die unbeschreiblich differnzierende Wirkung auf das „Gefühl“5, die eine melodische Bildung ermöglicht, ist nur in der sinnlichen, realen Erfahrung einzuholen und theoretisch weder zu beschreiben noch zu beweisen, aber auch nicht zu erfinden, dennoch für jeden, der Ohren hat zum Hören, sofort einleuchtend, und wird als das grundlegende Prinzip der Musik bald erkenntlich, auch wenn dieses Prinzip nicht theoretisch benannt werden kann, weil es sich der Beschreibung durch die abstrakte Vernunft enzieht.
„Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, daß sie nicht Abbild der Erscheinung (…), sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt.“6
„Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies sie an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, beruht darauf, dass sie alle Regungen unseres innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Qual.“7
Nun ist der Kreis zur zeitgenössischen, neuen Musik zu schließen. Wenn man die vorherige Argumentation gelten lässt und die objektiven Prinzipien der Musik in die unerklärliche, der Vernunft verschlossene Subjektivität der menschlichen Empfindung legt – nur dann sage ich, kann man die vernichtende Rezeption der neuen Musik in unserer Gesellschaft verstehen. Die zeitgenössische Musik ist im deutschsprachigen Raum zum größten Teil von den Ideen der Darmstädter Schule der 1960er Jahre indoktriniert und kann keine nennenswerten Entwicklungen seither aufweisen, die grundlegende ästhetische Veränderungen, um die es in diesem Artikel einzig zu tun ist, gebracht hätten. Mit anderen Worten: im ästhetischen Sinne (in der Bedeutung in der ich die Ästhetik in diesem Artikel gebraucht habe) stagniert die europäische „Neue“ Musik seit über 60 Jahren. Ihr Wirkungsraum beschränkt sich hauptsächlich auf akademische Kreise, wie dies von Volkmar Klien eindrücklich beschrieben wurde (vgl. Contrapunkt Ausgabe Nr. 10).
Was ist an der zeitgenössischen Musik charakteristischer, als dass sie sämtliche Methoden, welche die der Vernunft so geheimnisvoll verborgene Darstellung der Innerlichkeit des Menschen verleugnet: Harmonie, Rhythmus, Melodiebildung – kurz alle Mittel zum Ausdruck. Wie Mathias Schmidhammer in der Contrapunkt-Ausgabe Nr. 10 erläuterte, definiert sich die neue Musik geradezu darüber, was sie nicht darf. Ich möchte hinzufügen: Etwas ausdrücken! In der Abstraktheit der neuen Musik geschieht das, was der Architektur blühen würde, wenn sie keine Baustoffe mehr verwenden und keine Bauwerke mehr errichten wollen würde: Sie würde aufhören Architektur zu sein.
Die neue Musik zerstört sich durch die Leugnung ihrer Prinzipien und hört auf Musik zu sein. Aber was ist sie dann anstatt dessen? Sie wird zu dem, was vorhin als ungenügend, zu oberflächlich für die ästhetische Beschäftigung des menschlichen Geistes bezeichnet wurde: Eine Übung im Bereich der physikalischen Akustik und mathematischer Gesetzmäßigkeiten in einer totalen, von abstrakter Vernunft gänzlich abhängigen Konstruktion.
Sie ist also keine Musik mehr, auch nicht mehr zum Hören gedacht, sondern streng genommen nurmehr zum Sehen, einem visuellen Erfassen von willkürlich erdachten Gesetzmäßigkeiten auf dem Notenblatt. Sie wird zu einer mathematischen Spielerei, wenn bei einer so zersetzenden Tendenz ein Vergleich mit etwas so erheiterndem wie einem Spiel überhaupt passend ist. Der Interpret ist in dieser Folge auch kein Musiker mehr, der die innere, subjektive Idee des Werkes wie ehemals intuitiv zu erfassen und auszudrücken hat.
Er verkommt stattdessen zu einer Tonproduktionsmaschine, ohne Geist, ohne Seele, die gegen Münzeinwurf die vorgeschriebenen Töne unter Verrenkungen und größter physischer wie psychischer Anstrengung abliefert, was Züge einer Selbstkasteiung annehmen kann. Stockhausen gab diesen Umstand offen zu und sah eine Lösung in der elektronischen Musik, die keine Interpreten mehr erforderte.
Dadurch, dass die neue Musik keine Musik mehr ist, hat sie in der Gesellschaft den Platz eingenommen, den sie sich selbst notwendig erzwingt und der ihr auch gebührt. Die totale Ignoranz und Unkenntnis der Öffentlichkeit ihr gegenüber, die soziale Abgeschiedenheit ihrer akademischen Führer und deren Jünger, der schwer zu ertragende elitäre Eigendünkel und die Vetternwirtschaft unter ihren Vertretern – nicht umsonst ist die neue Musik ohne saftige staatliche Förderungen undenkbar und erhält nur damit ihre sinnlose, ewig wiederkäuende Produktion, während die Architektur in ihrer ganzen künstlerischen Freiheit ehrenhaft auf solche Förderungen verzichten kann.
Sie charakterisiert sich durch die Verbindung von Künstlerischer Freiheit/Unabhängkeit von finanzieller Förderung. Während bei der Musik das Geschwisterpaar Staatsförderung/Dogmatische Zwänge das Analogon bildet. Da die Musik nicht mehr Musik ist, stattdessen aber alles sein kann, was der abstrakten, ordnenden Vernunft einfallen möge, ist es erklärbar, wie Iannis Xenakis die Konstruktionskonzepte der Architektur, die durch Zahlenverhältnisse bestimmt sind, auf die Musik übertragen konnte, und mit einem so banalen Taschenspielertrick auch noch zu einer Größe innerhalb der Szene wurde.8
Es ist an der Zeit, dass sich der seit über 60-Jahren dogmatisch geplärrten Predigt abstrakter Konzepte ein Geist entgegenstellt, der sich Expressivität auf seine Fahne schreibt, um die lähmende Starrheit der „neuen Musik“, die Fesseln der schlimmsten Pedanterie und Unbeweglichkeit, die jemals der Musik angelegt wurden zu sprengen und sie einer würdigeren Bestimmung zuzuführen. Sie müsste das kaum zu begreifende Desinteresse, die Bedürfnislosigkeit unserer Gesellschaft an Kultur und geistiger Erhebung überwinden, um Europa schließlich das wiederzuschenken, was vor ca. 2500 Jahren in Griechenland angestoßen wurde.
Es ist zu hoffen, dass eine solche Renaissance möglich sei, aber ich täusche mich nicht darüber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie sich in einem ganz anderen Land der Welt sich ereignen möge, das die hierzulande so stark vorherrschende beamtische Pedanterie in künstlerischen Dingen und die moralische Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Gesellschaft nicht kennt.
Zumindest aber wäre eine Entwicklung in diese Richtung ein Lichtblick, der eine europäische Rehabilitierung der Kultur möglich machte und ist nur denkbar in einem Europa des respektvollen Miteinanders, eines nach gemeinsamen Zielen strebenden kulturellen Geistes innerhalb von individuellen, nationalen Färbungen. Nicht besteht es in dem Wahnsinn der schamlosen wirtschaftlichen Ausbeutung und einer laut ausposaunten, aus der Geschichte allzu bekannten Überlegenheit, die der kraftstrotzende Riese in der Mitte Europas besonders dem Land zumutet, in welchem der Keim für die ungeheure kulturelle Bedeutung Europas vor so langer Zeit zum ersten mal ersproß.
Von Alexander Fischerauer
1 A. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, Band I, Suhrkamp Verlag, 1960, Stuttgart/Frankfurt a.M, S. 357
2 ebd. S. 303
3 Man wage nicht zu fragen, was die Neue Musik über das 21. Jahrhundert ausdrückt, die Antwort wäre obsolet
4 Anm.: Auch in der modernen Kunsttheorie wird in der Musik und in der Malerei oftmals auf die Nähe zur Architektur oder architektonischen Prinzipien verwiesen, umgekehrt aber begegnet einem diese Analogie fast nie.
5 Gefühl als negativer Begriff enthält alle im menschlichen Gemüt vorhandenen Eigenschaften und Fähigkeiten, die nicht abstrakte Vernunft sind, seine ganze Sphäre als Subjekt des Erkennens
6 Welt als Wille und Vorstellung, S. 366
7 ebd. S. 368
8 Hierzu ist noch anzumerken, dass alle neue Musik, die sich auf mathematische Konzepte beruft, trocken betrachtet jeglicher Beschreibung spottet, und das aus der Sicht eines jeden Hobbymathematikers
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