Soli Deo Gloria! – Allein zu Gottes Ehren! Mit diesen Worten überschreibt Johann Sebastian Bach gleichwohl einer maßgeblich richtungweisenden Aussage alle seine geistlichen Werke. Was in unseren Ohren wie ein hohes Ideal klingt, war zu Bachs Zeiten bei weitem nicht so ungewöhnlich. Es ist eine Zeit, in der die Strömung der altprotestantischen Orthodoxie teilweise von der mystisch-asketischen Bewegung des Pietismus abgelöst wird. Der Pietismus, als im 17. Jahrhundert in Einzelströmungen entstandene Frömmigkeitsbewegung innerhalb des Protestantismus, fordert eine Weiterführung der Reformation „durch eine Reformation des Lebens“1. Diese hat zur Folge, dass Glaube nicht theoretisch bleiben darf, sondern eine praktische Umsetzung in sozialem Engagement und Heiligung erfährt.

Die zur gleichen Zeit (im 17. Jahrhundert) entstehende Aufklärungstheologie fordert ebenfalls „ein undogmatisches, moralisches Christentum“2, im Gegensatz zum Pietismus, der an eine übernatürliche Gottesoffenbarung glaubt, vertritt sie aber die erkennende Vernunft als Offenbarungsmedium in einer sogenannten Natürlichen Theologie.

Maßgeblich beeinflusst der Pietismus auch heutige Frömmigkeitsbilder, da er besonders die Umsetzung des persönlichen Glaubens des Individuums in den Blick nimmt. Der Glaube soll vom Einzelnen vollständig verinnerlicht und für die Seele erfahrbar gemacht werden. Gleichermaßen gehören zu dieser Umsetzung auch ethische Gesichtspunkte, wie soziales Engagement.

So entstanden im 17. Jahrhundert soziale Einrichtungen wie die Diakonie (gegründet von Löhe in Neuendettelsau), das rauhe Haus (gegründet von Wichern in Hamburg) und die Franckeschen Stiftungen (in Halle). Heutzutage ist der „Pietismus“-Begriff jedoch in einigen Frömmigkeitsströmungen, insbesondere des landeskirchlichen Protestantismus, negativ belegt, da mit ihm „Schwärmerei“ gleichgesetzt wird. In besonderem Maße rückt durch die Aufklärung das rational-reflexive Moment des Glaubens, das Verstehen und Begreifen des Evangeliums, in den Mittelpunkt.

Die Musik hat im Pietismus ausschließlich die Aufgabe, die Erbauung der menschlichen Seele zu fördern. Der anbetende Gemeindegesang wird ein entscheidender Faktor des Gottesdienstes und schlägt sich auch in der kunstvollen Kirchenmusik nieder.

Ob Bach sich tatsächlich einer pietistischen Gruppierung zuordnet, ist unklar. Seine Schriften weisen doch eher auf eine lutherisch-orthodoxe Frömmigkeit hin. Sein Schaffen ist jedoch nicht zuletzt durch pietistische Dichter wie Picander (z.B. Kantate, BWV 36d) von dem neuen Zeitgeist beeinflusst. Einen wichtigen Stellenwert haben in eben dieser Dichtung Begriffe wie Liebe und Herz. Auch die Hochzeitsmetapher mit Jesus als dem Bräutigam des Gläubigen spielt eine bestimmende Rolle. So heißt es in der Tenorarie der Kantate „Schwingt freudig euch empor“ (BWV36d)

„Die Liebe zieht mit sanften Schritten/ sein Treugeliebtes allgemach./ Gleichwie es eine Braut entzücket,/ Wenn sie den Bräutigam erblicket,/ So folgt ein Herz auch Jesus nach“3. Diese Intensität der Beziehung zwischen Jesus und dem Gläubigen wird auch in der Anrede der Bassarie jenes Bräutigams als „werter Schatz“ dargestellt und der Einzug der Hochzeit mit dem Einzug von Liebe und Glaube in das Herz des Gläubigen gleichgesetzt. Das Bild der Hochzeit weist auf eine v.a. bei Spener ausführlich beschriebene Bekehrungsfrömmigkeit hin. So wie bei der Hochzeit eine einmalige Bindung eingegangen wird, so soll auch das Erlebnis der Bekehrung auf Tag und Stunde angegeben werden können. Der Mensch wird im Ganzen erneuert und kann so ein in tiefer Verbindung zu Gott geführtes Leben leben.

In der Musik selbst weisen Stilmittel wie „weich fließende, oft in Achtel-Melismen sich wiegende Aria-Strophen“4 auf pietistische Determination hin. Durch diese werden oft besonders zentrale Worte betont und bleiben so im Gedächtnis. Die Emotionalität, mit welcher hier vom Glauben gesungen wird, äußert sich z.B. in der durch kurze Interjektionen dargestellten Verzückung. Seine geistlichen Kantaten, zumeist Vertonungen des Evangeliums des dazugehörigen Sonntags im Kirchenjahr, versteht Bach „als eigene Form der Verkündigung, als Auslegung der Bibel und Anwendung von Gottes Wort auf die individuelle Existenz, als z.T. mystische Verbindung der Gläubigen mit dem leidenden Erlöser und Gottmenschen Jesus Christus.“5 Nicht nur in den Worten „Soli Deo Gloria!“, sondern auch im Lob der Schöpfungsordnung in seiner „Harmonik [im Sinne] der natürlichen Theologie entsprechen[d]“6 schafft Johann Sebastian Bach Musik stets zur Ehre Gottes und beeinflusst somit nicht nur weite Teile der Frömmigkeitsgeschichte, sondern auch des Kulturlebens und der Kirchenmusik.

Von Marie-Christin Noller

1 Sitzmann, Manfred; Weber, Christian: Übersichten zur Kirchengeschichte, Göttingen 2008. Übersicht zur Kirchengeschichte, 8.2.
2
Ebd.
3
BWV36d, erster Teil, 3. Arie (Tenor)
4
Geck, Martin: Pietismus, Finscher Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil Bd.7. Kassel 1998, S. 1597
5
Hauschild, Wolf-Dieter: Lehrbuch der Kirchen und Dogmengeschichte Bd.2: Reformation und Neuzeit, Gütersloh 2010, 678f
6
Ebd.