Eine Streitschrift
Wenn man als Kirchenmusiker im Ausland unterwegs ist und sich mit den Kollegen dort unterhält, wird einem nicht selten vorgehalten: der Zustand der Kirchenmusik in Deutschland sei beneidenswert gut.
Die Kirche leiste sich eine große Anzahl hauptamtlicher musikalischer Mitarbeiter, es gäbe genug Geld für große Aufführungen, überall gäbe es gute Laienchöre und für Orgelneubauten oder Renovierungen fehle es nie an Geld. Die typische Reaktion ist meist ein überraschtes und ablehnendes Kopfschütteln – sind doch so viele Kirchenmusiker in Deutschland unzufrieden mit der Gesamtsituation.
Dabei haben unsere Kollegen z.B. aus Frankreich, Spanien und Italien ja auf den ersten Blick durchaus Recht, wenn sie unser System loben. In Frankreich leistet sich die Kirche nur in seltenen Fällen hauptamtliche Musiker. Die Orgel wird meist von einem „Titulaire“ und seinen Assistenten gespielt (alle eher symbolisch bezahlt), und auf dem Land gibt es in vielen Gemeinden niemanden, der die Orgel bedienen könnte, geschweige denn einen der ihn dafür bezahlt. Kirchenchöre sind durchaus nicht überall zu finden. In Spanien sind die meisten Organisten verzweifelt darüber, wie die Kirche mit dem historischen Erbe wertvoller Orgeln umgeht. Und wer ist noch nicht fassungslos vor dem Bildschirm gesessen, wenn bei einer Live-Übertragung aus dem Vatikan die Musik vom Band kommt oder der Organist auf priesterlichen Wink sein Orgelpräludium mitten im Stück abbrechen muss, oder es sogar ganz an Musik fehlt? Ja, wir könnten sehr zufrieden sein mit unseren kirchenmusikalischen Verhältnissen in Deutschland– wenn wir nicht genau wüssten, dass eine radikale Veränderung nicht nur wahrscheinlich ist, sondern schon längst eingesetzt hat.
Eine kurze Rückschau
Die Tradition reicht lange und weit zurück. Wie überall wurde im Mittelalter der Gregorianische Choral gepflegt, nach und nach entwickelte sich die Mehrstimmigkeit. Eine ganz neue Traditionslinie begann mit der Reformation; das Volk wurde musikalisch miteinbezogen, Luther förderte den Gemeindegesang durch Choräle. Daneben entwickelte sich eine immer reichere Ausdrucksform vom einfachem Choral bis zur Motette und Kantate und schließlich dem großen Oratorium eines Bach oder Händel. Seit der Zeit z.B. Mendelssohns lag die Ausübung der Kirchenmusik auf dem Land und in Kleinstädten hauptsächlich in der Hand von Lehrern, die in ihrem Studium verpflichtend das Orgelspiel und Chorleiten lernen mussten. In großen Städten waren die Musikdirektoren auch für die Kirchenmusikpflege zuständig, wie z.B. eben Mendelssohn in Berlin.
Nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges schuf man ganz neue Strukturen: Deutschland wurde flächendeckend mit hauptamtlichen Stellen, den B- und den A- Stellen besetzt. Größere Kirchen erhielten somit fast alle hauptamtliche Musiker, und die kleineren Kirchen im Umland wurden von dort aus mitversorgt. Ein Kirchenmusiker in einer Kleinstadt ist beispielsweise nicht nur für die Musik an seiner Kirche verpflichtet, sondern als „Dekanatskantor“ auch der Betreuer seiner nebenamtlichen Kollegen auf den Dörfern rundherum. Er erteilt Orgelunterricht, kümmert sich um die Instrumente und berät in musikalischen Fragen. Dass man bei der Schaffung dieser historisch einmaligen Verhältnisse etwas über das Ziel hinausgeschossen war und sich finanzielle Verpflichtungen auferlegt hat, die nach dem Ende des großen Aufschwungs nicht mehr zu tragen sind, ist schon lange klar – und so streicht denn auch die Kirche Stellen, wo sie nur kann. Schmerzlicherweise setzen manche Landeskirchen geradezu zuerst bei der Musik den Rotstift an. Oft geschieht dies auf eine sehr merkwürdige Weise: Eine 100% B-Stelle beispielsweise wird nicht komplett gestrichen, sondern auf 50% gekürzt, dabei aber nicht ganz so klar formuliert, was nun eigentlich an Arbeit wegfallen soll – und der Stelleninhaber ist gegenüber der Gemeinde in Erklärungsnot, da er ja nach wie vor da ist, aber dies und jenes nun nicht mehr machen kann.
Im nebenamtlichen Bereich gibt es große Nachwuchssorgen. Zu wenige Jugendliche lernen Orgel spielen, und wenn sie es gelernt haben, verlassen sie meist den Heimatort wegen Studium etc. Auf die Dauer scheint in den meisten Gegenden die Sicherheit, in jedem Gottesdienst Musik zu haben, nicht mehr selbstverständlich oder ist schon nicht mehr da.
Die Frage, die sich uns stellt, ist die: Wollen wir uns unsere Kirchenmusik-Kultur in Deutschland erhalten? Und was ist sie uns wert? Und warum brauchen wir Kirchenmusik, wenn wir sie denn überhaupt brauchen?
Bei diesen Fragen gehen die Meinungen weit auseinander. Tief scheinen oft die Gräben zwischen den Anhägern der konservativen Kirchenmusik und den Pop-Musikern, zwischen Geistlichen und Musikern, zwischen Alten und Jungen…Wenn wir uns diesen Fragen stellen wollen, ist es nötig zu formulieren, was einem wichtig ist – und so fange ich an. Bewusst subjektiv, aus meiner Sicht.
Einige Gedanken
1. Der Einsatz von Musikkonserven in Kirchen sollte tabu sein.
Ob die Berieselung für Touristen durch salbungsvolle „Ave-Maria“-Klänge aus Lautsprechern in Wall-fahrtskirchen, Vivaldikonzerte vom Band auf Hochzeiten oder das Abspielen von Chorälen per Knopfdruck zur Gemeindebegleitung – es ist eine Beleidigung für jeden Musiker, entwertet live gespielte Musik und ist peinlich für die Kirche, die ihre Besucher damit der gleichen Berieselung wie im Friseurladen aussetzt.
2. Elektronische Instrumente sind kein Ersatz für richtige Instrumente.
Ausgenommen sind hier natürlich Instrumente aus dem Pop-Bereich, die von sich aus elektronisch sind. Aber da wo man elektronische Ersatzmittel hernimmt, um eine Orgel oder ein Klavier zu ersetzen, macht man Mu-sikgenuss geradezu unmöglich. Beerdigungen sind immer traurige Anlässe, aber wenn dann dabei noch Choräle von einem klapprigen Keyboard mit „Orgel-Sound“ aus begleitet werden, kann die Musik wohl kaum Trost bieten. Auch die hochmodernen, Ton für Ton gesampelten Pfeifenorgel-Kopien sind kein Ersatz einer Orgel. Sie sind ein fader Abgeschmack einer wirklichen greifbaren Klangerzeugung und in etwa so lebendig wie ein Roboter, der einen Dackel darstellen soll. Und der kann den Dackel auch nicht ersetzen.
3. Musik in Kirchen geschieht zur Ehre Gottes – „Soli deo gloria“ schrieb Bach unter seine Werke.
Für ihn bedeutete das höchsten Anspruch. Von manch anderen wird dies aber heute anderes ausgelegt. „Der liebe Gott hört zu, und für ihn ist es egal ob ich meine Gitarre stimme oder nicht“ ist ein Satz, der so wörtlich öfters ausgesprochen wird und das durchaus nicht als Witz. Es steht mir nicht zu, zu beurteilen ob Gott sich an ungestimmten mit maximal drei verschiedenen Akkorden bespielten Gitarren stört. Aber sitzen im Gottesdienst nicht immer noch Menschen mit dabei, die es sich auch anhören müssen? Hören wir noch einmal auf Bach: Zur Ehre Gottes und zur „Recreation des Gemütes“ sei die Musik da. Wo sich ein Gemüt erholen soll, muss die Gitarre gestimmt sein, da gibt es nichts zu diskutieren.
Unbedingt sollen auch Laien im Gottesdienst spielen, und je mehr Leute in der Kirche musikalisch aktiv sind, desto besser. Das erreicht dann natürlich nicht immer Profi-Niveau. Aber es sollte eben mit ganzem Herzen und Einsatz musiziert werden. Die technischen Fähigkeiten sind da nicht alleine entscheidend. Ein ganz einfacher, aber mit Hingabe gespielter Choral kann sehr schön sein – oder eben auch ein leichtes, mit gestimmter Gitarre gespieltes Stück…
4. Der Gottesdienst ist das Kerngeschäft der Kirche.
Das wird sowohl von Pfarrern als auch Musikern oft vergessen. Manche Organisten erzählen mit Begeisterung von ihren Konzertreisen, spricht man sie jedoch auf Gottesdienste an, folgt ein ärgerliches Achselzucken. Meistens bekommt man von den Pastoren die Lieder viel zu spät, hat viel zu viele Dienste in kurzer Zeit vorzubereiten und ist auch nicht gut bezahlt. Da staut sich schnell Frust an. Die Folge ist manchmal die Einstellung „Ach, das üb ich nicht, es ist doch nur für den Gottesdienst, da hört eh keiner hin.“ Das wiederum ist fatal. Denn wer Sonntag für Sonntag irgendwas blattspielend vor sich hinklimpert, dem hört wohl auch mit Recht niemand zu. Wie soll man motiviert sein, ein Konzert eines Organisten zu besuchen, den man Sonntag-morgen betont gelangweilt seinen Dienst im Gottesdienst absitzen hört? „Die Leute merken den Unterschied eh nicht“ ist oft nur eine Ausrede. Andererseits müssen natürlich die Bedingungen so sein, dass man sich vernünftig vorbereiten kann. Wenn man alles immer vom Blatt spielen muss, kann man nur mehr oder weniger gut pfuschen.
5. Ein Kirchenmusiker ist keine „eierlegende Wollmilchsau“.
Die Dienstaufträge mancher Stellen setzen aber genau das voraus. Man soll gleichzeitig Orgel spielen, Chor dirigieren, Posaunenchöre leiten, sich um Blockflöten kümmern, Kinder und Seniorengruppen betreuen, Spen-den anwerben und Fördervereine leiten, Verwaltungstätigkeiten übernehmen, Bands leiten… Zum Vergleich: Ein Gesangstudent legt sich im Lauf des Studiums auf ein Stimmfach fest. Von ihm wird also erwartet, eine bestimmte Anzahl von Rollen singen zu können.
Der Kirchenmusiker aber soll auf der Orgel alle Stile von den Anfängen bis zur Gegenwart beherrschen, als Dirigent vor Chor und Orchester bestehen, sich professionell mit Stimmbildung auskennen und auch auf Cembalo und möglichst noch anderen Instrumenten zu Hause sein. Dazu kommen dann noch die ganzen anderen, eher organisatorischen Tätigkeiten. Wie soll das funktionieren? Ist es ein Wunder, dass man keine Zeit zu Üben hat, dass viele Orchesterprojekte chaotisch verlaufen? Wenn man bei dem Modell des „Allroundmusikers“ bleiben will, müssen die Stellenpläne trotzdem realistisch berechnet sein. Und ein derartiges Maß an Verwaltungsarbeit (oft mehr als die Hälfte der Arbeitszeit) ist eigentlich nicht zumutbar.
6. Kirchenmusik ist – auch – Seelsorge.
Bei allem Anspruch, den man an die Qualität der Musik stellen darf muss uns immer klar sein, dass wir mit unseren Tönen die Menschen erreichen müssen. Das bedeutet nicht, nur möglichst simple Musik zu machen, und schon gar nicht, stimmungsvolles Hintergrund- Gesäusel für diffuse religiöse Ergriffenheit zu produzieren. Und es heißt auch nicht, immer nur „sanft“ und „tröstend“ daherzukommen. Es bedeutet lediglich, dass unsere Töne nicht das Ergebnis virtuoser Tastenbedienung alleine bleiben sollen, sondern zu den Zuhörern sprechen müssen. Es gibt Komponisten, die an sich den Anspruch angelegt haben, mit ihren Werken Dinge über Gott auszusagen. Olivier Messiaen zum Beispiel. Seine Musik ist nun wirklich komplex, aber man muss sie nicht erst bis ins Detail verstehen, um zu merken, dass da einer „spricht“, und zwar nicht über irgendwelchen subjektiven Gefühlskitsch, sondern über religiöse Fragen. Man muss sich nicht immer fragen: „Was wollen die Leute hören? Was kommt gut an?“ Wenn Musik ernsthaft und mit voller Begeisterung gespielt wird, springt der Funke über, ob die Musik kompliziert ist oder nicht. Die komplizierteste und die einfachste Musik, gut gespielt, kann den Menschen, die sie hören, helfen.
7. Musik in der Kirche ist keine Musik des Alltags.
Viele Kirchenleute sind der Ansicht, Menschen in die Kirche locken zu können, indem man alles Sakrale und Feierliche aus dem Gotteshaus verbannt und sie sozusagen den Alltagsumständen gleichmacht. Die Predigt wird mit Jugend-Slang- Wörtern voll gepackt, Liturgie beseitigt und alles immer möglichst „locker“. Kommen dadurch die Teenager? Im Gegenteil. Gerade die, die mit Kirche nichts zu tun haben, finden das peinlich. Sie erwarten, dass da irgendwas anders sein müsste als überall auf der Straße. Es soll hier nichts gegen Bands gesagt werden. Musik von E-Bass, Schlagzeug usw. kann auch in der Kirche wunderbar wirken – sofern sie sich ihrer dortigen Funktion anpasst. Wenn man aber vor einem Rokoko-Altar im kurzen Rock lasziv ins Mikro schluchzt, ist die Situation skurril. Wenn es dann im Text „Oh, I love you“ heißt, ist es umso merkwürdiger, wenn der Adressat Jesus heißt. Man „modernisiert“ auch kein altes Lied, indem man auf 1 und 3 mitklatscht, alle Achtel swingend spielt und große Intervalle durch Pop-Glissandi ausfüllt. Die Musik von Bands in Kirchen hat noch eine Entwicklung vor sich, in der sie zu einer eigenen Kunstform wird – nicht ein „braverer“ und weniger cooler Abklatsch der Musik, die dafür gemacht ist, Fußballstadien zum Kochen zu bringen, und auch nicht eine bloße Umübersetzung von „Baby, I love you“ in „Jesus, oh, here´ s my heart“…
Natürlich fühlen sich Jugendliche von der Sprache des 17. Jahrhunderts nicht sofort angesprochen. Deswegen brauchen wir auch dringend zusätzlich neue (gut gemachte!) Lieder. Aber die alten Lieder von Paul Gerhardt etc. müssen weiter gepflegt werden. Die Bibel wird ja auch nicht einfach durch ein zeitgenössisches Buch restlos ersetzt.
8. Die Entwicklung der Musik ist nicht zu Ende
Wir dürfen uns aber nicht damit zufriedengeben, bis in alle Ewigkeit ausschließlich Schütz, Mozart und Brahms aufzuführen. Seit langer Zeit glauben einige Kirchenmusiker, das wesentliche sei geschrieben, man müsse nun nichts weiter mehr tun als immer wieder die alten Meister aufzuführen. Zwar werden Unmengen an Noten aus allen Epochen neu herausgegeben, für die sogenannte liturgische Praxis steht eine unüberschaubare Zahl leicht spielbarer Literatur für jedermann zur Verfügung. Das ist sehr gut so, und es ist toll, dass wir heute regelmäßig Musik aus allen Epochen hören können. Aber die Kirchenmusik darf nicht zum Abstellgleis werden, auf dem nur noch Altes bewahrt wird und neues ohne den Anspruch auf Weiterentwicklung geschaffen wird. Das, was man „moderne Kirchenmusik“ nennen will, soll nicht dem hinterherhinken, was sonst so geschrieben wird. Man kann eine Mozart-Messe nicht durch ein in 5 Minuten hingeschriebenes Sacro-Pop-Lied ersetzen. Komponisten, schreibt wieder für die Orgel! Und für Chor etc. Wir brauchen Euch.
9. Kirchenmusik ist Kunst.
Kunst braucht Zeit, und Kunst kostet Geld. Das ist so. Vielleicht ist es auch das, was man „Luxus“ nennt, mehrere tausend Euro für die Aufführung des Weihnachtsoratoriums auszugeben, aber wie gut angelegt ist dieses Geld! Das Weihnachtsoratorium von Bach mit wachen Sinnen zu erleben, kann ein Erlebnis werden, dass einen vollkommen verwandelt. Eine kleine Ahnung der Ewigkeit und des vollkommenen Friedens – nein, wir können darauf nicht verzichten. Kämpfen wir darum, dass diese Musik niemals verstummt.
Kirchenmusiker als Beruf mag nur anstreben, wer u. a. sicher ist, dann zu den erfolgreichsten 20% der Absolventen zu zählen!
Wer heute ein Studium aufnimmt, geht günstigenfalls nach über 50 Jahren
in Rente. Bis dahin dürfte durch den zunehmenden Rückgang der
CHRISTLICHEN Bevölkerung und der steigenden Kirchenaustrittszahlen
mindestens 50% der hauptamtlichen KM-Stellen gestrichen/“totgekürzt“
sein.
Außerdem muss man die generell schlechte Bezahlung der KMer
einkalkulieren, weitere kirchentypische Lohnkürzungen oder immer mehr
unbezahlte Überstunden – und einen generellen Wohlstandsrückgang von
>30% (Globale
Bevölkerungsexplosion+Technisierung/Computerisierung)…
Finger weg von Arbeitgebern, bei denen es jahrzehntelang fast garantiert
materiell stark bergab geht inkl. „passendem“ Betriebsklima…!