Das Essayfragment „Über zukünftige Kirchenmusik“

Viel ist dieser Zeit geschrieben worden über Franz Liszt als einen der Jubilare des vergangenen Jahres. Franz Liszt, der geheimnisumwobene Komponist, Virtuose, Schriftsteller oder Geistliche.

Gerade die Darstellung der letzten beiden Facetten sind mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Überlieferte Texte müssen sich zu recht bis heute zum Teil dem Vorwurf stellen, von seiner zweiten Lebensgefährtin, Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein, verfälscht worden zu sein.

Diese bot dem Künstler des Öfteren an, dessen skizzierte Briefe, ganze Passagen seiner literarischen Werke und auch kleinere Artikel auszuformulieren, beziehungsweise auch redaktionelle Überarbeitungen vorzunehmen. Der eigentliche Autor, Liszt, war durch seine Virtuosen- und Komponistentätigkeit so ausgelastet, dass er diese Erleichterung gerne annahm.

Er ließ der Fürstin weitgehend freie Hand, was diese dazu nutzte den Arbeiten ihren eigenen, polemischen Stil aufzuzwingen, ja sogar eigene Gedanken einfließen zu lassen. Da Liszt wegen seines Arbeitspensums und sicherlich auch wegen des carolyne_sayn-wittgenstein02Vertrauens zur Fürstin oder möglicherweise auch aufgrund einer gewissen Gleichgültigkeit die Arbeiten und Überarbeitungen so gut wie nicht kontrollierte, ist es heute kaum noch festzustellen, welche Texte direkt von Liszt stammen und tatsächlich nur sein Gedankengut enthalten und welche von seiner Freundin verändert oder sogar verfälscht wurden.

Dennoch ist es der Mühe wert, sich in Liszts Texte, vor allem in seine Briefwechsel zu vertiefen.

Hier soll ein Fragment im Mittelpunkt stehen, dass auch eine andere, fast mysteriöse Seite von Liszt berührt.

1865 waren Liszt und seine Lebensgefährtin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein am Ende eines langen, aufreibenden Weges angekommen. Die beiden bereiteten in Rom ihre Hochzeit vor. Da die Fürstin bereits in einer Vernunftsehe gebunden war, war es ein Problem die Erlaubnis der katholischen Kirche zu erhalten, zunächst die alte Ehe scheiden zu lassen, um dann eine neue zu schließen.

Um soweit zu kommen, musste im Wesentlichen bewiesen werden, dass die bestehende Ehe nicht im Einverständis der geborenen Baronesse v. Iwanowsky geschlossen worden war. Man hatte einflussreiche Gönner gefunden, die sich im Vatikan für die Eheschließung der Fürstin mit Liszt eingesetzt hatten und so waren die beiden bereit, in Rom miteinander vermählt zu werden.

Durch einen zufälligen Besuch eines Verwandten des Fürsten zu Sayn-Wittgenstein in Rom, der die Würdenträger im Vatikan ob der Freiwilligkeit der ehemaligen Ehe verunsicherte, wurde die Hochzeit im letzten Moment verhindert.1 Dies stellt einen tiefen Einschnitt sowohl im Leben der beiden, als auch in der Beziehung zueinander dar. Die Fürstin zog sich ihrerseits in die erwähnte Abschottung zurück und verbrachte den Rest ihrer Zeit mit dem Verfassen ihres Gesamtwerkes von beachtlichem Ausmaß.

Franz Liszt zog sich nicht direkt zurück, näherte sich jedoch seinem Wunsch, Geistlicher zu werden und ins Kloster zu gehen, den er schon seit seiner frühen Kindheit in sich getragen hatte, immer näher an. Dies wurde vor allem an seiner Inneneinrichtung sichtbar, die nur noch aus verschiedenen Tasteninstrumenten und einem Tisch bestand. Bis dahin hatte Liszt in seinem Hauptwohnsitz immer Erinnerungen und Geschenke von seinen zahlreichen Reisen beherbergt.2

Und tatsächlich vollzog Liszt den Schritt, der ihn schon seit seiner Jugend gereizt hatte. Am 25. April 1865, im Alter von 54 Jahren trat er in den Mönchsstand ein und erhielt wenig später, am 30.Juli die ersten drei niederen Weihen. Diese verpflichteten ihn zum täglichen Hören der Messe und Lesen des Breviers sowie zum Tragen der priesterlichen Tracht. Er nannte sich fortan „Abbé“ was soviel bedeutet wie „Weltgeistlicher“.3 Bis heute wird viel über diesen Schritt, über Liszt OLYMPUS DIGITAL CAMERAtatsächliches Verhältnis zum Glauben und zur Kirche und damit verbunden auch über seine tatsächliche oder eben gespielte Wohltätigkeit debattiert, war doch der Mönchsstand eine unter zahlreichen Würden und Auszeichnungen die Liszt in seinem Leben gesammelt hatte. So war er Träger der Eisernen Krone, die ihn in den Adels- und Ritterstand erhob und führte sogar einen Ehrendoktortitel. Es spricht jedoch vieles dafür, dass es Liszt mit dem Eintritt in den Mönchsstand durchaus ernst war. So machte er von den anderen Titeln niemals Gebrauch, ließ seinen Ehrendoktortitel sogar auf seinen Vetter Dr. Eduard Liszt übertragen.4

Ein Ansatzpunkt, um das Verhältnis des Komponisten zur Kirche zu ergründen sind nach wie vor seine geistlichen Werke. Interessant ist, dass ein Essay überliefert ist, in dem Forderungen bzw. Utopien bezüglich einer neuen Art von Kirchenmusik niedergeschrieben wurden. Es handelt sich um das Fragment „über zukünftige Kirchenmusik“ von 1834 (also noch gut 30 Jahre bevor Liszt die niederen Weihen erhielt), herausgegeben von Lisa Ramann im Band 2 der gesammelten Schriften Franz Liszts. Hier sei übrigens angemerkt, dass dieses Schriftstück von den Veränderungen der Fürstin von Sayn-Wittgenstein wohl nicht betroffen ist, da sich die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannten.

Zwei andere Faktoren sollten bei der Lektüre des Textes jedoch nicht vernachlässigt werden. Zunächst das verhältnismäßig junge Alter des Autors. Liszt war beim Schreiben des Artikels 22 Jahre alt. Verglichen mit den späteren literarischen Werken muss das relativ junge Alter beim Lesen unbedingt berücksichtigt werden. Damit einher geht die Tatsache, dass der Text mehr oder weniger im Affekt geschrieben wurde und in seiner Motivation etwas über die Thematik der Kirchenmusik alleine hinausgeht. Sicherlich steckt in dem Text auch ein Stück Kritik an der Kirche, deren Ursprung wie später erwähnt in dem Kennenlernen des Pater Lamenais zu suchen ist.

Aus diesen beiden Fakten erklärt sich ein durch den Affekt geprägter Schreibstil des Autors, der möglicherweise über die tatsächliche Brisanz des Themas zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung hinwegtäuscht. „Dahin sind die Götter, dahin die Könige, aber Gott bleibt ewig und die Völker entstehen. Verzweifeln wir darum nicht an der Kunst.“ Mit diesem fulminanten Einstieg beginnt der Autor seinen Essay. Der Anlass für das Schriftstück war ein gerade beschlossenes Gesetz, das Musikunterricht in den Schulen vorschrieb.

Liszt nutzte diesen Ansatzpunkt für einen noch größeren Fortschritt, „eine(n) Fortschritt von wunderbarem, massenbezwingendem Einfluss.“5 Es gehe, so der Autor, um eine „Veredelung der Kirchenmusik“, womit der zentrale Punkt der Schrift genannt ist. Liszt formuliert also schon 1834 ein großes Anliegen, welches er lange Jahre mit sich herumtrug und das endgültig in dem ihm vorschwebenden Sinne umzusetzen er nicht mehr die Gelegenheit hatte.

Im Folgenden wird eine vergangene Situation in den Kirchen beschrieben. Es ist davon die Rede, dass die Kirchenmusik sich nur „in ihren geheimnisvollen Kreis zurückzuziehen brauche, um der Pracht der Katholischen Liturgien als Begleiterin zu dienen“.

Hier äußert sich ein Aspekt, der Liszt in seinem Artikel ebenfalls sehr wichtig war: Kritik an der Kirche. Vor dem Verfassen des Artikels hatte sich der Autor lange mit dem humanistischen Pater Lamenais unterhalten und so den Standpunkt entwickelt, dass das Kirchliche strikt vom Göttlichen zu trennen sei. Das Göttliche war für Liszt unantastbar; Er sah die Kirche als etwas vom Menschen Geschaffenes, das in seiner Fehlbarkeit durchaus zu kritisieren war.

Er verstand die Kirche als Vermittlerin des Göttlichen. So lange die Kirche diese Aufgabe noch verantwortungsvoll wahrgenommen hatte, hielt es Liszt nicht für notwendig, dass die kirchliche Musik zu einem höheren Zweck als der liturgischen Begleitung verwendet wurde.6

Dieses sieht der Autor in der damals gegenwärtigen Situation absolut nicht mehr gewährleistet, was ihn zu seiner Kernforderung führt: Die zukünftige Kirchenmusik muss „Volk und Gott als ihre Lebensquelle erkennen“.

Angespornt durch den Humanismus des Pater Lamenais formuliert Liszt hier sein Anliegen, die Musik solle den christlichen Glauben der Menschen aus zwei verschiedenen Richtungen definieren und motivieren.

Zum Einen ist dies ein humanistischer Aspekt: Der Autor strebt eine international verbundene Gemeinschaft an. Liszt war durch sein intensives Reiseleben, welches schon in Kinderjahren seinen Anfang genommen hatte, sicherlich einer der ersten so empfindenden Europäer. Auch später, in der zweiten Hälfte seines Lebens, pendelte er zwischen Rom, Paris und Weimar hin und her.

Es entstand in ihm der Wunsch, es sollte allen Menschen besser gehen, den er in einer vereinten Gemeinschaft näher ans Ziel gebracht sah. Die Formung, Förderung und Prägung dieser Gemeinschaft sieht Liszt als Aufgabe voll und ganz bei der Kirche.

Der andere Teil ist der religiöse Aspekt: Die Kirchenmusik soll zur höheren Ehre Gottes dienen. Die Erneuerung der kirchlichen Musik soll eine Verbindung zwischen den beiden Aspekten darstellen und somit den Menschen (das Volk) mit Gott in Verbindung bringen, ohne den Umweg über die von Liszt angezweifelte Institution Kirche zu gehen.

Wer davon ausgeht, dass diese Äußerungen als Abstraktum im Kopf des jungen Komponisten verblieben, hat diesen weit unterschätzt. Liszt hatte eine genaue Vorstellung von der Musik über die er hier schreibt.

Für die Musik, die er übrigens „aus Ermangelung einer anderen Bezeichnung die humanistische (humanitaire) taufen“ möchte, hat er einige Vorgaben parat. Die Palette reicht hier von weihevoll über feierlich und ernst bis zu feurig und ungezügelt. Interessant ist auch die Forderung, die Musik habe „in kolossalen Verhältnissen“ Theater und Kirche zu vereinen.

Auch wird nach den konkreten Adjektiven sogar ein Beispiel vorgebracht, an dem sich zukünftige kirchliche Musik orientieren könne. Die Macht der Musik wird nämlich laut Liszt durch nichts mehr bewiesen als durch die schönen Freiheitsgesänge namentlich die Marseillaise. Für Liszt hatte die Kirche und somit auch die Kirchenmusik wie er sie sich franz_lisztvorstellte ebenso gesellschaftliche Aufgaben. Die Kirche solle die Gesellschaft vereinen und ihre „geistige Macht“ dazu nutzen, dem Volk zu dienen, es zu einen und zu stärken. So wirft er der Kirche vor, ihr sei schon längst „der Zügel der sozialen Bewegung“ entfallen.

Diese Verbindung eines (nationalen) Selbstbewusstseins und der Kirche liegt sicherlich in Liszts Biographie begründet. Seine Kraft, seinen Halt hatte schon der junge Virtuose Liszt neben der Musik vor allem in der Kirche und dem Glauben. Da er schon sehr früh auf Reisen war, konnte ihm die Familie diesen Rückhalt als Kind und junger Mann nicht bieten.

Durch die ganze Biographie des Komponisten zieht sich das Muster des Zurückziehens in den Glauben, sobald in anderen Bereichen, sei es in der Musik oder aber auch bei privaten Belangen, Probleme entstanden. Ein Beispiel findet sich tatsächlich schon in der frühen Jugend: Es wird berichtet, dass Liszt schon 1827 auf Konzertreise mit seinem Vater die Freude am Konzertieren verloren und den Wunsch geäußert habe, Priester zu werden. Der Wunsch wurde übrigens vom Vater, abgesehen von der Ablehnung desselben, mit einem generellen Verbot quittiert, religiöse Schriften zu lesen.7

In den letzten beiden Abschnitten ergeht sich der Text in Utopien über die Zukunft. Hier spielt vor allem das Volk eine große Rolle, es ist davon die Rede, dass alle Gesellschaftsschichten „zu einem religiösen, großartigen und erhabenen Gemeingefühl“ verschmelzen sollen.


1 Paula Rehberg, Gerhard Nestler: Franz Liszt, Die Geschichte seines Lebens, Schaffens und Wirkens, S.381 f Artemis Verlag Zürich und Stuttgart 1961
2
ebd. S.389
3
ebd. S. 394
4
Paula Rehberg, Gerhard Nestler: Franz Liszt, Die Geschichte seines Lebens, Schaffens und Wirkens, S. 352, Artemis Verlag Zürich und Stuttgart 1961
5
Lina Raman Gesammelte Schriften von Franz Liszt Band 2 „Essays und Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst“; Olms 1978
6
Paula Rehberg, Gerhard Nestler: Franz Liszt, Die Geschichte seines Lebens, Schaffens und Wirkens, S.51, Artemis Verlag Zürich und Stuttgart 1961
7
Paula Rehberg, Gerhard Nestler: Franz Liszt, Die Geschichte seines Lebens, Schaffens und Wirkens, S.26, Artemis Verlag Zürich und Stuttgart 1961