schosAn den Oktober, Zum ersten Mai, Leningrader Symphonie, Das Jahr 1905, Das Jahr 1917 – Zum Gedenken an Lenin und Babi Yar heißen die mit einem Titel versehenen Symphonien von D. Schostakowitsch. Abgesehen von Babi Yar sind alle diese Titel bestens für sowjetische Propaganda geeignet. Die Brisanz der Überschriften seiner Werke kann man bereits bei seinem ersten komponierten Stück erkennen. Als Elfjähriger  schrieb er unter dem Eindruck der Oktoberrevolution 1917 das Stück Trauermarsch zum Gedächtnis der Revolutionsopfer.

Mit diesem Werk werden dem jungen Komponisten gern bolschewistische Tendenzen zugeschrieben. Laut einem Brief seiner Tante Nadeschda Kokoulina nannte er den Marsch jedoch Trauermarsch zum Gedenken an Schingarjow und Kokoschkin, was eine demokratische Haltung impliziert.1 Diese politische Ausrichtung entspricht eher der liberalen Einstellung seiner Familie.

Bevor ich auf die einzelnen Symphonien eingehe, möchte ich auf eine russische Besonderheit hinweisen. In Russlands Tradition gibt es das Phänomen des jurodiwyj, des Gottesnarren. Ihm war es gestattet den Zaren öffentlich zu kritisieren. In einer paradoxen, zweideutigen, ironischen und verschlüsselten Sprache mahnte er vor Ungerechtigkeiten und unmoralischem Verhalten. Genau wie Mussorgski wurde Schostakowitsch von seinen Freunden als jurodiwyj bezeichnet. Beide verwendeten zum Beispiel die für die jurodiwyj typische abgehackte und knappe Sprechweise. Auffällig ist auch, dass Stalin bei Schostakowitsch nie bis zum Äußerstem ging.2 Er spielte in den entscheidenden Momenten den „gnadenvollen Zaren“.3

An den Oktober (zweite Symphonie) und Zum ersten Mai (dritte Symphonie) sind Auftragswerke vom Staat. Schostakowitsch sah sich gezwungen diese Orchesterwerke mit Chor zu schreiben, denn seine Familie war u.a. nach dem Tod des Vaters in Geldnot. Offensichtlich war die Arbeit an den Stücken für ihn eine Zerreissprobe. Über den Text der zweiten Symphonie schrieb er:

„Ich habe Besymenskis Verse erhalten. Sie regen mich furchtbar auf.“4

„Die Komposition des Chors bereitet mir große Schwierigkeiten. Der Text!!!“5

Interessanterweise sind beide Stücke formal so aufgebaut, dass man jeweils den Chor am Schluss aussparen könnte. Später sagte er, dass von seinen fünfzehn Symphonien „zwei ganz und gar unbefriedigend sind – das sind die Zweite und Dritte Symphonie“.6

Einen weiteren Aspekt gibt eine Episode zu seinem Oratorium Lied von den Wäldern, ein weiteres Propagandawerk, bei der ein Freund Schostakowitsch vorschlägt Stalin durch die niederländische Königin Wilhelmina zu ersetzen, worauf Schostakowitsch antwortet: „Ach wunderbar wäre das! Die Musik kann ich verantworten, aber dieser Text…?!“7

An dieser Stelle sei erwähnt, dass Schostakowitsch sehr viel Filmmusik geschrieben hat. Es war sein großes Glück, für diese Arbeit von Stalin ausgewählt worden zu sein. „Er [Stalin] entschied: Schostakowitsch kann Filmmusik schreiben. (…) In Anbetracht der Umstände wäre es schlicht verrückt gewesen, Aufträge für Filmmusiken abzulehnen.“8

Das bedeutete nicht nur einen sicheren Broterwerb für Schostakowitsch, es war auch eine Art Lebensversicherung für ihn, wenngleich er diese Filme als „scheußliche Machwerke“9 bezeichnet.

„Über die Siebte und die Achte habe ich mehr dummes Zeug zu hören bekommen als über meine übrigen Arbeiten. [ … ] Alles, was über die Symphonien in den ersten Tagen geschrieben worden ist, wird unverändert bis zum heutigen Tage wiederholt. Dabei gab es doch genügend Zeit zum Nachdenken.“10

Schostakowitsch meint die Fehlinterpretation u.a. seiner Leningrader Symphonie, der siebten Symphonie. Diese schrieb er während der Belagerung der Stadt Leningrad durch die Deutschen während des zweiten Weltkrieges. Sie wurde sowohl in Russland als auch im Ausland u.a. als Ausdruck der Verteidigungskraft der Russen interpretiert. Schostakowitsch komponierte seine Werke über lange Zeit im Kopf und schrieb sie dann sehr schnell auf.

„Mit Gedanken an die Siebte beschäftigte ich mich schon vor dem Krieg. Sie war daher nicht das bloße Echo auf Hitlers Überfall. Das Thema Invasion hat nichts zu tun mit dem Angriff der Faschisten. Ich dachte an ganz andere Feinde der Menschheit, während ich dieses Thema komponierte. Natürlich ist mir Faschismus verhasst. Aber nicht nur der deutsche, sondern jeder Faschismus. Man betrachtet die Vorkriegszeit heute gern als Idylle. Alles war schön und gut, bis Hitler kam. Hitler war ein Verbrecher, nicht zu bezweifeln.

Aber auch Stalin war ein Verbrecher. Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Befehl Ermordeten. Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Es gab sie unserem Lande schon zu Millionen, ehe der Krieg gegen Hitler begonnen hatte. Der Krieg gegen Hitler brachte viel neues Leid, neue Zerstörungen.

Aber darüber habe ich die Vorkriegsjahre nicht vergessen. Davon zeugen alle meine Symphonien, angefangen mit der Vierten. Die Siebte und die Achte gehören auch dazu. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass man die Siebte die Leningrader Symphonie nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade. Es geht um Leningrad, das Stalin zugrunde gerichtet hat. Hitler setzte nur den Schlusspunkt.“11

Schostakowitsch betrachtet seine siebte und achte Symphonie als ein Requiem für die Opfer des russischen Volkes. Die deutlichen Bezüge zur Zeitgeschichte und damit seine kritische Haltung tritt gerade bei Schostakowitschs elfter Symphonie hervor. „Mir scheint, dass sich in der russischen Geschichte vieles wiederholt. […] Diese Wiederholbarkeit wollte ich in der Elften Symphonie zeigen. Ich komponierte sie 1957. Und sie bezieht sich auf die Gegenwart von 1957, obwohl ich sie Das Jahr 1905 genannt habe. Sie handelt vom Volk, das den Glauben verloren hat, weil der Kelch der Missetaten übergelaufen war.“12

Gemeint ist u.a. der Ungarische Volksaufstand von 1956. Oberflächlich betrachtet erzählt die Symphonie die Vorfälle vom Blutsonntag am neunten Januar 1905, als Soldaten friedliche Demonstranten erschossen. Zunächst aber hieß die elfte Symphonie Das Jahr 1906, also das Geburtsjahr von Schostakowitsch. Das deutet darauf hin, dass die Symphonie auch einen autobiographischen Hintergrund haben könnte und sein erlebtes Leid und das Leid seiner Generation behandelt. Dies beobachtete schon ein Freund Schostakowitschs. Lew Lebendinski beschrieb in der streng zensierten sowjetischen Presse die Symphonie als „Tragödie eines versklavten Volkes“.13

Während man mit der neunten Symphonie ein Loblied auf Stalin erwartete, antwortete Schostakowitsch mit einer kurzen Neunten ohne Chor, ohne Solist, aber voller Ironie. Im Scherzo seiner Zehnten komponierte er dann tatsächlich ein grausames Portrait von Stalin, der Höreindruck ist überwältigend. Schostakowitsch betrachtete es selbst als gelungen. Das Scherzo ist natürlich nicht als Apotheose auf Stalin zu verstehen.

Ähnlich verhält es sich mit seiner zwölften Symphonie, in der er sich mit einem Abbild von Lenin versuchte: „Ich muss schon sagen, es war eine schwere Arbeit, den Wohltäter der Menschheit symphonisch darzustellen, ihn mit musikalischen Mitteln zu bewerten. (…) So betrachtet, ist meine Zwölfte nicht voll gelungen. Ich hatte mir eine bestimmte schöpferische Aufgabe gestellt – ein Portrait Lenins – und endete mit einem völlig anderen Ergebnis. Ich hatte meine Ideen nicht realisieren können. Das Material widersetzte sich. Es ist wirklich sehr schwer, mit den Mitteln der Musik das Bild des Führers und Lehrers nachzuzeichnen.“14

So kann man davon ausgehen, dass die Symphonie Das Jahr 1917 – zum Gedenken an Lenin auch keine Apotheose oder dergleichen darstellt, gar wenn er in seinen Memoiren schriebt:

„Nie habe ich versucht mit meiner Musik den Mächtigen zu schmeicheln. Niemals habe ich getändelt. Nie war ich ihr Liebling.“15

Die Gleichzeitigkeit seiner zwölften Symphonie mit seinem (erzwungenem) Eintritt in die Partei wurde in der Musikwissenschaft gerne grundlos herausgehoben.16

jewtuschenkoAbschließend möchte ich auf seine dreizehnte Symphonie mit dem Titel Babi Yar eingehen. Diese Symphonie kann nicht als sowjetische Propaganda missverstanden werden; Sie wurde nach dem gleichnamigen Gedicht von Jewtuschenko komponiert. Dieses handelt von der Ermordung von 50000 Juden in der Schlucht von Babi Yar nahe Kiew durch die Deutschen im Jahr 1941. Das Gedicht ist eine Mahnung vor dem Antisemitismus.

„Es wäre gut, wenn russische Juden endlich unbehelligt und glücklich in Russland, wo sie geboren sind, leben könnten. Unablässig muss man auf die Gefahren des Antisemitismus aufmerksam machen. Der Bazillus ist noch allzu lebenskräftig. Niemand weiß, ob er je absterben wird.“17

Von Sebastian Vötterl


1 Andrej Shingarjow und Fjodor Koschkin waren Anhänger der zentristischen Konstitutionell-Demokratischen Partei, die 1918 von Rotarmisten umgebracht wurden.

2 Wenn Stalin mit der Arbeit eines Kunstschaffenden unzufrieden war konnte dies Lebensgefährlich sein. Vgl.: Volkov, Solomon (Hrsg.): Die Memoiren des D. Schostakowitsch. Hamburg, 1979, S. 144

3 Wolkow, Solomon: Stalin und Schostakowitsch. Berlin, 2004, S.205

4 Ebd. S. 105

5 Ebd. S.107

6 Ebd. S. 213

7 Ebd S. 364

8 Volkov, Solomon (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch. Hamburg, 1979, S.169

9 Ebd. S.169

10 Ebd. S. 174

11 Ebd. S. 175

12 Ebd. S. 42

13 Wolkow, Solomon: Stalin und Schostakowitsch. Berlin, 2004, S. 73

14 Wolkow, Solomon (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch. Hamburg, 1979, S.162

15 Ebd. S. 119

16 Als man ihn zwang, den Vorsitz des Russischen Komponistenverbands zu übernehmen musste Schostakowitsch der Partei beitreten. Bei der Sitzung zur Aufnahme in die Partei wähnte man den Auftritt des Gottesnarren. Als Schostakowitsch plötzlich seine Stimme erhob und rief: „Für alles Gute an mir bin ich …“ (man erwartete die obligatorische Formel „der geliebten Kommunistischen Partei und der sowjetischen Regierung“) „… meinen Eltern verpflichtet!“ Vgl.: Volkov, Solomon (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch. Hamburg, 1979, S. 33

17 Volkov, Solomon (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch. Hamburg, 1979, S.178