„Was ermöglicht dem Musikwerke zu existieren, was verbürgt ihm seine Dieselbigkeit, wenn es gerade weder ausgeführt noch gehört wird? Was erlaubt ihm, sich als dasselbe in verschiedenen Ausführungen zu zeigen?“ (Zitat Roman Ingarden, Polnischer Philosoph, Vater der Rezeptions-Ästhetik)
Im Gegensatz zu den Werken der Literatur und der bildenden Kunst ist bei Musikwerken eine klingende Vermittlung der jeweiligen Notenschrift oder Partitur durch reproduzierende Künstler zwingend. Diese Vermittlung wird Performance (englisch), Execution (französisch), auf Deutsch aber interessanterweise Interpretation genannt.
Das Wort Interpretation ist vieldeutig:
„Sprache interpretieren heisst Sprache verstehen. Musik interpretieren heisst Musikmachen“ (Theodor W. Adorno)
Im Zusammenhang mit dem Musik-Machen stellt sich nun die Frage, was genau man unter Interpretation versteht, und welche Rolle dem Interpreten einer Notenschrift zukommt. Die Frage, ob er nur ein passiv ausführender Vermittler der Vorstellungen und Absichten eines Komponisten, oder vielleicht sogar der Vollender des musikalischen Werkes ist.
Diese Frage wurde und wird unterschiedlich beantwortet. Bis 1800 war die Bezeichnung Interpretation im deutschen Sprachbereich nicht üblich. Im Zusammenhang mit der damaligen zeitgenössischen Musik (und die kam im Gegensatz zu heute hauptsächlich zur Aufführung) verwendete man die Bezeichnung Vortrag. Bei den Uraufführungen war der Komponist in der Regel anwesend und bestimmend. Das Publikum interessierte sich primär für den Komponisten und das Werk, die reproduzierenden Musiker waren nur Ausführende.
Das änderte sich erst im 19. Jahrhundert. Charismatische Musiker-Persönlichkeiten wie Franz Liszt, Clara Schumann und Niccolò Paganini waren nicht mehr nur Vortragende, sondern eigenwillige Interpreten. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Man geht ins Konzert, wenn die Berliner oder Wiener Philharmoniker spielen und Thielemann oder Simon Rattle dirigieren. Die Namen der Dirigenten und Solisten stehen in größerer Schrift auf den Konzertplakaten, den LP- und CD-Hüllen als die Namen der Komponisten.
Die heutigen Star-Interpreten sind also mit Sicherheit keine willenlosen, vortragenden Vermittler mehr. Sind sie aber Vollender musikalischer Werke?
Interessanterweise ist die Musikwissenschaft nicht in der Lage, Antworten auf diese Frage zu geben. Die Musikwissenschaft will Musik verstehen und erklären, sie will nicht Musik machen. Deshalb steht für sie die klingende Interpretation eines Werkes nicht im Vordergrund der Forschung. Analysiert wird der Notentext und nicht das klingende Ergebnis einer Aufführung. Es gibt zwar auch eine musikwissenschaftliche Disziplin, die sich Interpretationsforschung nennt. Sie beschäftigt sich aber vorwiegend mit dem, was sich aus der Partitur im Hinblick auf eine klingende Interpretation herauslesen lässt. Dabei ist das Ergebnis dieser Forschung für die interpretierenden Musiker oft nicht sehr hilfreich.
Die Beurteilung der klingenden Interpretation hat die Musikwissenschaft den Musikkritikern überlassen. Weitgehend, aber doch nicht ganz, denn der bedeutende Musikwissenschaftler Hugo Riemann (1849-1919) zum Beispiel stellte fest, dass sein Verständnis für die Klaviersonaten von Beethoven durch die Interpretationen des Pianisten Hans von Bülow geprägt wurde. 1883 bezeichnete er sich sogar als „Schüler Bülows“. Erst ab dem Jahre 1900 richtete er sein Interesse erklärtermaßen nur auf das Werk ohne Berücksichtigung der jeweiligen praktischen Aufführung.
Nun gibt es zum Glück nicht nur die Musikwissenschaft und die Musikkritiker, sondern auch noch die eigentlichen Musikmacher, die Komponisten und Interpreten, die sich notgedrungen mit der Art und dem Stellenwert der Interpretation von Notenschriften auseinandersetzen müssen.
Die folgenden Zitate zeigen die Spannweite der Meinungen und Ansichten von Komponisten, Dirigenten und Interpreten.
„Obschon ich bemüht war, durch genaue Anzeichnungen meine Intentionen zu verdeutlichen, so verhehle ich doch nicht, dass Manches, ja sogar das Wesentlichste, sich nicht zu Papier bringen läßt, und nur durch das künstlerische Vermögen, durch sympathisch schwungvolles Reproduzieren, sowohl des Dirigenten als der Aufführenden, zur durchgreifenden Wirkung gelangen kann. Dem Wohlwollen meiner Kunstgenossen sei es daher überlassen, das Meiste und Vorzüglichste an meinen Werken zu vollbringen.“ (Franz Liszt 1856 in der Vorrede zur Symphonischen Dichtung Ce qu’on entend sur la montagne).
„Neu, vollständig neu war die zum Grundsatz gewordene Anschauung, man könne mit dem Werk machen, was man wolle, ja man müsse was anderes draus machen, wenn man wer wäre – was sich ja auch in der hier sattsam behandelten, unsinnigen Beziehung des Wortes schöpferisch auf das Wiedergeben ausdrückte, als wäre das Werk noch gar nicht da. Wenn bislang immerhin noch dem Ausübenden die Frage natürlich war: wie werde ich dem Werk gerecht, so lautet die des schöpferischen Wiedergebenden von heute: was mache ich, dass das Werk ganz verschwindet und nur ich übrig bleibe.“ (H. Pfitzner 1929, zitiert nach Hermann Danuser, Musikwissenschaftler)
„Der Begriff Interpretation umschließt die Grenzen, die dem Ausführenden auferlegt sind oder die er sich selbst bei seiner Ausübung auferlegt, um die Musik dem Hörer zu vermitteln.“ (Zitat Igor Strawinsky)
„Ich habe dem Wort interpretieren immer das Wort übermitteln vorgezogen, das mir besser auszusprechen scheint, was denen aufgetragen ist, die Licht auf ein Musikwerk werfen sollen“ (Zitat Dietrich Fischer-Dieskau, Sänger)
„Die Interpretation ist in den richtig gelesenen Noten bereits vorhanden und es bedarf nicht einer Auslegung, sondern höchstens einer Ausführung, die das Werk nicht etwa neu belebt, sondern das ihm innewohnende Leben erschließt.“ (sinngemäßes Zitat Hans Swarowsky, Dirigent)
„Wagners immer wiederkehrende Bemerkung nicht pathetisch zeigt deutlich, dass sich unter dem Einfluss der Dirigenten wie Furtwängler und Toscanini ein Wagner-Bild herausgebildet hat, welches den Vorstellungen des Komponisten vollständig entgegensteht.“ (sinngemäßes Zitat Hartmut Haenlein, Dirigent)
„Ich war immer der Meinung, der wirkliche Musikwissenschaftler ist der Musiker. Jedes Wissen über Musik ist das notwendige Rüstzeug des Musikers. Wenn ich ein Stück in E-Dur spiele, dann will ich wissen, warum es nicht in F-Dur steht. Wenn einer nur weiß und nicht empfindet, kann er nicht Musiker sein. Wenn einer nur empfindet und nichts weiß, kann er schon Musiker sein. Er macht jeden Triller falsch, und es geht trotzdem unter die Haut“ (Nikolaus Harnoncourt anlässlich der Verleihung des Siemens-Preises im Berliner Tagesspiegel)
Soviel zur Meinungsvielfalt betreffend die Art, den Stellenwert und die „Richtigkeit“ von musikalischen Interpretationen. Heute stellt sich aber zusätzlich die Frage, ob und wie die Interpretation beeinflusst wird von der Möglichkeit, Musik aufzunehmen und auf Tonträgern festzuhalten. Eine Interpretation ist nun nicht mehr nur eine Sache des Aufführungs-Augenblicks, sondern sie bekommt so etwas wie eine „ewige“ Gültigkeit. Die Aufnahme macht ein einmaliges musikalisches Ereignis wiederholbar und damit „zeitlos“. Die Aufnahme wird zum Werk.
Diese völlig neue Situation berührt das Wesen der Musik.
Der amerikanische Komponist Aaron Copland zum Beispiel begründete seine Ablehnung von Musikaufnahmen folgendermassen:
„For me, the most important thing is the element of chance that is built into a live performance. The very great drawback of recorded sound is the fact that it is always the same. No matter how wonderful a recording is, I know that I couldn’t live with it – even of my own music – with the same nuances forever.“1
Eine völlig andere Ansicht wurde vom Dirigenten Leopold Stokowski vertreten:
„Certainly I conduct a performance for a recording differently than I would for a live performance. In a recording what we are really striving for is to express the physical and emotional nature of the music in terms that will both be eloquent and convey the composers ideas in the average living room.“2
Der Stellenwert, den das mediale Musikleben heute hat, zeigt, dass die Bedenken von Aaron Copland von der Mehrheit der Musiker und Konsumenten nicht geteilt wird. Musiker, Aufnahmeleiter und Tonmeister sind aber trotzdem bei jeder Aufnahme mit dem Problem von Coplands the same nuances forever konfrontiert:
Eine Nuance, die bei einer Konzertaufführung unter Umständen positive Wirkungen auf das Publikum hat, kann bei mehrmaliger Wiederholung zunehmend als unangenehm, störend, oder vielleicht sogar als ekelhaft empfunden werden. Alle beteiligten Musiker müssen sich deshalb gemeinsam um eine Interpretation bemühen, die dem Einwand von Aaron Copland Rechnung trägt.
1 Anm.d.Red.: „Für mich ist das Wichtigste in einer Live-Performance das Element des Zufalls. Der sehr große Nachteil von aufgenommenem Klang ist die Tatsache, dass er immer gleich ist. Egal, wie wundervoll die Aufnahme ist, ich weiß, dass ich nicht mit ihr leben könnte – auch bei meiner eigenen Musik – für immer mit den selben Nuancen.“
2 Anm.d.Red.: „Natürlich dirigiere ich bei einer Aufnahme anders, als ich es bei einer Live-Aufführung tun würde. Was wir bei einer Aufnahme wirklich anstreben, ist es, die physische und emotionale Natur der Musik in einer Sprache auszudrücken, die einerseits beredt ist und andererseits die Idee des Komponisten in ein durchschnittliches Wohnzimmer zu transportieren vermag.“
No Comment