Angesichts der Aufführung des Weihnachtsoratoriums aller Orten in der vergangenen Zeit lohnt ein Blick auf die Aufführungsbedingungen der Werke Johann Sebastian Bachs zu ihrer Entstehungszeit.

Im Folgenden soll auf Besetzungsfragen sowie auf die akustische Situation in den Wirkungsstätten Bachs, speziell der Thomaskirche in Leipzig, eingegangen werden.

Neben der in der historischen Aufführungspraxis viel diskutierten Frage zur Verwendung von historischen Instrumenten und Saiten etc. spielt der Aufführungsraum eine wesentliche Rolle – nicht nur bei der Wiedergabe der Werke, sondern vermutlich bereits bei der Kompositionsweise und Entstehung derselben.

„Zu iedweden musicalischen Chor gehören wenigstens 3 Sopranisten, 3 Altisten, 3 Tenoristen, und eben so viele Baßisten, damit, so etwa einer unpaß wird (wie denn sehr offte geschieht, und besonders bey itziger Jahres Zeit, da die recepte, so von thomaskirchedem Schul Medico in die Apothecke verschrieben werden, es ausweisen müßen) wenigstens eine 2 Chörigte Motette gesungen werden kan. (NB. Wiewohln es noch beßer, wenn der Coetus so beschaffen wäre, dass mann zu ieder Stimme 4 subjecta nehmen, und also ieden Chor mit 16. Persohnen bestellen könte.)“

So schreibt Bach 1730 in einem viel zitierten Brief während eines Konflikts an den Leipziger Rat. Als Thomaskantor hatte er eine Vielzahl an Aufgaben zu erfüllen, zu denen neben der musikalischen Betreuung der Gottesdienste in mehreren Kirchen auch zahlreicher Unterricht, Musik für Feierlichkeiten etc. gehörte; diesen Aufgaben kam er angeblich nicht ausreichend nach.

Aus dem Brief geht hervor, dass die Aufführungsbedingungen seiner Ansicht nach zu wünschen übrig ließen und seine Pflichterfüllung erschwerten.Er liefert auch wertvolle Hinweise z.B. hinsichtlich der wünschenswerten Besetzungsstärken. Es folgt weiter:

“Die Instrumental Music bestehet aus folgenden Stimmen; als:

– 2 auch wohl 3 zur Violino 1.
– 2 biß 3 zur Violino 2.
– 2 zur Viola 1.
– 2 zur Viola 2.
– 2 zum Violoncello.
– 1 zum Violon.
– 2 auch wohl nach Beschaffenheit 3 zu denen Hautbois.
– 1 auch 2 zum Basson.
– 3 zu denen Trompeten.
– 1 zu denen Paucken.

summa. 18. Persohnen wenigstens zur Instrumental-Music. NB. füget sichs, dass das Kirchenstück auch mit Flöten, (sie seynd nun à bec oder Traversieri), componiret ist (wie denn sehr offt zur Abwechselung geschiehet) sind wenigstens auch 2 Persohnen darzu nötig. Thun zusammen 20 Instrumentisten. (…) Machet demnach der numerus, so Musicam verstehen müßen, 36 Personen aus (…)”

Im Vergleich zu den Besetzungszahlen der heutigen Symphonieorchester und Oratorienchöre ist das sehr wenig. Die Anzahl der Sänger liegt bei Bach noch unter der Anzahl der Instrumentalisten (Verhältnis ca. 2:3). Man bedenke: 2-3 erste Geigen entsprechen lediglich 1-2 Pulten.

Obiges Zitat legt nahe, dass die Chorstimmen zumindest für die “allsonntäglichen Kantaten” solistisch besetzt gewesen sein könnten (so vertreten u.a. vom Musikwissenschaftler Joshua Rifkin). Auch der Optimalfall von insgesamt 16 Sängern pro Chor (vier pro Stimme) scheint heute geradezu bescheiden, war aber wohl das, was Bach eben zur Verfügung hatte.

kirchenakustikIm Laufe der Romantik und sich ändernder Gegebenheiten und Ansprüche (raumakustisch, kompositorisch) wurden die Chöre größer und das Verhältnis Orchester/Chor kehrte sich um; bis zu den ersten Ansätzen der historischen Aufführungspraxis (und auch heute noch) wurde dann mit großen Besetzungen auch Bach gespielt, was selbstverständlich ein anderes klangliches Ergebnis zur Folge hat.

Zusammenhang von Besetzung und Raum

Die Besetzung nun unabhängig vom Aufführungsraum auf oben genanntes Maß zu reduzieren sollte sicher nicht pauschal passieren, denn der Raum in dem ein Werk aufgeführt wird und dessen Akustik haben einen wesentlichen Einfluss auf das klangliche Ergebnis und die nötige Besetzungsstärke.

Unabhängig davon, dass es wohl keinesfalls Bachs Wunsch war, mit so wenigen Musikern auszukommen, sind diese Betrachtungen aber allemal interessant und notwendig; Konsequenzen müssen dann im Einzelfall unter Berücksichtigung heutiger Bedingungen gezogen werden.

Für die Grundlagen zur Raumakustik sei auf einen vorangegangen Artikel verwiesen.1 Besonders interessant ist die Betrachtung der Kirchen im Fall von J.S. Bach. Bach arbeitete den Großteil seiner Schaffenszeit (1723-1750) in Leipzig, wo vier Kirchen zu betreuen waren, wobei vor allem St. Thomae (Thomaskirche), auch St. Nikolai (Nikolaikirche) die wesentlichen Spielorte waren.

Die Oster-Passion beispielsweise musste jährlich zwischen beiden Kirchen wechseln. Im Jahr 1724, zur Uraufführung der Johannespassion, wäre St. Nicolai an der Reihe gewesen. Bach versuchte vorher “unter der Hand” wegen der besseren Orgel und mehr Platz auf der Empore dafür in die Thomaskirche zu kommen, was bei seinem Vorgesetzten aufflog.

In jedem Fall wurde also der Großteil der heute populären Werke, darunter beide Passionen, Oratorien (auch das Weihnachtsoratorium) sowie mehrere Kantatenjahrgänge für die Aufführung in einer der beiden Kirchen komponiert, hauptsächlich der Thomaskirche (Abb. 1 und 2), weshalb ein Vergleich folgender Punkte mit anderen Kirchen und Konzertsälen nahe liegt.

Nachhallzeit, Volumen und Innenaustattung

Unter der Nachhallzeit versteht man die Dauer, nach der der Schall in einem Raum verklungen ist (beispielsweise nach einem einzelnen Klatschen).2

Je größer der Raum, also je größer das Volumen, desto länger dauert dies. Große Räume sind also grundsätzlich “halliger”. Bei Kirchen gibt es eine große Bandbreite von wenigen tausend Kubikmetern bis zu mehreren hunderttausend Kubikmetern, z.B. Kölner Dom, (Nachhallzeiten 2-8 Sekunden); Konzertsäle wie der Musikverein in Wien liegen bei 15.000-25.000 Kubikmetern (Nachhallzeiten um die 2 Sekunden).

Die Innenaustattung, also die Oberflächen von Boden, Wänden sowie Einbauten (Altäre, Emporen) beeinflussen die Nachhallzeit ebenfalls: Glatte Steinflächen schlucken/absorbieren wenig Schall, Teppiche und Holzeinbauten nehmen Schall auf. Auch das Publikum absorbiert vor allem hohe Töne, dies spielt bei kleinen und mittleren Hallen/Kirchen eine große Rolle.

kirchenakustik2Die Thomaskirche ist nun ein sehr interessanter Fall, da die Nachhallzeit mit Publikum mit 1,6 – 1,7 s vergleichsweise sehr niedrig wird, es ist dies ein typischer Bereich für einen Kammermusiksaal (!). Die Kirche ist mit 18.000 Kubikmetern überschaubar groß, im typischen Konzertsaalbereich; im voll besetzten Zustand (sh. Abb. 3)geht viel Schall im Publikum und Ensemble verloren, welche zusammen fast den kompletten Boden und die Emporen abdecken.

Dadurch ist die Möglichkeit für eine vielschichtige, transparentpolyphoneKompositionsweise gegeben, die sonst im “Klangbrei” des Nachhalls vermischt und untergehen würde. Die weniger hallige Akustik ermöglicht auch ein höheres musikalisches Tempo, und zwar, wie Harnoncourt unterscheidet, das Tempo vor allem der Harmoniewechsel und nicht der Einzelnoten.3

Den Vergleich zieht er hier zwischen Bach (schnelle Harmoniewechsel) und beispielsweise Vivaldi (hohe Tempi mit vielen Noten, aber langsame Wechsel). Die italienischen Komponisten hätten durchaus in halligen Kirchen hohe Tempi mit vielen Einzelnoten gespielt; die Harmoniefortschreitung gehen jedoch langsamer vonstatten und bleiben damit erkennbar.

Eine weitere Besonderheit im Vergleich zu gotischen Kirchen oder Konzertsälen ist ein Abfall der Nachhallzeit im Bereich der tiefen Töne (in Abb. 2 am linken Rand), bedingt durch Holzeinbauten wie Empore und Gestühl. Dies bedeutet zwar weniger Gewicht und Sonorität für tiefe Töne z.B. der Orgel, aber auch mehr Schnelligkeit und Transparenz beispielsweise für die Pauke und den Basso Continuo.

Besetzung/Aufstellung Musiker und Verteilung des Publikums

Die weiter oben genannte Vergrößerung von Orchester und Chor hängt neben finanziellen und kompositorischen Gründen auch von dem zu “füllenden” Aufführungsraum ab. Mit wachsendem Publikum wurden die Räume größer. Je größer ein Raum, desto mehr Schallleistung muss man für den gleichen Lautstärkeeindruck einbringen (vgl. Glühlampe im Zimmer und Flutlicht im Stadion).

In der Thomaskirche war Bach vor allem durch die finanziellen Gegebenheiten limitiert. Vermutlich bekam er für die größeren Werk-Uraufführungen und Feiertage mehr Musiker als im genannten Brief aufgelistet, allerdings ist auch zu bedenken, dass die Musik meist nur Teil und Untermalung des Gottesdienstes waren.

Auch deswegen waren die Musiker wohl nie in heutiger “Konzertaufstellung” vor dem Altar zu finden, sondern in der Regel hinten auf der West-Empore (bei mehrchörigen Werken auch auf die Emporen verteilt).

Diese erhöhte Position ist wesentlich günstiger für die Lautstärke- und Klangverteilung im Raum, außerdem blockiert das Publikum so die Schallausbreitung weniger.

Die typische Anordnung Orchester vorne, Chor dahinter war damals nicht Standard (wohl allein schon aufgrund der Unterzahl der Sänger), Chorstimmen waren oft links und rechts des Orchesters platziert.4In Wien war es sogar üblich, den Oratorienchor vor dem Orchester zu platzieren, welches erhöht dahinter saß.5 Auch das Publikum sitzt – typisch für eine protestantische Kirche dieser Zeit – nicht zum Altar gerichtet, sondern teils seitlich zur Kanzel hin und hört die Musik damit von seitlich oben, nicht von hinten (siehe Abb. 3)

Bewertung

Was soll man nun daraus für das heutige Musikleben mitnehmen? Ein eigener Besuch in Leipzig für ein Motettenkonzert (allerdings in Konzertaufstellung vorne, nicht auf der Empore!) war ein sehr interessantes Erlebnis, vom klanglichen Ergebnis her aber nicht unbedingt bahnbrechend – womit man bei der Kontroverse von Authentizität und Resultat angelangt. Während die Wahl von Instrumenten und Besetzung relativ leicht beeinflussbar ist, erklärt es sich von selbst, dass man die jeweiligen Werke nicht immer nur am Uraufführungsort spielen kann und sollte.

Einige praktische Hinweise, sofern umsetzbar, ergeben sich aber doch:

Unter Umständen kommt einiges von Bachs feinstrukturierter Musik in einem kleineren/mittleren Konzertsaal besser durch als in einer zu halligen Kirche. Dies trifft besonders bei dem “worst-case” Szenario zu: In einer Kirche mit vielen glatten Steinoberflächen klingt es zu hallig und hart, ab der 10. Reihe versteht man die Sänger nicht mehr und kann den Linien kaum folgen. Hier müsste man um der Musik und des Publikums willen etwas mehr Fingerspitzengefühl zeigen und falls möglich einen geeigneten Raum aussuchen.

Außerdem sollte bei der Konzertaufstellung in der Kirche z.B. über Podeste dafür gesorgt werden, dass auch zu den hinteren Zuhörern ausreichend direkter Schall kommt. Die Empore liefert hier Vorteile hinsichtlich der Schallausbreitung, weil mehr Zuhörer näher an der Musik sind und diese den Raum leichter füllt. Sofern es in den Rahmen passt, kann ein Konzert auch von der Empore gespielt werden.

Einzelne Instrumentalisten wie die hohen Streicher oder Instrumentalsolisten (z.B. Holzbläser) könnten im Stehen spielen, bei chorischen Werken darf beliebig mit der Platzierung experimentiert werden – Effekte waren nicht nur in der Oper, sondern auch in der Kirche wichtig! Während zu klein besetzte Ensembles lautstärketechnisch etwas problematisch für eine Konzertsituation mit großem Publikum sind, ist dies für Aufnahmen dagegen ohne Probleme kompensierbar.

Authentizität bei oben genannten Punkten liefert zwar interessante Klangergebnisse, aber nicht unbedingt das bessere oder schönere Ergebnis. Zu wesentlich änderte und ändert sich der musikalische Geschmack, die Erwartungshaltung des Publikums und andere Gegebenheiten seit dieser Zeit.

Der Unterschied zwischen dem “Genussmittel Musik”, welches täglich nach Feierabend in dafür gebauten Häusern vorne auf der Bühne gespielt wird, und dem “göttlichen Beiwerk”, das für den Gottesdienst speziell an Festtagen in der Kirche von oben (“Himmel”) erschallte sowie sämtliche uns bekannten Entwicklungen in den 250 Jahren seither beschränken diese authentische Erfahrung naturgemäß.

Die manuelle Anpassung einer zu halligen Kirchenakustik war interessanterweise bereits im Mittelalter üblich: So wurden z.B. speziell für Konzerte an Festtagen große Teppiche aufgehängt um den Nachhall etwas zu dämpfen.6

Von Winfried Lachenmayr

1 W. Lachenmayr: Konzertsäle – Akustik und musikalische Aufführungspraxis, Contrapunkt Ausgabe 2, S. 8
2
Definition “Nachhallzeit”: Zeitdauer, in der der Schallpegel auf ein tausendstel (60dB) seines Maximalwertes abgefallen ist
3
N. Harnoncourt: Musik als Klangrede, Verlag Bärenreiter, 6. Auflage 2010, S. 108-113
4
J . Meyer: Kirchenakustik, Verlag Bochinsky, S.259
5
S. Weinzierl: Beethovens Konzerträume, Verlag Bochinsky 1998
6
Hartmut Möller: Die modernen Musiker des 14. Jahrhunderts, 5. Kapitel der Europäischen Musikgeschichte hrsg. v. Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig Finscher u. Giselher Schubert, Bd. 1, Kassel 2002, S. 146-148