„The music suggested to me that something like this should happen.“

Auf meine Frage, ob es erlaubt sei, in der zeitgenössischen Musik Wiederholungen, Rhythmus, gar Melodien zu schreiben, zitierte Ian Wilson den Heiligen Paulus mit den Worten: „Everything is possible but not everything is advisable!“1 Genau dieser Satz, aber auch die folgenden des Interviews, das ich im September 2012 mit dem irischen Komponisten im Rahmen einer Analysearbeit führte, brachten mich zum Staunen. Ähnlich verhielt es sich auch mit seinem Streichquartett in fretta, in vento aus dem Jahre 2001. Wiederholungen, Repetitionen, Melodien, all das fand ich in diesem Streichquartett, ganz zu Schweigen von anderen kompositorischen Sehenswürdigkeiten.

Das Streichquartett als Gattung, als Königsdisziplin im kompositorischen Schaffen, machte einen langen, intensiven und ertragreichen Weg der Entwicklung durch. Die eleganten und formschönen Quartette Josef Haydns, die ungemein komplexen und visionären Beethovenschen Quartette der späten Phase, beispielsweise Op. 133, die große Fuge Op. 135, Ravels F-Dur Quartett als Verschränkung von klarer Struktur und extravaganter Harmonik eines zu Ende gehenden Impressionismus, das berüchtigte Helikopter-Streichquartett Stockhausens aus den 90ern, Nonos fragmente – Stille, An Diotima von 1979 – all diese Streichquartette und deren hier nicht genannten, aber gleichsam bedeutenden Schwesterwerke haben eines gemeinsam: Sie überwanden Grenzen, blickten in die Zukunft, markierten Wenden in der Tonkunst und waren Experimentierfeld für Innovationen.

Eben genau an dieser Gattung scheiden sich die Geister. Hier tritt die pure Essenz des musikalischen Denkens, des Fühlens und des kompositorisch-handwerklichen Könnens eines Komponisten hervor. Hier kulminiert es und legt sich schutzlos dem Hörer zu Füßen.

Ian Wilson, 1964 in Belfast, Nordirland, geboren, kann auf eine vielschichtige und umfangreiche Karriere als Komponist zurückblicken. Arbeiten mit Choreographen und Jazzmusikern, renommierte Kompositionspreise und zahlreiche Aufführungen in aller Welt zeichnen ihn aus. Sein Oeuvre umfasst ca. 130 Werke mit Besetzungen von Kammermusik über Orchester, Opern und Solowerke. Besonders hingewiesen sei dabei auf die bereits 13 Streichquartette, dessen sechstes, in fretta, vento, Zentrum meiner Analysearbeit war und das ich im Folgenden vorstellen möchte.

Zuvor jedoch noch eine Anmerkung zum Problem der Form in der zeitgenössischen Musik/Neuen Musik. Die „klassisch-tradierte Gattungsidentität“2 des Streichquartetts löst sich im 20. Jahrhundert auf. Unterschiedlichste Auffassungen und Konzeptionen von Form, d.h. Zeitorganisation, stehen einander gegenüber. Als extreme Gegenpositionen kann man z.B. Morton Feldman und John Cage sehen. Feldmans Überdimensionierung des Zeitbegriffs im zweiten Streichquartett wird in der Aufführungsdauer von ca. 6 Stunden deutlich.

Dem gegenüber stehen John Cages freie Handhabungen von Form, gänzlich ohne Gesetzmäßigkeiten, quasi per Zufall (Aleatorik). Dieser Kontrast – und er ist nur einer von vielen Beispielen des vergangenen Jahrhunderts – repräsentiert den akuten Stilpluralismus, welcher auch viele unterschiedliche Diskurse zum Thema „Form“ angeregt hat und den Musikwissenschaftlern große Schwierigkeiten bereitet, eine generalisierte Gattungsgeschichte zu schreiben.

Ian Wilson konzipierte sein sechstes Streichquartett einsätzig. Er begründet die Wahl dieser verhältnismäßig einfachen Form mit seinem Bestreben, die Aufmerksamkeit der Zuhörer nicht durch Brüche, welche zwischen mehreren Sätzen entstehen (können), zu verlieren. Es ist meines Erachtens ein äußerst interessanter und bemerkenswerter Ansatz den Hörer als Referenzorgan in den Schaffensprozess eines Stückes einzubinden, ja sogar über so wichtige musikalische Parameter wie Form, also auch Dauer, mitentscheiden zu lassen.

Eine solche Haltung ist in der eingeschworenen „Szene“ der „Neuen Musik“ selten anzutreffen. Das Werk, genauer gesagt das Werkkonzept steht im Vordergrund. Darauf folgt die Notentextanordnung; Individualität der Notationsform und deren Komplexität. Im Endeffekt muss die Musik gar nicht erklingen, sondern auf dem Papier überzeugen. Andererseits sollte man einer solch negativen und zynischen Aussage die Kritik entgegenhalten, dass in der „Neuen Musik“ auch eine Chance zu ergreifen ist.

Farben, Ausreizung von Spieltechniken, erweiterte Tonsysteme, generalisierend gesprochen – neue Ausdrucksmöglichkeiten stehen für die Lebendigkeit der Sprache Musik, losgelöst von der puren Verschriftlichung.

Wenn Theodor Adorno, eine zentrale Figur der „Neuen Musik“-Bewegung und Philosoph des 20. Jahrhunderts, von dem „Versuch“ der ‚neuen’ Musik spricht, „die Ohren (…) zu öffnen, die anthropologische Schallmauer zu durchstoßen“3 und Nikolaus Harnoncourt, Ikone und Mitbegründer der historischen Aufführungspraxis Alter Musik, anführt wie Mozart „ein Höchstmaß an Wirkung zu erzielen“ suchte und das Publikum damals und durch die Jahrhunderte stets „durch Neues, nie Gehörtes überrascht“4 werden wollte, dann schließt sich der Kreis und Alt und Neu scheinen darin vereint: Musik ist fürs Ohr!

Doch zurück zum Objekt der Betrachtung: Die Einsätzigkeit Wilsons Streichquartetts bildet einen Gegenpol zur klaren inneren Abschnittsbildung, die größtenteils durch die Generalpausenzäsur in der Mitte des Werks zustande kommt, gefolgt von einer reprisenhaften „Wiederholung“ der ersten Takte.

Das Streichquartett schließt – und das ist das Bemerkenswerte und zugleich Besondere – mit einem Zitat des Bachchorals „O Traurigkeit, O Herzeleid“, zart und im Pianissimo, klanglich geformt vom Con Sordino der weit entfernt wirkenden Streicher. Ian Wilson kommentierte dieses musikalische Zitat: „the music (…) suggested to me that something like this should happen.“5

Genau diese Aussage, die Thematik des „purpose“ einer künstlerischen Entscheidung, bringt mich zu einem weiteren Aspekt des Streichquartetts, welcher angesprochen werden sollte: der Aspekt der Inspiration. Wie in vielen zeitgenössischen Kompositionen, gleichsam wie im Denken der entsprechenden Komponisten – zu nennen sind wiederum Stockhausen, aber auch Boulez oder Nono, als Vertreter des Serialimus – spielte die totale Durchplanung und Durchorganisation des Materials, der Strukturen, der einzelnen Parameter von Musik eine zentrale, zum Teil bedeutendere Rolle als Inspiration, Spontanität und Gefühl. Nichts darf dem Chaos überlassen werden und alles ist zu kontrollieren.

Wilson beschreibt hingegen in fretta, in vento als ein sehr intuitives Werk, das sich aus einer Anfangsidee organisch entwickelte. Inspiriert wurde das Werk vom 11. September 2001, dem Tag des Terroranschlags auf das World Trade Center in New York.

Das Stück soll laut Wilson ein Denkmal für die Opfer des Anschlags sein. Es berührte ihn und führte schlussendlich auch – hier schließt sich der Kreis – zum Choralzitat. Das Zitat ist daher vielmehr als Verneigung vor dem tiefen, theologischen Sinn Bachs Musik und nicht als plakative „Effekthascherei“ zu sehen. Genau diese sensible, andächtige Haltung mit emotional starken Höhen und Tiefen, wohnt Wilsons Werk inne. Dies bedeutet meiner Meinung nach aber keinesfalls, dass die Musik religiös ist. Vielmehr geht es um Sinn, „purpose“ (nach Wilson) und Ehrerbietung. Möglicherweise ist es ja genau diese Ehrerbietung, die sich in Klarheit der Struktur aber auch in Ökonomie der musikalischen Mittel Wilsons Streichquartett niederlässt. Ein Vergleich mit einem außerkonfessionellen, musikalischen „Gebet“ wäre gangbar.

Um das Werk mit der „eigenen“ Musik zu schließen, fügt Wilson in die Schlusstakte kurze Einschübe aus vorangegangenen Passagen ein und durchbricht damit die Choraltextur.

Trailingtechnik

Machauts Talea und Color, Schönberg und die Zwölftontechnik, Messiaens Modi – alles durchwegs schlüssige, individuelle Mittel der musikalischen Texturbildung, perfektioniert und Personalstil markierend. Die Vergangenheit verbindet sie miteinander, was sie zu einem musikhistoriographischen Artefakt macht.

Um so erstaunlicher ist es, wenn zeitgenössische Komponisten in ihrem Personalstil noch „neue“ Kompositionstechniken zu entwickeln vermögen, wodurch sie sich von anderen Komponisten abheben können. Ian Wilsons „trailing technique“6 stellt solch einen Fall dar. Er benutze diese selbst entwickelte Technik bereits bei diversen anderen Werken, etwa in einem Klavierkonzert und einem Violinkonzert. An dieser Stelle möchte ich den Komponisten diese Technik selbst definieren lassen:
„(…) three voices use my trailing technique (…) which prolongs the harmonies in the melodic line through suspension of certain notes in other voices. This technique allows me to build a complete texture from just one melodic line.“7

Trailing_tech

Mit anderen Worten: Die Töne einer Melodie, beispielsweise der ersten Violine, werden nach einer bestimmten Reihenfolge von den übrigen Instrumenten aufgegriffen und ausgehalten. Die Länge des Aushaltens ergibt sich aus der Menge der Instrumente und den Abständen zwischen den auszuhaltenden Tönen in Notenwerten. Mit dieser Kompositionstechnik schafft Wilson in seinem Streichquartett eine Kontinuität und einen inneren Zusammenhalt der Elemente, was sicherlich auch einen hohen Anteil des zuvor genannten „Organischen“ ausmacht.

Was wäre ein Streichquartett ohne Dialog?

Im Rahmen eingehender Analysen der Harmonik, welche interessanterweise im Kern „traditioneller“ ist als sie erscheint8, der Rhythmik, die sich durch Schwerpunktverschiebungen, Augmentationen, Diminutionen und Inversionen manifestiert, und der Melodik, wich das Goethezitat nie aus dem Hinterstübchen. Besonders dann nicht, als es um die stimmlichen Beziehungen innerhalb des Werks ging. In einem Brief von Goethe an Zelter im Jahre 1829 heißt es: „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten“. Dieses Zitat unterstreicht die Dialogfähigkeit eines Streichquartetts elegant und prägnant.

Wilson möchte generell die „four voices equally important“ behandeln. Was kann das heißen? In erster Linie steht das für eine Verdichtung des Satzes, vertikal wie horizontal. Des Weiteren steht das für Zusammenhänge genauso wie für Kontraste.

Das funktioniert jedoch nur, wenn die jeweiligen Passagen das auch kommunizieren. Und das tun sie deutlich. Wilsons Formprinzipien forcieren eine mannigfaltige Kommunikation; Abschnitte kollidieren, Melodien werden zu Kommentatoren, Strukturen tauschen sich über rhythmische Positionen aus. Dynamik hingegen ist der kontrollierende Mediator der Konversationen zwischen den Instrumenten.

Was macht nun Wilsons in fretta, in vento so besonders?

Vielleicht sind es die optimistischen Ansichten des Komponisten bezüglich Entwicklung zeitgenössischer Musik und der Musik im Allgemeinen. In meinem Interview fragte ich ihn, ob Traditionsbewusstsein in seinem Schreiben existiere. Es sei unmöglich Musik zu schreiben ohne Bewusstsein für Tradition, man könne sie nur ignorieren, wenn man sie auch kenne, gab er zu Antwort.

Diskurse über zeitgenössische Musik behandeln häufig das Problem des Fortschritts, also wie die Zukunft der Musik aussehen kann. Für Wilson hat „progress“ keine Bedeutung. Jeder Weg Musik zu schaffen ist legitim, sei es mit Hilfe von Elektronik oder Tonalität. Um was geht es dann? Es geht um die Hörer, die „listeners“, mit denen Wilson kommunizieren möchte.

Hörer haben verschiedene musikalische Gewohnheiten, bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit sich, auch die sogenannten „preconceptions“. Mit diesen muss ein Komponist als Wegbereiter für Musik zum Hörer umgehen. Und genau darin liegt meines Erachtens die Ambition.

In fretta, in vento bereitet Freude beim Hören und beim Lesen. Gemessen an der Produktivität Wilsons im Bereich des Streichquartetts ist beachtenswert wie stark jedes seiner Quartette Kontinuität besitzt. Moderne Spieltechniken und Notationen hin oder her. Musik ist Sprache und Sprache wäre nicht denkbar, wenn ihr nicht das Ziel zu Eigen wäre, verstanden zu werden.

Von Constantin Stimmer


Literaturhinweise:

Adorno, Theodor W.: Musik und neue Musik. In: Th. W. Adorno.: Musikalische Schiften I-III, hrsg. von Rolf Tiedemann [u.a], Frankfurt 1978, S. 476-492
Brügge, Joachim: Am Ende des Jahrhunderts: Tendenzen der Entwicklung seit 1975, in: Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 6,2, hrsg. von Siegfried Mauser, Laaber 2003, S.488
Harnoncourt, Nikolaus: Musik als Klangrede, Kassel 2010, S.264-268

Alle Zitate des Komponisten Ian Wilson entstammen einem von Constantin Stimmer geführten Interview über „In fretta, in vento“ vom 17. September 2012. Um einen direkten Zugang zu Wilsons Musik zu ermöglichen, wurde für diese Ausgabe das Quartett in fretta, in vento produziert und auf der Webseite von Contrapunkt zum Download bereit gestellt. Das Mucha Quartett spielte dieses Stück mit großem Engagement ein, neben Stücken von Ravel und Schostakowitsch.

Viel Vergnügen beim Hören wünscht die Redaktion!

1„Alles ist möglich, aber nicht alles ist angebracht!“
2 Brügge, Joachim: Am Ende des Jahrhunderts: Tendenzen der Entwicklung seit 1975, S.488
3 Adorno, Theodor: Musik und neue Musik, 1978
4 Harnoncourt, Nikolaus: Musik als Klangrede, 2010
5 „die Musik deutete darauf hin, dass so etwas passieren sollte.“
6 to trail (engl.)= verfolgen, nachlaufen
7 „Drei Stimmen verwenden meine Trailingtechnik, die die Harmonien der melodischen Linie durch Aushalten bestimmter Töne in anderen Stimmen ausdehnte. Diese (Kompositions-)Technik erlaubt es mir aus nur einer melodischen Linie ein ganze Struktur/Textur zu kreieren.“
8 Eine latente Harmonik entsteht vor allem durch Schichtung von Ganzton – und chromatischen Skalen. „That is more about harmony“ fügte Wilson dazu an.