Die alte französische Tradition der kleinen gemischten a cappella-Chorsätze beeinflusste viele französische Komponisten: Unter Berlioz Kompositionen finden sich zahlreiche noch relativ unbekannte Beispiele. Ravels Trois chansons pour choeur a cappella und Werke der Groupe des Six1, besonders Milhaud und Poulenc, orientieren sich an dieser Tradition, die auch Debussy in seinen Werken weiterträgt.

Die ersten öffentlichen Aufführungen von Debussys Trois chansons fanden erst am 25. März 1909 in London und am 9. April 1909 in Paris statt, obwohl er den ersten und dritten Chanson schon 1898 komponiert hatte, ohne dass diese veröffentlicht wurden. Erst 1908, zehn Jahre später, komponierte er den zweiten Chanson, verfeinerte den ersten und schrieb den dritten komplett um. Schon beim ersten Versuch 1898 haben wir es mit einem reifen Komponisten zu tun. 1894 vollendete er seine revolutionäre und sehr persönliche Komposition Le prélude à l‘après-midi d’un faune, worin sich seine kompositorischen Merkmale und Fähigkeiten bereits unverkennbar zeigen. In den dazwischen liegenden zehn Jahren entstanden zwei seiner größten Meisterwerke: seine Oper Pelléas et Mélisande (1902) und La mer (1905). Debussys Trois chansons ist das Werk eines großen Komponisten, eines Epigonen, der drei Miniaturen kreiert hat. Ein Debussy-Konzentrat in sieben Minuten.

Der Textdichter der Trois chansons, Charles de Valois, Charles d’Orléans genannt, ist einer der bedeutendsten französischen Lyriker des ausgehenden Mittelalters. Als Herzog von Orléans und Graf von Valois wurde er von 1415 bis 1440 in England als Geisel der englischen Könige festgehalten. Während seiner Gefangenschaft entstanden zahlreiche Gedichte, Chansons, Rondeaux, Complaintes und Ballades.

In der Vertonung Debussys steht die Textverständlichkeit im Vordergrund. Die Feinheit, mit der Debussy den französischen Text kompositorisch umsetzt, ist unter Chorsätzen eine Besonderheit. Die Umsetzung der Worte ist nicht so komplex wie im Pelléas, sondern sehr natürlich, man könnte fast sagen kindlich-naiv. Die metrischen Schemen der Strophenform sind musikalisch leichter übertragbar als die Prosa des Maeterlinck-Librettos von Pelléas.

Debussy beschränkt sich in Trois chansons auf einen engen harmonischen Rahmen ([Fis-Dur]; [fis-Moll]; [e-Moll, E-Dur, e-Moll]), innerhalb dessen er sich mit Chromatik, Dur-Moll-Wendungen, überraschenden Modulationen und wagnerischen Akkorden sehr farbenreich bewegt. Was diese Stücke von anderen post-romantischen Stücken unterscheidet, sind plagale Kadenzen, parallele Quarten und besonders die auskomponierten Verzierungen, die eine Verwandtschaft mit der Renaissance-Musik aufweisen. Dabei sind die Worte von Charles d‘Orléans kein unwichtiges Element. Salopp gesagt: Man stelle sich polyphone Lieder von Orlando di Lasso mit Chromatik und Tristan-Harmonik vor.

Kompliziert klingt diese Musik nicht, sie klingt farbenreich. Ist das ein Merkmal des Impressionismus? Das französische Wörterbuch Le Robert definiert Impressionismus so: „Se dit des peintres qui, à la fin du 19. siècle s’efforcèrent d’exprimer dans leurs oeuvres les impressions que les objets et la lumière suscitent.“ Die Bedeutung der Worte werden von Debussy hier in der Harmonie ausgedrückt, der tiefere Sinn in den Gegenstimmen und der Satzmelodik. Die Ausführung lässt sich mit der Präzision einer Buchmalerei vergleichen, jede einzelne Note, jeder Akkord vermittelt ein bestimmtes Gefühl durch Schattierungen und Farben, die keineswegs realistisch wirken. So erhält man beim Hören des zweiten Liedes den Eindruck, das dort beschriebene Tamburin begleite die Sängerin nicht real, sondern existiere nur in deren Vorstellung, was einen großen Unterschied ausmacht.

Die Chansons von Charles d’Orléans sind inhaltlich eher flüchtig, nicht konkret greifbar. Ihre Symbolik passt sehr gut zu Debussys Musik. Trotz der detaillierten Kompositionstechnik klingen die Trois Chansons entrückt. 

1Durey, Honegger, Milhaud, Tailleferre, Poulenc, Auric